Call 2/2023: Materialität(en) und Medienbildung

2023-03-13

MEDIENIMPULSE Call 02/2023

Materialität(en) und Medienbildung

Alessandro Barberi
Thomas Ballhausen
Christian Swertz

Den Ausgangspunkt unserer Ausgabe 02/2023 stellt die Tatsache dar, dass die Medienpädagogik seit ihren Gründungstagen mit der Reflexion von Medien in ihrer Materialität verbunden ist. Denn schon mit Radio, Fernsehen, VHS-Recorder oder Personal Computer waren die diesbezüglichen Diskussionen zutiefst damit verbunden, die materiellen Produktionsbedingungen unserer Gesellschaft im Sinne einer Kritischen Medientheorie (Baacke 1974) in den Blick zu bringen. Dabei geht es im Sinne der Medienkunde bei dieser „Materialität der Kommunikation“ (Gumbrecht/Pfeiffer 1995) u. a. um die Rolle und Funktion von Medien als Möglichkeitsbedingung des medienpädagogischen und allgemein-gesellschaftlichen Handelns, in deren Reflexion immer auch die kreative Gestaltung dieser sozialen und medialen Voraussetzungen im Sinne der handlungsorientierten Medienpädagogik mitbedacht wird.

Von der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft bis hin zur Handlungsorientierten Medienpädagogik (Schorb 2008) sind mithin Medienkompetenz und auch kritische Formen der Medienbildung zutiefst mit der Reflexion eines (historisch und systematisch ausgerichteten) Materialismus verbunden: Ein Materialismus, der schon im 19. Jahrhundert angesichts der ersten industriellen Revolution mit der Analyse der Materialität von Spinn- und Dampfmaschinen oder Telegrafen verbunden war und auch mit der School of Toronto (Harold A. Innis und Marshall McLuhan) auf Verkehrsmittel wie die Eisenbahn angewendet wurde (Innis 1923). Dabei kamen – in aller Kürze – die verschiedenen Formen der Medientheorie auch auf Fotoapparat, Kinematograf und Computer in einer digitalen und vernetzten Welt zu sprechen (Barberi/Schmölz 2017).

Ganz in diesem Sinne können wir auch angesichts von Kybernetik, Algorithmik, Künstlicher Intelligenz (KI), Big Data, World Wide Web und Internet die Fragen in den Raum stellen, welche Rolle die Materialität der Medien im Blick auf Erziehungs- und Bildungsprozesse spielt und wie diese Materialität für Erziehungs- und Bildungsprozesse gestaltet werden sollte. Denn im Sinne der Medienbildung stellen Medien einerseits eine unabdingbare Möglichkeitsbedingung menschlicher Entwicklung, Erfahrung und Ausdruckskompetenz dar und sind andererseits selbst Ausdruck menschlichen Handelns, werden also von Menschen hergestellt. Dabei wird auf verschiedenen Ebenen das Verhältnis von Mensch(en) und Maschin(en) – auch angesichts der Diskussionen zum Digitalen Humanismus (Werthner et al. 2019) – zum Gegenstand der Debatte. Denn gerade aus Sicht der Medienpädagogik sollte möglichst genau ausgemacht werden, was – im Sinne Immanuel Kants und Karl Marx’ – die Unterschiede zwischen dem determinierten Raum der Computertechnologie als „Reich der Notwendigkeit“ und dem zukunftsoffenen Raum menschlicher Gesellschaft im Sinne eines „Reichs der Freiheit“ sind.

In diesem Kontext kann auch die fast schon klassische und dreistufige Medientheorie Dieter Baackes, die er in den Grundzügen von Harry Pross übernommen hat (vgl. Baacke 1973, 12–13), aktualisiert werden: Denn selbst wenn wir im Primärmedium der Sprache (auch ohne Technik) miteinander kommunizieren, geht es im gesprochenen Wort um einen „Materialismus des Unkörperlichen“ (Foucault 1993: 37), da selbst unsere Gespräche physikalisch messbar sind. Auch im Blick auf das Sekundärmedium der Schrift kann in der Gutenberggalaxis und mit der Druckerpresse am Beginn der Neuzeit die materielle Voraussetzung menschlicher Geschichte ausgemacht werden (Eisenstein 1997). Technologische Medien wie die Telefonie oder die Kinematografie stellen dann Tertiärmedien dar.

