Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart
Kira Kaufmann,
Roland Innerhofer und
Christian Zolles
Editorial
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Wiener Digitale Revue 5 (2024)
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Top of pageDie vorliegende fünfte Ausgabe der Wiener Digitalen Revue, die mittels einer zweijährigen wissenschaftlichen Zeitschriftenförderung des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF eine Fortführung finden kann, widmet sich dem Thema der Criminal Minds. Sie gibt einen aktuellen Überblick und tiefere Einblicke in die literatur- und geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit kriminellen Handlungs- und Darstellungsformen. Die Blickwinkel sind vielfältig und reichen von ästhetischen Untersuchungen über epistemologische und psychiatriehistorische Ansätze bis hin zu Beiträgen, die die generelle soziopolitische Dimension von Verbrechen und Gesetzesbruch beleuchten. Dies geschieht unter ‚glokalen‘ Gesichtspunkten, schließlich stechen in diesem Bereich, ob er nun hauptsächlich faktual oder fiktional beleuchtet wird, die häufig überbetonten nationalen oder regionalen Merkmale ins Auge, die etwa zu spezifischen Charakterzeichnungen, Mythen um spektakuläre Clues oder literarischen Subgenres (z. B. ‚Schweden-‘‚ ‚Cosy-‘ oder ‚Wiener Krimi‘) geführt haben. Es bieten sich somit gerade bei diesem Thema, bei dem man es mit scheinbar eindeutigen und generalisierbaren Affekthandlungen und Intentionen, Verfahren und Diskursen der Wahrheitsfindung zu tun hat, detaillierte Untersuchungen sowie eine vergleichende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ausgestaltungen und Traditionen von Verbrechen besonders an.
Dieser Umstand lässt sich auch aus den verwendeten Begrifflichkeiten ableiten: ‚Kriminelle Energie‘ (criminal) steht im Schlagwort dem ‚Bewusstsein‘ (minds) für Formen und Praktiken der Sprechakte und Genres gegenüber, in welchen die gegenwärtigen (devianten oder illegalen) Tatsachen verhandelt werden. ‚Criminal Minds‘ umfasst damit die Performanz der Rechtsprechung (Recht und Unrecht vs. Gerechtigkeit) und des Sozialverhaltens (Abnormalität vs. Normalität), die Herausbildung von Täter-Opfer-Verhältnissen und die Verlagerung von Verbrechen und Tatorten (etwa bei Cyberkriminalität) genauso wie das ‚Profiling‘, die Zusammenführung eines Gesamtbildes – etwa einer Persönlichkeit – durch erhobene Daten. Tatrekonstruktion und Tätersuche basieren also auf der Analyse und der zweckbezogenen Auswertung von Daten, wodurch nicht zuletzt zentrale Fragen der Philologie wie der Digital Humanities, Praktiken der Modellierung, Visualisierung und Interpretation, aufgerufen sind. Zusätzlich kann die ‚kriminelle Energie‘ im Widerstand gegen Reglementierung und Überwachung angesprochen werden, wodurch auch die Vereinbarkeit neuer Medien und Technologien mit demokratischen Grundwerten in einer offenen Gesellschaft zur Disposition steht. In welchen (virtuellen) Formen tritt uns das ‚Kriminelle‘ also entgegen?
Wie könnte man sich der Beantwortung dieser Frage – noch dazu im Rahmen des vorliegenden Mediums – besser annähern, als indem man der psychoanalytischen Spur folgt: So bildet der Beitrag von Max Roehl zu Crime Fiction & Psychoanalysis den Startpunkt für den Schwerpunkt. In historischer Sicht weist er auf die Bezüge der jungen Psychoanalyse zur Kriminologie hin und zeichnet die Bedeutung der aufgeklärten Kriminalgeschichte für die Entstehung der Seelenkunde im späten 18. Jahrhundert nach. Konzise wird aufgezeigt, dass sich literarische Detektion und Psychoanalyse in der Deutung vorgefundener Spuren und der kritischen Prüfung der Oberfläche begegnen. Ihre Parallele besteht darin, anhand von Spuren eine Geschichte zu (re-)konstruieren: den verschwiegenen Tathergang oder die verdrängte Erfahrung. Die Erzählung selbst wird zum wichtigsten Teil der Lösung des Kriminalfalls sowie der psychoanalytischen ‚talking cure‘.
