Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart
Konstanze Fliedl
Mörderisch illiterat
Kriminalität und AnalphabetismusLizenz:
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Wiener Digitale Revue 5 (2024)
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Top of pageZu Beginn der 1970er Jahre stieg in Großbritannien die Aufmerksamkeit für ein Phänomen, das zwar schon lange zuvor existiert hatte, von der Öffentlichkeit aber nicht wahrgenommen worden war: für den ‚sekundären‘ oder ‚funktionalen‘ Analphabetismus.1 Dass man in Entwicklungsländern nicht lesen und schreiben lernen konnte, weil einfach die Schulen fehlten, war allbekannt; diesen ‚primären‘ Analphabetismus glaubte ein Land hinter sich gelassen zu haben, in dem seit hundert Jahren, seit dem Educational Act von 1870, eine allgemeine Schulpflicht existierte. Dass Erwachsene, die das britische Schulsystem durchlaufen hatten, trotzdem nur über eine Lesefähigkeit verfügten, die unter der eines neunjährigen Schulkinds lag, schockierte eine Gesellschaft, die sich in besonderem Maß als zivilisiert empfand. Schon seit 1945 lagen Schätzungen vor, welche die Dunkelziffer der sekundären Analphabeten im Vereinigten Königreich bei 15–20% ansetzten. Immerhin hatten verschiedene lokale Vereine seit langem ehrenamtliche Helfer und Helferinnen aufgeboten, um mit Betroffenen das Lesen zu üben. Dennoch löste erst eine Studie über die immens geringe Beteiligung an diesen Programmen eine kollektive Kampagne aus.
1975 setzte das britische Erziehungsministerium also eine finanziell gut ausgestattete Agentur ein, die ALRA (Adult Literacy Resource Agency), die mit kommunalen Erziehungsbehörden und Freiwilligenorganisationen das Problem in den nächsten drei Jahren in den Griff bekommen sollte. Unterstützt wurde das Unternehmen durch eine Programminitiative der BBC, sowohl im Rundfunk als auch im Fernsehen; nach zwei Jahren hatte sich die Anzahl der erwachsenen Leseschüler und -schülerinnen tatsächlich von 5000 auf 65.000 erhöht. In diesem Jahr 1977 erschien ein Roman, der das Problem auf besonders dramatische Weise präsentierte. Es handelte sich um einen Krimi der damals bereits prominenten Ruth Rendell (1930–2015), von deren ‚Inspector Wexford‘-Serie immerhin schon neun Bände publiziert waren. Die später mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete und 1997 geadelte Autorin pflegte sich immer wieder und sehr engagiert mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen. A Judgement in Stone (dt. Urteil in Stein)2 war nun geeignet, den sekundären Analphabetismus als besonders bedrohliches Phänomen sichtbar zu machen. Denn in diesem Buch führt der Mangel an Lesefähigkeit zu drastisch-blutigen Folgen: Die Analphabetin Eunice Parchman, so erfährt man gleich auf der ersten Seite, wird deswegen eine ganze Familie ausrotten.
Die Tat am Ende ist also keine Überraschung mehr. Erzählt wird hier nicht eine Detektivgeschichte, die zur Aufklärung eines Mordes und zur Feststellung der Täteridentität führt, sondern eine Verbrechensgeschichte, welche die Entwicklung des Täters – hier: der Täterin – bis zum kapitalen Delikt hin plausibel machen soll. In der Tradition dieser Gattung im deutschsprachigen Raum – angefangen bei Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/1792) – machte sich dabei immer wieder die Tendenz geltend, durch psychologische Plausibilisierung Verständnis für das betreffende Individuum zu erzielen und dadurch, zumindest indirekt, einer Humanisierung des Strafrechts zuzuarbeiten. Von dieser Absicht findet sich bei Rendell allerdings keine Spur. Erklärt wird immerhin der Umstand, warum Eunice nicht lesen kann: Als Kind wird sie bei den beginnenden Bombenangriffen auf London (also 1940) aufs Land und dort in die Schule geschickt, von ihren kleinbürgerlichen, aber keineswegs illiteraten Eltern nach kurzer Zeit jedoch wieder zurückgeholt, woraufhin ihre Schulbesuche nun überhaupt