Gerade in unserer hochgradig digitalen und vernetzten Gesellschaft und angesichts der dritten industriellen Revolution stellen wir deshalb mit diesem Call zur Ausgabe 02/2023 das Verhältnis von Materialität(en) und Medienbildung in den Raum und freuen uns über Beiträge, die sich u. a. folgenden Fragen und Forschungsbereichen widmen könn(t)en:

  • Welche Rolle hat die Materialität von Medien (z. B. Fernrohr, Spinn- und Dampfmaschine, Mikroskop, Kinematograf, Telegraf, Schreibmaschine, Fotoapparat oder Computer und Internet) in der Menschheitsgeschichte gespielt? Wie verhält es sich dahingehend mit neueren Entwicklungen in diesem Bereich (z. B. New Materialism oder Feministische Epistemologie)?

  • Welche Funktion nehmen Medien im Rahmen menschlicher Erziehungs- und Bildungsprozesse ein? Welche Vorstellungen von Medien knüpfen sich an diese Funktionen und wie wirken sich diese auf die ökonomischen Bereiche der Produktion, Distribution und Konsumtion aus?

  • Wie sollten Medien und insbesondere Algorithmen gestaltet werden, um Erziehungs- und Bildungsprozesse anzuregen? Welche Produktions-, Distributions- und Konsumtionsprozesse sind pädagogisch wertvoll?

  • Wie kann das Konzept eines historischen und systematischen Materialismus theoretisch abgestützt und im Rahmen der Medienpädagogik praktisch angewandt werden? Welche medienpolitischen Konsequenzen und ästhetischen Programme lassen sich durch eine solcherart informierte Medienpädagogik entwickeln, beschreiben und aktiv betreiben?

  • Wie wirkt sich die Materialität der Kommunikation in den Bereichen Kybernetik, Algorithmik, Künstliche Intelligenz (KI), Big Data, World Wide Web und Internet aus? Wie ist die „Neokybernetik“ bzw. Kybernetik zweiter Ordnung, die sich u. a. verstärkt der Frage der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung gewidmet hat, pädagogisch zu verstehen und ist es sinnvoll, kybernetische Sollwerte pädagogisch motiviert zu setzen?

  • Welche Rolle und Funktion übernehmen – im Sinne der Mediensynchronie – die parallele und materielle Nutzung verschiedener Medien (Sprache, Schrift, Technologien und digitale Vernetzung) im Rahmen unserer digitalen Gesellschaft und angesichts der dritten industriellen Revolution? Wie wirkt sich diese Form der Nutzung auch auf Aspekte der Konsumtion und Rezeption in all ihrem Facettenreichtum aus? Wie lassen sich hier ästhetische Freiheitsmomente medienpädagogisch beschreiben und zur kreativen Gestaltung entwickeln?

Literatur

Baacke, Dieter (1973): Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien, München: Juventa.

Baacke, Dieter (Hg.) (1974): Kritische Medientheorien: Konzepte und Kommentare, Weinheim/München: Juventa.

Barberi, Alessandro/Schmölz, Alexander (2017): Artikel: Medientheorien, in: Schorb, Bernd/Hartung-Griemberg, Anja/Dallmann, Christine (Hg.): Grundbegriffe Medienpädagogik, München: kopaed, 312–319.

Eisenstein, Elizabeth L. (1997): Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien u.a.

Foucault, Michel (1993): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main: Fischer.

Gumbrecht, Hans-Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.) (1995): Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Innis, Harold (1923): A History of the Canadian Pacific Railway, London/Toronto: P. S. King & Son/McClelland and Stewart.

Schorb, Bernd (2008): Handlungsorientierte Medienpädagogik, in: Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hg.): Handbuch Medienpädagogik, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 75–86.

Werthner, Hannes/Lee, Edward A./Akkermans, Hans/Vardi, Moshe et al. (2019): Wiener Manifest für Digitalen Humanismus, online unter: https://www.informatik.tuwien.ac.at/dighum/wp-content/uploads/2019/07/Vienna_Manifesto_on_Digital_Humanism_DE.pdf (letzter Zugriff: 01.03.2021).

Die Herausgeber:innen dieser Schwerpunktausgabe sind

Alessandro Barberi, Universität Wien (alessandro.barberi@univie.ac.at)
Thomas Ballhausen, Universität Mozarteum Salzburg (t.ballhausen@gmail.com)
Christian Swertz, Universität Wien (christian.swertz@univie.ac.at)

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  • Redaktionsschluss: 15. Mai 2023
  • Erscheinungsdatum: 21. Juni 2023