Der anschließende Beitrag von Lydia Rammerstorfer, Sympathy for the devil? Zur aufklärerischen Funktion des Bösen in Friedrich Schillers Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ (1792), zeigt auf, dass die Frage nach der menschlichen Faszination für das Böse und ihrer (anthropologischen) Funktion nicht nur ein Anliegen der (Kriminal-)Psychologie, sondern auch seit jeher Gegenstand philosophischer Reflexionen war. Am bekannten Beispiel der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre, eines historischen ‚Marksteins‘ der deutschen Kriminalliteratur, wird Friedrich Schillers Bemühen erläutert, den Leser·innen wie schon den Theatergänger·innen die Wichtigkeit zu vermitteln, sich mit den tieferen Ursachen von Verbrechen auseinanderzusetzen und damit selbst kriminalätiologisch tätig zu werden. Das Böse könne nur überwunden werden, wenn man es ausgehend von den Anlagen der ‚tierischen Natur‘ im Menschen begreife, deren Fehlleitung abhängig vom Lebensumstand zu betrachten sei und immer die Option auf andere Handlungsweisen in sich trage.
Vor dem Hintergrund dieser ersten in die epistemologischen Aspekte des Themas einführenden Beiträge folgen konzise ästhetische Betrachtungen kriminalliterarischer Fallbeispiele. Die bei Schiller zentral verhandelten gesellschaftspolitischen Aspekte vertiefend, setzt sich Konstanze Fliedl in Mörderisch illiterat. Kriminalität und Analphabetismus mit dem bedeutenden und in der literaturwissenschaftlichen Kriminalitätsforschung (mit Ausnahme des ‚Falles Moosbrugger‘ bei Robert Musil) bislang weitgehend übergangenen Verhältnis von Literatur und Analphabetismus auseinander. Diesen Gegensatz extrem zugespitzt hat die britische Autorin Ruth Rendell, die in ihrem Roman A Judgement in Stone (1977) eine Analphabetin zur Mörderin einer ganzen – exemplarisch bildungsbürgerlichen – Familie macht. Die nicht unproblematische Suggestion, erst das Lesen mache human, unterstützt der Text durch zahlreiche Zitate aus dem englischen Literaturkanon, meist von Shakespeare und Dickens: Intertextualität wird hier zum performativen Ausweis der Zugehörigkeit zu einer zivilisierten und empathischen Lese-Gemeinschaft. Der Zusammenhang von Analphabetismus und Kriminalität beruht aber nicht auf Kausalität, sondern besteht in einer Korrelation, in der Armut und Deklassierung Schlüsselfaktoren sind.
In Eine Faszinationsgeschichte mörderischer Männlichkeit. Brigitte Schwaiger auf den Spuren von Helmut Frodl und Gabor Pesti berührt Stefan Maurer im Anschluss einen weiteren bereits bei Schiller angelegten Umstand, nämlich jenen der Theatralität der Justiz. Die Faszination, die sich aus der Teilhabe der – in diesem Fall bewusst im weiblichen Genus angeführten – Beobachterinnen an öffentlichen Beweis- und Urteilsverfahren und insbesondere über die Identifikation mit den Tätern einstellen konnte, manifestiert sich eindrücklich am Beispiel der österreichischen Autorin Brigitte Schwaiger. In ihrer intensiven Beschäftigung mit prominenten Prozessen der 1990er Jahre in Wien zeigen sich die Extreme, die zwischen investigativem Anspruch, dem poetologischen Festhalten an der Darstellung von ‚magischen‘ Erfahrungsräumen und nicht zuletzt biografischen Erlebnissen auftreten mussten. Dieser Umstand macht Schwaigers öffentliche Interventionen etwa in Form von ‚Verteidigungs-Reimen‘ für einen bekannten Häftling zu besonderen, teils beklemmenden Zeugnissen der persönlichen Auseinandersetzung mit Gerichtsverfahren.
Schwaigers Anteilnahme und Appellation an ein außergerichtlich anzusiedelndes Rechtsbewusstsein ist kein Novum. So stellt Maddalena Casarini in W/M wie Weidmann. Colettes Reportagen zum Spiegelbild der Monstrosität einen früheren eindrücklichen Fall einer öffentlichkeitswirksamen justizkritischen Prozessbegleitung vor. 1937 wurde der mutmaßliche Serienmörder Eugen Weidmann in der Nähe von Paris verhaftet. Schnell bezeichnete ihn die Presse als ‚monstre‘. Als der Weidmann-Prozess im Frühjahr 1939 begann, waren die berühmtesten Gerichtsreporter·innen der Zeit anwesend, darunter die Reporterin Sidonie-Gabrielle Colette, deren Reportagen im Paris-Soir erschienen. Der Beitrag untersucht die rhetorischen Strategien von Colettes poetischer Sprache im Wettbewerb mit jener der Sensationspresse einerseits und der Bildberichterstattung andererseits. Es wird gezeigt, dass sie sich der Sprache und der Semantik der Sensationspresse bediente, um eine Verschiebung der Perspektive hervorzurufen und dadurch auf das Rechtsgefühl ihrer Leserschaft einzuwirken.