immer sporadischer und ergebnisloser ausfallen. Mit vierzehn Jahren beendet sie ihre Ausbildung, ohne schreiben und lesen zu können. Diese Schwäche ist ein familiäres Tabu; darüber hinaus hat sie sehr elaborierte Techniken entwickelt, um ihren Defekt geheimzuhalten. Dazu gehört, dass sie sich fast vollkommen isoliert, um der Gefahr zu entgehen, im sozialen Kontakt könne ihre Besonderheit auffallen. Für die Entwicklung ihrer kriminellen Energie gibt es im Roman hingegen keine explizite Ätiologie; sie wird ersetzt durch eine suggestive Verknüpfung mit der Leseunfähigkeit: Offenbar deswegen, weil sie keine geistigen Interessen hat, ist sie eine besessene Materialistin. Da sie nicht liest, beobachtet sie umso genauer, und so kommt es, dass sie Nachbarinnen und Nachbarn bei verschiedenen Verfehlungen – etwa Ehebruch oder Betrug – ertappt und erpresst. Ihr erstes Kapitalverbrechen wird allerdings durch das sozialwissenschaftlich sogenannte Überlastungsmodell motiviert: Als ihre Mutter an multipler Sklerose erkrankt, betreut Eunice sie, zwanzig Jahre lang, bis zu deren Tod. Dann allerdings will ihr asthmatischer, aber sonst sehr vitaler Vater die Invalidenrolle übernehmen und sich von ihr pflegen und versorgen lassen. Als er von ihr verlangt, sie möge nun auch ihn im Rollstuhl ausfahren, erstickt sie ihn mit einem Kissen, eine Tat, die nie aufgedeckt wird, weil der herbeigerufene Arzt ohne weiteres eine natürliche Todesursache annimmt. Nun ist Eunice, 47jährig, auf sich selbst angewiesen, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Da sie im Verkehr mit Behörden völlig überfordert wäre, bewirbt sie sich, assistiert von einem ihrer Erpressungsopfer, um eine Stelle als Haushälterin bei der Familie Coverdale. Die Coverdales sind typische Vertreter der upper middle class und bewohnen ein Herrenhaus in der Grafschaft Suffolk. Die Familie verkörpert das Konzept der ‚literacy‘ in besonderer Weise. ‚Literacy‘ meint nicht nur die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, sondern, nach einer Definition der UNESCO, „a continuum of learning in enabling individuals to achieve their goals, to develop their knowledge and potential, and to participate fully in their community and wider society“ (UNESCO Defining Literacy 2018: 2), also im weiteren Sinn Bildung überhaupt. In diesem Sinn sind die Coverdales veritable Bildungsbürger: Vater George, ein Fabriksbesitzer, hat Philosophie studiert, seine (zweite) Frau Jacqueline ist Absolventin der Royal Academy of Music und begeistert sich für Mozart-Opern, Georges Tochter Melinda studiert gerade Englisch an der University of Norfolk, und Jacquelines Sohn aus erster Ehe, der siebzehnjährige Giles, ist überhaupt ein exzentrisches Wunderkind und beschäftigt sich mit Latein, Griechisch und Sanskrit, mit indischer Philosophie und katholischer Religion. An der Wand seines Zimmers hängt regelmäßig ein „Quote of the Month“ („Zitat des Monats“); dabei wird ein Spektrum durchlaufen von einem frivolen Text des englischen Barockdichters Samuel Butler bis hin zum frommen Todesspruch des 1461 verstorbenen französischen Königs Karls VII. Von Giles selbst stammt die ebenfalls an die Wand gepinnte Devise „Some say life is the thing, but I prefer reading“ (Rendell [1977]: 80; „Es gibt Menschen, die sagen, das Leben sei das Wahre, aber ich lese lieber“ [Rendell 2000: 104]), in Anbetracht seines blutigen Endes ein Beispiel für Rendells gelegentlich überaus sinistren Humor. Obwohl die Coverdales von der Erzählinstanz gelegentlich auch ironisch behandelt und ihre Mittelstandswerte satirisch überzeichnet werden, sind sie die Sympathieträger des Buches. Wie selbstverständlich definieren sie sich, immer und überall, als Träger der Schriftkultur. Damit ist Eunice, und nicht nur in der Bibliothek, ständig von dem umgeben, was sie nicht nur nicht kennt, sondern – und dies führt zur intrikaten Botschaft des Romans – auch hasst: von Buchstaben.