Der Frage nach der Möglichkeit, ein über die Verhandlungen vor Gericht hinausgehendes authentisches Bild vom Tathergang, Täter oder gar von dessen Unschuld zu zeichnen, geht auch Julia Lückl in True-Crime, das ‚authentische Verbrechen‘ und seine (kommerzielle) Inszenierung. Zu Ferdinand von Schirachs Erzählband „Verbrechen“ (2009) und seinen US-amerikanischen Vorbildern nach. Darin wird allerdings nicht der Versuch seitens von Autor·innen beleuchtet, den Verfahren der gerichtlichen Instanzen und der Distanzierung poetisch- oder rhetorisch-suggestiv entgegenzuwirken; stattdessen werden Inszenierungsstrategien von populärkulturellen True-Crime-Erzählungen und deren Rezeption in den Fokus gerückt. So wird ausgehend von den, genau vor hundert Jahren erfolgten, Anfängen des True-Crime-Genres in der US-amerikanischen Zeitschrift True Detective untersucht, wie Ferdinand von Schirach einschlägige Erzählstrategien und Genrecharakteristika in seinem populären Erzählband Verbrechen aufgreift und weiterführt. Zentral ist dabei die Frage, wie Schirach Authentizitäts-Effekte erzählerisch hervorbringt und welche Rolle dies für die Vermarktung seiner Texte spielt.
Richten diese Beiträge ihr Augenmerk auf narratologische Aspekte der Darstellung und Verhandlung von Verbrechen anhand von Fallbeispielen, so verschieben die Beiträge von Christian Zolles, Anne Peiter und François Thirion den Blickpunkt ihrer Analyse auf soziopolitische und mediengeschichtliche Dimensionen. Christian Zolles beleuchtet in True Detectives: Mediological Reflections on Public Evidence of the Jihadist-Motivated Terror Attack of November 2, 2020 in Vienna, via Edgar Allan Poe, Matthew Buckingham, and Xaver Bayer; with an Amendment on Lament (Response to October 7) die medialen Dispositive, die im Zusammenhang mit Terrorereignissen öffentliche Evidenz erzeugen. Dabei werden zunächst über investigative visual arts die generellen Voraussetzungen für den detektivischen und fotografischen Blick reflektiert, wie er sich aus den frühen Großstadterfahrungen heraus entwickelt hat. Im Anschluss daran wird der Anschlag vom 2. November 2020 in Wien als mediales Ereignis vorgestellt, indem detailliert auf die journalistische Berichterstattung und Interaktion in den sozialen Medien sowie auf die Gerichtsverfahren eingegangen wird, die zwei Jahre später über sechs Mitverdächtige geführt wurden. Im abschließenden Teil wird gezeigt, inwiefern eine medienkritische philologische Untersuchung den öffentlichen Aufarbeitungs- und Aushandlungsprozessen eine bedeutende ergänzende Perspektive hinzufügen kann. Sie kann es schaffen, Räume des Schweigens zu adressieren, welche Opfern terroristischer Gewalt abseits eines kollektiven Horizonts der Zeugenschaft und Meinungsbildung uneingeschränkt vorbehalten bleiben müssen – an sich ein common sense, der am und nach dem 7. Oktober 2023 in vielen Bereichen fatalerweise aussetzte.