Denn die Schilderung von Eunices dreivierteljähriger Anwesenheit im Haushalt der Coverdales transportiert nun auch eine dramatische Umdeutung ihres Illettrismus. Es geht nicht mehr um ein bedauerliches Erziehungsmanko eines vernachlässigten Kriegskindes, sondern um eine Form der Barbarei, die die Grundlagen der Zivilisation bedroht. An einer Stelle heißt es: „She had the awful practical sanity of the atavistic ape disguised as twentieth-century woman“ (Rendell [1977]: 7; „Sie besaß die schreckliche praktische Vernunft eines atavistischen Affen, der in die Gestalt einer Frau aus dem zwanzigsten Jahrhundert geschlüpft war“ [Rendell 2000: 7]). Der Mangel an Schrift und Büchern zieht aus der Sicht der Erzählinstanz das Fehlen aller sozialen Fähigkeiten, einen fundamentalen Mangel an Empathie und Altruismus nach sich:
The printed word was horrible to her, a personal threat to her. Keep away from it, avoid ist, and from all those who will show it to her. The habit of shunning was ingrained in her; it was no longer conscious. All the springs of warmth and outgoing affection and human enthusiasm had been dried up long ago by it. Isolating herself was natural now, and she was not aware that it had begun by isolating herself from print and books and handwriting. Illiteracy had dried up her sympathy and atrophied her imagination. That, along with what psychologists call affect, the ability to care about feelings for others, had no place in her make-up. (Rendell [1977]: 48; Hervorhebung i. O.) Das gedruckte Wort war etwas Entsetzliches für sie, eine persönliche Bedrohung. Sie mußte sich von ihm fernhalten, es meiden, allen ausweichen, die sie damit in Verbindung bringen wollten. Dieses Ausweichen war tief in ihr verwurzelt, geschah nicht mehr bewußt. Alle Quellen der Wärme, die Fähigkeit, Zuneigung zu empfinden, waren dadurch längst vertrocknet. Sich zu isolieren war für sie jetzt etwas ganz Natürliches, und ihr war nicht klar, daß es damit begonnen hatte, daß sie sich vom gedruckten Wort, von Büchern und Handschriften isoliert hatte. Das Analphabetentum hatte ihr Mitgefühl vertrocknen lassen und ihre Phantasie ausgehungert. Diese beiden und das, was die Psychologen Affekt nennen, die Fähigkeit, sich auf die Gefühle anderen einzustimmen, hatten keinen Platz in ihrem geistig-seelischen Habitus. (Rendell 2000: 62f.)
Umgekehrt deutet der Roman Literarizität nicht nur als die zentrale kulturelle Kompetenz, sondern geradezu als Voraussetzung von Gefühlsbindungen; er koppelt Emotion an den buchstäblichen beziehungsweise buchstäblich literarischen Ausdruck, und das sehr raffiniert. Man könnte geradezu sagen, dass der Begriff ‚Intertextualität‘ hier eine neue Bedeutung bekommt: Im literarischen Zitat, das der Text vorführt, stellt er zugleich die Zugehörigkeit zu einer ‚literaten‘, also humanen und empathiefähigen Gemeinschaft her. Demgemäß ist er selbst durchsetzt von zahlreichen Anspielungen auf den klassischen englischen Kanon. Gleich eingangs heißt es über das verlassene Herrenhaus der Coverdales:
It has become a bleak house, fit nesting place for the birds that Dickens named Hope, Joy, Youth, Peace, Rest, Life, Dust, Ashes, Waste, Want, Ruin, Despair, Madness, Death, Cunning, Folly, Words, Wigs, Rags, Sheepskin, Plunder, Precedent, Jargon, Gammon and Spinach. (Rendell [1977]: 9) Es ist ein düsteres Haus geworden, ein geeigneter Nistplatz für die Vögel, die Dickens Hoffnung, Freude, Jugend, Frieden, Ruhe, Leben, Staub, Asche, Wüste, Begierde, Verfall, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod, Arglist, Torheit, Worte, Streit, Lumpen, Schaffell, Plünderung, Vorrang, Kauderwelsch, Schinken und Spinat nannte. (Rendell 2000: 9)
Die vieldiskutierten allegorischen Namen der Vögel in Charles Dickens’ Bleak House (1852/53) – ein Roman über einen fatalen, endlosen Erbschaftsstreit – bezeichnen nach J. Hillis Miller die Opfer, die Wirkungen und schließlich die Instrumente des verhängnisvollen Kanzleigerichts ( Miller 1985: 11–34, S. 23; das Zitat S. 253). In Rendells Roman wird die Liste nach dem Mord bis zum Schlüsselwort „Death“ wiederholt (Rendell [1977]: 166; Rendell 2000: 220); da nach dem Tod der Coverdales ebenfalls ein Rechtsstreit über das Erbe ausbricht, endet das Buch wiederum mit diesem Zitat, jetzt allerdings gekürzt um die ersten, positiven Begriffe (Rendell [1977]: 191; Rendell 2000: 254).
Eben so wenig fehlen Shakespeare-Referenzen. Bei der Beschreibung des einbrechenden Winters etwa – der Schilderung der Jahreszeiten wird im Roman viel Aufmerksamkeit geschenkt – heißt es unvermittelt: „Blood is nipped and ways be foul and nightly sings the staring owl“ (Rendell [1977]: 99). Die Zeilen aus dem Winter-Sonett in Love’s Labour’s Lost (1598; V,2) sind in der deutschen Übersetzung offenbar nicht erkannt, jedenfalls nicht als Verse wiedergegeben worden: „Das Blut erstarrte, die Wege verwandelten sich in Moraste, und nachts schrie der großäugige Kauz“ (Rendell 2000: 131). 3 Für Shakespeare-Kenner birgt die Anspielung jedoch eine weitere Pointe, da die – im Roman nicht mehr zitierte – Fortsetzung lautet: „Tu-whit; / Tu-who, a merry note, / While greasy Joan doth keel the pot“ – was sich mit Eunices Mittäterin, der schlampigen und unsauberen Dorfkrämerin Joan Smith, in Verbindung bringen lässt. Literarizität, verstanden als Partizipation am klassischen englischen Kanon, ist das, was der Roman voraussetzt und zelebriert.
An den jugendlichen Familienmitgliedern, die ja die Initiation in die Kommunität der Belesenen gerade vollziehen, wird der Erwerb dieser Fähigkeit besonders eingehend demonstriert. Da ist einmal Melinda, von der zunächst berichtet wird, dass sie ihr Englischstudium ohne viel Ehrgeiz betreibt und vor allem mit Linguistik und Mediävistik ihre Schwierigkeiten hat. Zum Geburtstag ihres Vaters – am nächsten Tag wird die Familie ausgelöscht werden – kommt sie eigens aus ihrem College angereist. Der gerührte Vater reagiert mit der Bemerkung, in Anbetracht seines Alters solle man um seinen Geburtstag doch kein so großes Aufheben machen, worauf Melinda zu seiner Beglückung entgegnet: „[W]ho’s born the day that I forget to send to Antony shall die a beggar“ (Rendell [1977]: 143). Melinda bedient sich da des Shakespeare-Zitatenschatzes und bezieht sich auf das Liebeswort der Kleopatra (I,5); in der Übersetzung von Wolf Graf Baudissin heißt die Stelle: „Wer an dem Tag geboren, / Wo ich vergaß an Mark Anton zu schreiben, / Der sterb als Bettler“ (Shakepeare 1988: 914). Die deutsche Ausgabe von Rendells Roman gibt das nicht wieder und ersetzt die Stelle durch: „Melinda [...] brachte ein passendes klassisches Zitat an“ (Rendell 2000: 190). Ganz passt es ja nicht, aber es bestätigt den Umstand, dass Melinda nun doch mit ihrem Lektürepensum angefangen hat und belegt damit ihren Eintritt in den Kreis der Gebildeten, die über und mit einem Literatur-Kanon kommunizieren. Darüber hinaus ist es eben auch eine Liebeserklärung, eine Deklaration der innigen Verbundenheit mit dem Vater; vollzogen wird gleichsam eine intertextuelle Synthese von Literatur und Liebe. Dass Antony and Cleopatra (1606/1607) tragödiengemäß in der Katastrophe endet, erweist das Zitat zudem als eine zukunftsgewisse Vorausdeutung.