Der darauffolgende Beitrag von Anne D. Peiter beschäftigt sich mit einem der schlimmsten Massaker der jüngeren Geschichte, mit dem Alltag des Tötens. Der Tutsizid in Ruanda als „landwirtschaftlicher Genozid“ im Spiegel von Jean Hatzfelds Täter-Interviews. Ausgehend von dieser Interview-Sammlung wird einer Tätergruppe nachgeforscht, die nach dem Abschuss des Flugzeugs des ruandischen Präsidenten, ab dem 6. April 1994, aktiv am Genozid gegen die Tutsi Ruandas beteiligt war, bei dem innerhalb weniger Monate wohl fast eine Million Menschen ums Leben kamen. Aus den beklemmenden Ausführungen der Interviewten geht vor allem die landwirtschaftliche Motivationsstruktur des ‚Tutsizids‘, der damit einhergehende Werkzeuggebrauch und die Rhetorik einer Selbstbeschreibung hervor, die den Versuch, das eigene Tun zu ‚legitimieren‘, in die Sprache der Feldarbeit integrierte. Über diese Mikrostudie lässt sich aber nicht nur der staatlich angeleitete Genozid auf agrarischer Ebene erschließen, sondern auch seine ideologische Vorbereitung, die nur in einer kolonialen deutsch-ruandischen Verflechtungsgeschichte begriffen werden kann. Sowohl eine bereits Jahrzehnte zuvor erfolgte rassistische ‚Ethnifizierung‘ als auch eine Divide-et-impera-Strategie sollten den Grundstein für die tödlichen Rivalitäten der nachkolonialen Zeit legen.
Den Abschluss des Schwerpunkts bildet der Beitrag Vom systematischen Legitimierungsdiskurs der Gewalt im Spannungsfeld von Klassenkampf und sozialer Ordnung von François Thirion. Darin wird die Frage nach Kriminalität in Hinblick auf die Souveränität von Staatsgewalt beleuchtet: Wie viel physische Gewalt kann im Namen des Staates in einem demokratischen Staat ausgeübt werden, bevor sie aufhört, legitim zu sein? Ab welchem Zeitpunkt erscheint Widerstand rechtmäßig? Diese Fragen stellen sich im Besonderen in Frankreich, das in den letzten Jahren immer wieder mit massiven Streik- und Demonstrationsbewegungen konfrontiert war, sodass sich hier eine zunehmende Ausweitung der gewaltsamen, auf Waffen gestützten Eingriffsmöglichkeit der französischen Exekutive zeigt. Der Beitrag parallelisiert diese Entwicklungen mit der beschleunigten sozialen Deregulierung in den letzten zwei Jahrzehnten und zeigt auf, inwieweit der Neoliberalismus als ein antidemokratisches Projekt die Reichweite der Volkssouveränität systematisch eingeschränkt und den Staat ausgehöhlt hat, um weiterhin von seiner vermeintlichen Legitimität zu profitieren. Letztlich sei auch der Erfolg von Schriftsteller·innen wie Michel Houellebecq als ein Symptom dieser Regression zu betrachten, dessen Dekadenzromane jenen Grundtenor abbilden würden, den auch die Neuen Rechten immerzu instrumentalisieren.
Das Panorama der Criminal Minds findet schließlich auch im ersten Beitrag aus dem Ressort Aus der digitalen Praxis seine Fortführung. Sophie Schuhmacher beschäftigt sich in Playing Gender? Gender Construction through Children’s Crime Fiction Games mit den beiden Kinderkrimiserien Die drei Fragezeichen und Die drei Ausrufezeichen als Medienverbund: bestehend aus mehr als 330 Büchern und 305 Hörspielen (exkl. Sonderfolgen), vier Spielfilmen, zehn Smartphone-Spielen sowie weiteren Buch- und Non-Book-Formaten wie Spielen, Detektiv-Gadgets oder Experimentierkästen. Dabei ist einerseits interessant, wie sich eine stark schematisierte Kinderkrimireihe zu einem intergenerationellen populärkulturellen Phänomen entwickeln konnte, andererseits weisen kritische Stimmen seit längerem auf problematische Darstellungen verschiedener Identitätskategorien in Serien wie diesen hin. Besonders plakativ lässt sich das anhand der appbasierten Spiele zeigen, bei denen die Rezipient·innen spielerisch in Kontakt mit den Figuren kommen und dabei der Geschlechterbezug klar sichtbar wird. Es stellt sich in der Nutzung aber nicht nur die Frage nach stereotypen Darstellungen der Figuren, sondern vielmehr auch nach einer geschlechterbezogen ungleichen Förderung kognitiver Kompetenzen.
Schließlich werden auch in dieser Ausgabe Werkstattberichte aus aktuellen Forschungsprojekten präsentiert. Lukas Kosch und Annika Ahrens-Schwabe erläutern in Digital Audiobooks: Studying the Effects of the Auditory Reception of Literature – A Project Report aus dem Bereich der Lese- und Rezeptionsforschung den Umstand, dass die Digitalisierung von Hörbüchern zu einem erheblichen Anstieg des Hörens von Literatur geführt hat. Trotz ihrer Beliebtheit wird Hörbüchern oft zugeschrieben, dass sie nur eine oberflächliche und weniger anspruchsvolle Alternative zum Lesen gedruckter Bücher darstellen. Jedoch liegen sehr wenige empirische Studien zum Hören von Literatur vor und es scheint unerlässlich, die spezifischen Praktiken und Erfahrungen beim Hören von Hörbüchern systematisch und empirisch zu untersuchen sowie mit dem Lesen von Büchern in Beziehung zu setzen.