Auch der versponnene Wunderknabe Giles liefert ein solches Schlüsselwort. An ihm hat der Roman zuvor einen scheinbaren Gegenbeweis gegen die These von der sozialisierenden Wirkung der Literatur geführt: Seine durch die Pubertät verstärkte Isolation wird vielfach hervorgehoben. Der Hochbegabte hat keine Freunde, distanziert sich vom dörflichen Leben, äußert sich in Einwortsätzen und schirmt sich durch seine Lektüre selbst bei den Mahlzeiten von der Familie ab. Hier ist also doch ein Hinweis auf den ja durchaus bei Lesenden vorhandenen Solipsismus zu finden: Lesen ist in der Regel ein einsames Geschäft, und bei Giles nimmt es geradezu autistische Züge an. Demgemäß hat er seine Zuneigung zum großzügigen und liebebereiten Stiefvater nie zum Ausdruck gebracht – bis zum letzten Augenblick. Der plot hat sich inzwischen zugespitzt: Eunice hat versucht, Melinda zu erpressen und ist deswegen entlassen worden; George steht vor der peinlichen Aufgabe, sie am nächsten Morgen noch zum Bahnhof bringen zu müssen. Giles, den George immer im Auto zur Schule fährt, wird aber dabei sein, er sichert dem Stiefvater moralische Unterstützung zu und findet dafür jetzt einmal die perfekte Formel („he was inspired for once to say the perfect thing“): „I will never desert Mr. Micawber“ (Rendell [1977]: 145).4 Das sprichwörtliche Zitat stammt aus Charles Dickens’ David Copperfield (1850): Wilkins Micawber, ein ständig verschuldeter Rechtsanwalt, wird aber als unverwüstlich optimistischer Charakter dargestellt (und ist zudem Dickens’ eigenem Vater nachempfunden). Der Satz ist die Devise seiner vielgeprüften, aber unerschütterlich loyalen Ehefrau Emma5 und wurde in der Rezeption zum literarischen Signal unbedingten Zusammenhaltens. Dass Giles dieses Zitat anbringt, macht aus ihm nicht nur den Lesenden und Gelehrten – das war er schon zuvor –, sondern auch jemanden, der Solidarität und Freundschaft ausdrücken kann. Die Familienbindung der Coverdales erscheint also am stärksten in Zitaten, die den englischen Literaturkanon aufrufen. An dieser Literarizität partizipiert der Roman zugleich selbst und nimmt damit den postulierten Standard humanitärer und zivilisatorischer Werte für sich in Anspruch. Proklamiert wird das Vertrauen in die humanitäre Wirkung von Literatur, die als Schule der Empfindungsfähigkeit erscheint.
Demgegenüber muss Eunice nun als Monster auftreten. Die Eskalation der Handlung verdankt sich dem Umstand, dass Melinda deren immer dissimulierten Analphabetismus erkennt. Die Camouflage der Leseschwäche wird im Roman in großer Übereinstimmung mit der empirischen Beobachtung des Verhaltens von Betroffenen beschrieben: Die am häufigsten gebrauchte Ausflucht ist die Behauptung, kurzsichtig zu sein. Eunice – die über eine ausgezeichnete Sehfähigkeit verfügt – hat das so lange vorgebracht, bis ihr die besorgten Coverdales einen Termin beim Optiker vermitteln. Zwar nimmt sie den nicht wahr, ist aber gezwungen, sich eine Brille aus Fensterglas zu besorgen, was Melinda eines Tages entdeckt. Eunice reagiert mit versuchter Erpressung, was zu ihrer Entlassung führt. Ihr tiefes Ressentiment gegen die Familie verstärkt sich zu mörderischem Hass.
Getriggert wird das blutige Finale aber von einer Nebenfigur, der sektiererischen Dorfkrämerin Joan, die in eine religiöse Psychose verfällt und Gericht über die gottlosen Coverdales halten zu müssen glaubt; gemeinsam mit Eunice erschießt sie in einer Art Delirium George und Jacqueline, Melinda und Giles. Ihre Funktion besteht aber genau im Kontrast zu Eunice. Joan fällt ausdrücklich unter die M’Naghten Rules: „If the M’Naghten Rules had been applied to her she would have passed the test, for though she had known what she was doing she did not know it was wrong“ (Rendell [1977]: 161).6 Unter den M’Naghten Rules versteht man Regulationen im Fall eines unzurechnungsfähigen Verbrechers (vgl. Cornell Law School 2020). Sie sind benannt nach Daniel M’Naghten, der 1843 einen Anschlag auf den britischen Premierminister Peel ausführen wollte, aber irrtümlich dessen Sekretär erschoss, und gelten im Commonwealth und in den meisten Staaten der USA. Sie besagen, dass sich die Verteidigung eines Täters nur dann auf Unzurechnungsfähigkeit berufen kann, wenn der Betreffende zum Zeitpunkt der Tat aufgrund einer Geisteskrankheit keine Einsicht in den Charakter oder die Unrechtmäßigkeit seines Tuns hatte. Für die psychisch tief gestörte Joan bedeutet Unzurechnungsfähigkeit also auch Schuldunfähigkeit. Nicht so für Eunice, von der betont wird, dass sie jederzeit bei klarem Verstand ist und war. Dennoch setzt die Schilderung des Mordmoments Eunices Verantwortung einerseits herab. Denn metonymisch erscheinen ihr die Coverdales als die Bücher, die sie gelesen haben, sie werden eins mit ihnen:
[B]y some strange metamorphosis, produced in Eunice’s brain, they ceased to be people and became the printed word. They were those things in the bookcases, those patchy black blocks on white paper, eternally her enemies, hated and desired. (Rendell [1977]: 159) Durch eine merkwürdige Metamorphose, die sich in Eunices Gehirn vollzog, hörten sie auf, Menschen zu sein und wurden zum gedruckten Wort. Sie waren diese Dinger in den Bücherschränken, diese schwarzen Zeichen auf weißem Papier, in alle Ewigkeit ihre Feinde, verhaßt und ersehnt. (Rendell 2000: 211)
Indem sich für Eunice Menschen in Schriftzeichen verwandeln, verwandelt andererseits auch sie sich, als Schriftlose, in eine mordende Bestie; als Nicht-Alphabetisierte erscheint sie unmenschlich, ein Gegenbild der Inhumanität zu ihren zivilisierten Opfern. Nach den Morden wird sie metaphorisch selbst zur unbelebten Natur:
A silence [...] filled the drawing room like a thick tangible balm. It held Eunice suspended. It petrified this stone-age woman into stone. [...]
A stone that breathed was Eunice, as she had always been. (Rendell [1977]: 159f.)
Eine Stille [...] erfüllte fast greifbar den Raum. Eunice schien wie erstarrt in dieser Stille, die diese Frau aus der Steinzeit in Stein verwandelt hatte. [...]
Ein Stein, der atmete, das war Eunice – war es immer gewesen. (Rendell 2000: 211f.)
Die metonymische Verwandlung der Opfer in das, was sie gelesen haben, steht komplementär zur metaphorischen Verwandlung der Täterin in den seelen- und leblosen Stein. Erscheint die erste ‚Metamorphose‘ aber als Produkt der Figurenpsyche, so wird die zweite durch die Erzählinstanz legitimiert. Damit ist die Problematik des Buches evident: Der Dehumanisierung der Erschossenen aus der Sicht der Figur entspricht die Tendenz, die Mörderin ebenfalls als subhuman zu klassifizieren – und zwar deswegen, weil sie nicht lesen kann. Ganz konsequent besteht Eunices wahre Bestrafung nicht im Urteil und in der Haft, sondern in dem Umstand, dass der Prozess ihren immer verborgenen Defekt für die ganze Öffentlichkeit sichtbar macht.
Eine Alternative zur Literarizität ist aus dieser Perspektive nur als Abweg ins Kriminelle vorzustellen.7 Vom tief konservativen Humanitätsbegriff des Romans aus lässt sich Menschlichkeit ohne Schriftkenntnis und literarische Bildung gar nicht denken. Soziale oder empathische Fähigkeiten fehlen aber in schriftlosen – vorhistorischen oder indigenen – Kulturen keineswegs; man mag Rendell daher auch eine quasi-koloniale Einstellung vorwerfen. Im Kontext der Alphabetisierungskampagne, in dem das Buch erschien, ist zu hoffen, dass die damals angesprochenen Illiteraten Judgement in Stone (noch) nicht lesen konnten und sich die Lesepatinnen nicht von der Unterstellung abschrecken ließen, ihre Schutzbefohlenen tendierten aufgrund ihrer Leseschwäche prinzipiell zur Kriminalität. Tatsächlich hatte die Autorin bei Erscheinen des Buches bei allem Lob8 deswegen auch Kritik erfahren; man hatte ihr vorgeworfen, ihre Darstellung des Analphabetismus sei ungerecht und grausam.9 Noch ein Vierteljahrhundert später konterte Rendell mit dem Argument, sie habe nur für ihre Figur, nicht für alle Betroffenen, den Zusammenhang zwischen ‚illiteracy‘ und ‚crime‘ hergestellt; zudem gehe es auch darum, dass es für sekundäre Analphabeten ja ausreichende Möglichkeiten gebe, sich Schreib- und Lesefähigkeiten anzueignen.