Andreas Basch, Konstanze Fliedl, Barbara Tumfart und Silvia Waltl geben uns Einblicke in die Genese eines Skandals: Anlässlich der Veröffentlichung der historisch-kritischen digitalen Edition von Thomas Bernhards Drama Heldenplatz am ACHD-CH beleuchtet der Beitrag die wichtigsten Features der Edition in Bezug auf die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Bernhards ebenso berühmtem wie umstrittenem Werk.
Anlässlich des 150. Geburtstages von Karl Kraus gibt Bernhard Oberreither einen Zwischenbericht zu A Digital Commentary to Karl Kraus’s “Dritte Walpurgisnacht” (1933). Nach dem Projektbericht in der vergangenen Ausgabe findet sich so der Fortschritt zur digitalen Ausgabe der Dritten Walpurgisnacht dokumentiert, die um einen ausführlichen Kommentar erweitert wurde und den Text nun zu den historischen Kontexten in Beziehung setzt. Geschildert werden der Umfang und die Funktionsweise des Kommentars und gleichzeitig die Faktoren, die hinter seiner Entstehung stehen – die Diskussionen um den Kommentar im Bereich der wissenschaftlichen Edition, die veränderten Umstände im digitalen Paradigma, die Herausforderungen (und in gewisser Weise auch Einwände) der Kommentierung eines Werkes von Karl Kraus – und wie im Kommentar zur Dritten Walpurgisnacht selbst darauf Bezug genommen wird.
Auch diesmal finden sich auf dem Schwarzen Brett kürzere und längere Beiträge, die die Themen des Schwerpunkts ergänzen und auflockern. Den Anfang macht ein Essay von Karl Flender zu From Crime Scene Investigation to Pattern Recognition. Er beschäftigt sich mit den erzählerischen Implikationen für den Detektivroman im Digitalen Zeitalter, wenn sich die Polizeiarbeit von Carlo Ginzburgs ‚Spurenparadigma‘ ablöst und sich der Mustererkennung in Big Data (predictive policing) verschreibt. Das führt zur Schlussfolgerung, dass sich die Kriminalliteratur im digitalen Zeitalter wohl neu erfinden wird müssen. War das bisherige Modell der Kriminalliteratur die Beweiskette, so ist das neue Modell die Datenbank, in der Datenpunkte durch algorithmische Korrelation synchron zu Mustern verbunden werden – und die damit nicht ohne weiteres auf die klassische, diachron-lineare Darstellungsweise von Literatur übertragbar ist.
Der Frage nach den aktuellen virtuellen Investigationsformen gehen auch Joachim Harst und Nursan Celik in Virtual Investigations: Revising the Evidential Paradigm in Law, Literature and the Arts nach. Als Ginzburg die These formulierte, dass die Geisteswissenschaften wie die Kriminalliteratur im sogenannten Indizienparadigma gründeten, hatte er mit Sherlock Holmes einen Detektiv vor Augen, der persönlich den Tatort besichtigte. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in Forschung und Fahndung muss dieses materiell und empirisch grundierte Indizienparadigma jedoch einer Revision unterzogen werden. Denn seit der Privatdetektiv von ‚Kommissar Computer‘ Konkurrenz bekommen hat, haben sich die Investigationspraktiken grundlegend gewandelt: So können computergestützte Fahndungs- und Aufklärungsmethoden eine Besichtigung des Tatorts ersetzen, während algorithmische Wahrscheinlichkeitsrechnung vergangene wie zukünftige Fälle erhellt. Diesem Thema widmete sich eine Tagung am Sonderforschungsbereich 1385 Recht und Literatur (Münster), deren Programm und anschließende Publikation in dem Beitrag umrissen wird.