Rendells Verteidigung ist nicht ganz triftig, da die Aussagen des Buches einen hohen Grad der Verallgemeinerung erlauben:
Literacy is one of the cornerstones of civilization. To be illiterate is to be derformed. And the derision that was one directed at the physical freak may, perhaps more justly, descend upon the illiterate. (Rendell [1977]: 7) Bildung ist einer der Grundsteine unserer Zivilisation. Weder lesen noch schreiben zu können kommt einer Mißbildung gleich. Und der Spott, der sich früher gegen den körperlich Mißgestalteten richtete, gilt heute – vielleicht berechtigter – dem Analphabeten. (Rendell 2000: 7)
Und schon im allerersten Satz wird eine Kausalitätsbeziehung zwischen „Mißbildung“ und Mord hergestellt: „Eunice Parchman killed the Coverdale family because she could not read or write“ (Rendell [1977]: 7; „Eunice Parchman tötete die Familie Coverdale, weil sie nicht lesen und schreiben konnte“ [Rendell 2000: 7]; Hervorhebung v. K. F.). Eine Ursächlichkeit besteht in der Realität zweifellos nicht; hingegen gibt es freilich eine Korrelation von Analphabetismus und Armut sowie Kriminalität. In Großbritannien ist dieser Umstand offenbar nicht ausreichend erforscht, man beruft sich dort auf amerikanische Studien (die, strenggenommen, auch nicht das Verhältnis von Verbrechen und Leseschwäche, sondern die Relation von Haftstrafen und mangelnder Lese- und Schreibkompetenz untersuchen): In den USA sind 60% der Gefängnisinsassen und 85% der jugendlichen Straftäter funktionale Analphabeten. Interessanterweise liegt die Rückfallquote bei Tätern, die im Gefängnis lesen und schreiben gelernt haben, bei 16% gegenüber einem allgemeinen Rezidivismus von 70% (vgl. Shinabarger 2017). Dieses beeindruckende Ergebnis besagt aber wohl trotzdem nicht, dass kriminelle Energien durch Lese- und Schreibkompetenzen abgebaut werden, sondern lediglich, dass die Betreffenden durch die erworbenen Fähigkeiten ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, auf ausreichende Entlohnung und auf generell bessere Lebensumstände erhöht haben. Denn selbstverständlich ist auch die Korrelation mit dem sozialen Status von eminenter Bedeutung. Obwohl Rendells Roman mehrfach sarkastisch auf das Klassenbewusstsein und den sozialen Dünkel des Ehepaars Coverdale eingeht – „‚And she’s dropped that sir and madam. Not that I care about that, I’m not a snob‘, said George, who did and was“ (Rendell [1977]: 125; „‚Und das „gnädige Frau“ und „Sir“ hat sie auch fallengelassen. Nicht daß mir daran etwas läge, ich bin kein Snob‘, setzte George hinzu, dem sehr wohl etwas daran lag und der durchaus ein Snob war“ [Rendell 2000: 165]) –, wirkt dieser Spott liebevoll und gewissermaßen augenzwinkernd; Eunice hingegen hat einen soliden lower middle class background, als solle gerade vermieden werden, sowohl ihren Analphabetismus als auch ihre kriminellen Neigungen auf Armut oder Verwahrlosung zurückzuführen. Dass ‚literacy‘ im Sinn nicht nur von Lese- und Schreibfertigkeiten, sondern eben als Teilnahme an kulturellen beziehungsweise literarischen Traditionen auch ein soziales Privileg ist, stellt der Roman zwar dar, aber niemals in Frage.
Eine weitere Suggestion des Buches, nämlich: dass das Lesen (von Literatur) soziale Kompetenzen, Einfühlungsgabe und Empathie schule, ist der Literaturdidaktik gewiss eine sehr willkommene Botschaft. Tatsächlich haben sich Sozialpsychologen und Kognitionswissenschaftler bemüht, im Experiment die positiven Auswirkungen von Lektüre auf das Vorstellungsvermögen und folglich auf die Bereitschaft zum Mitgefühl nachzuweisen (vgl. z. B. Kidd/Castano 2013; Oatley 2016). Zweifellos befördert das Lesen literarischer Texte die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen; ob das auch bedeutet, dass Lesen gegen Kriminalität immun macht oder etwa gar als Sühne oder Wiedergutmachung vergangener Verbrechen verstanden werden kann, muss dahingestellt bleiben. Daher lohnt sich zuletzt noch ein kurzer Blick auf einen deutschsprachigen Roman, der ebenfalls in eine akute Debatte zum Analphabetismus (vgl. Döbert 2011) hineingeschrieben worden ist: Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) erschien im selben Jahr, in dem in Deutschland ein bundesweiter Beratungsdienst für Erwachsene mit Lese- und Schreibproblemen eingerichtet wurde. Ich-Erzähler ist Michael Berg, der, fünfzehnjährig, im Jahr 1958 eine – dann abrupt abgebrochene – Liebesbeziehung mit der über zwei Jahrzehnte älteren Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz unterhalten hat; dabei hat er ihr, auf ihren Wunsch, immer wieder weltliterarische Texte – etwa Tolstois Krieg und Frieden – vorgelesen. 1966, inzwischen Jurastudent, verfolgt Michael einen Prozess gegen ehemalige KZ-Wärterinnen und erkennt in einer der Angeklagten die ehemalige Geliebte; wie er jetzt begreift, ist Hanna Analphabetin. Nach ihrer Verurteilung spricht er verschiedene literarische Werke auf Band und schickt ihr die Kassetten ins Gefängnis. Hanna lernt während ihrer Haft Lesen und Schreiben; am Tag vor ihrer Entlassung bringt sie sich um.