In Kriminelle Energie im Deutschunterricht. Drei Thesen zum Wert von Spannungsliteratur zeigt Eva Hammer-Bernhard die Eigenheiten auf, die Kriminalliteratur als Auswahl für die Schullektüre besonders wünschenswert erscheinen lassen: Literarische Spannung erhöht die Bindung der Leser·innen an den Text und führt zu einer Involviertheit, die ‚detektorisches Lesen‘ fördern kann. Zudem kann der Drang nach Auflösung auf der Textebene gerade in der Pubertät erleichternd wirken und bestimmte Entwicklungsaufgaben dieser Zeitspanne begleiten. Neben der literarischen kann aber auch eine ethische Spannung hinführen zur Auflösung moralischer Dilemmasituationen. So gesehen sind die in der Fiktion agierenden Criminal Minds keine Gefahr für junge Leser·innen, sondern eine Chance, ethische Positionierungen auszuloten und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln.
Zum Abschluss bekommen die Beiträge wieder mehr Lokalkolorit. In (Nach-)Krieg und (Un-)Frieden. Zu Fritz Kortners Volksstück „Donauwellen“ widmet sich Daniel Milkovits Fritz Kortners Volksstück Donauwellen (1949), einem vergleichsweise wenig bekanntem Beispiel der Gattung, dessen Hauptfigur, der Friseur Alois Duffeck, die Kontinuitäten vom Zweiten Weltkrieg zur Nachkriegszeit eindrucksvoll widerspiegelt. An diesem Text und seinen Kontexten wird gezeigt, wie sich im österreichischen Volksstück nach 1945 Krieg und Nachkrieg, politischer Frieden und gekitteter sozialer Unfrieden zueinander verhalten.
In Freud im Fernsehen. Psychoanalyse und Detektivarbeit in den Krimiserien „Vienna Blood“ und „Freud“ skizziert Nicole Kiefer die Geschichte des Topos vom Psychoanalytiker als Detektiv und stellt dessen literarisch-filmische Verarbeitung anhand ausgewählter Beispiele des zeitgenössischen historischen Wien-Krimis dar. Viele Werke der Populärkultur von Arthur Koestlers Wie ein Mangobaumwunder (1932) über Hitchcocks Spellbound (1945) bis hin zu Nicholas Meyers Bestseller The Seven-Per-Cent Solution (1974) haben die Nähe zwischen psychoanalytischem und detektivischem Verfahren in den Blick genommen; spätestens seit der auf Frank Tallis’ Detektivroman-Reihe basierenden ORF Koproduktion Vienna Blood (seit 2019, bisher 3 Staffeln) und der österreichisch-deutsch-tschechischen Netflix-Serie Freud (2020) ist die Faszination für die Psychoanalyse auch im zeitgenössischen historischen Wien-Krimi breitenwirksam angekommen. Der Rückgriff auf Freud scheint naheliegend, denn schon der Vater der Psychoanalyse selbst verwies in seinem Werk auf die epistemologische Verwandtschaft zwischen psychoanalytischer und detektivischer Methodik und inszenierte sich – selbst begeisterter Leser Arthur Conan Doyles – als Detektiv.
Somit schließt sich der Kreis der Schwerpunktausgabe zu Criminal Minds und kann auf die anfänglichen Ausführungen zu Crime Fiction & Psychoanalysis zurückverwiesen werden. Ein abschließender Textbeitrag von Clemens Marschall führt aber noch einmal in die Untiefen Österreichs. „Da Dostal is’ unterwegs!“ Ernst Dostal hält ein Land in Atem stellt einen Auszug aus dem kürzlich im Brandstätter Verlag erschienenen Buch Tatort Wien: Verbrechen, Mord und Totschlag. Wahre Kriminalfälle dar. Der ‚Mörder mit dem Maurerfäustl‘, der ‚Hackenattentäter‘, die ‚Mörderin mit dem Fleischwolf‘, Serienmörder wie der ‚Gasmann‘, Einbrecher- und Ausbrecherkönige, die ‚Leuchtgasmörderin‘, dramatische Verfolgungsjagden oder eine verzwickte Mordermittlung, die den Beginn der Forensik einläutete: Eine Fülle an schockierenden und aufsehenerregenden Kriminalfällen, Mord und Totschlag hielt Wien in den Nachkriegsjahrzehnten in Atem hielten. Unter anderem eben auch Ernst Dostal, dessen Fall hier geschildert wird.
Auch diese Ausgabe schließt mit einer Video-Rubrik, und zwar mit einem Interview von Kira Kaufmann mit Stefan Sonntagbauer aka Dr. Horror.
Viel Vergnügen beim online Blättern oder Betrachten der Beiträge wünschen die
Herausgeberin und die Herausgeber Kira
Kaufmann, Roland Innerhofer und Christian Zolles