Das Buch10 wurde zum Welterfolg, zunächst von der Kritik enthusiastisch begrüßt; erst langsam mehrten sich die Stimmen, die an der Junktimierung von Täterschaft und Analphabetismus etwas auszusetzen hatten. Besonders heftig reagierte der britische Autor und Literaturwissenschaftler Jeremy Adler; er bezeichnete den Text als „Kulturpornographie“ und warf ihm Halbwahrheiten und Verdrehungen vor.11 Der zentrale Vorwurf lautete, er verwische die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Denn anders als, oder vielmehr: im Gegensatz zu Rendells Roman dient hier die Leseschwäche beziehungsweise deren panische Dissimulation der Entlastung der Figur; mit dem Erwerb der Lese- und Schreibkompetenz schließlich wird Hanna nicht nur ‚humanisiert‘, sondern indirekt auch exkulpiert. Der Kanon der für sie ausgewählten Werke ist eminent bildungsbürgerlich, nur: es bleibt beim name dropping – für das 20. Jahrhundert stehen „Kafka, Frisch, Johnson, Bachmann und Lenz“ (Schlink 1997: 176) –, es fällt kein einziges Zitat, das Risiko des intertextuellen ‚Dialogisierens‘ wird nicht eingegangen. Sind bei Rendell Shakespeare und Dickens noch Garanten dessen, dass die Humanität einer Gesellschaft auch an ihrem kulturellen Erbe gemessen werden kann, laboriert Schlinks Roman an dem Umstand, dass der deutschsprachige Kanon erstens nie diese Selbstverständlichkeit erreicht hat und dass er zweitens gerade den Rückfall in die Barbarei, der Thema des Buches ist, nicht hat verhindern können; dass die Literatur der Aufklärung und Klassik nicht gegen die NS-Bestialität immunisiert hat.
Das Thema beider Romane hat aber in der Gegenwart nichts an Aktualität verloren. Um mit Österreich zu schließen: Hier erscheint die Situation etwas undurchsichtig, was einerseits daran liegt, dass die letzte OECD-Erhebung vor langer Zeit, nämlich in den Jahren 2011–2012 stattfand. Andererseits wird in der politischen Debatte immer wieder versucht, Analphabetismus lediglich als Migrations- und Flüchtlingsphänomen darzustellen. Ein Resultat jedenfalls ist unbestritten: Rund 17% der 16- bis 65-Jährigen in Österreich, das ist etwa eine Million Menschen – überwiegend mit österreichischer Staatsbürgerschaft –, verfügen über nur geringe Lesekompetenz, will heißen: können Texte nicht sinnerfassend lesen.12 Zwar ist nicht zu befürchten, dass diese Million kriminell besonders auffallend würde, noch auch, dass es ihr an sozialen Fähigkeiten wie Empathie und Rücksicht mangle; zu wünschen wäre allerdings, dass ihr tägliches Leben leichter würde, könnte sie lesen (und schreiben). Dass sie dann vielleicht auch an den literarischen Ressourcen partizipieren würde, die den kulturellen Reichtum der lese- und schreibgeübten Bildungsschicht ausmachen, bleibt eine – literaturdidaktische – Utopie.
Literaturverzeichnis
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- Rendell, Ruth (2000): Urteil in Stein. Roman. Übers. v. Edith Walter. München (= Goldmann-Tb 44770).
- Schlink, Bernhard (1997 [1995]): Der Vorleser. Roman. Zürich (= Diogenes-Tb 22953).
- Shakespeare, William (1987): Sämtliche Dramen. Bd. I: Komödien. München: Winkler.
- Shakespeare, William (1988): Sämtliche Dramen. Bd. III: Tragödien. München: Winkler.
- Shinabarger, Nathan (2017): Literacy and Criminality, in: The Idea of an Essay 29/4. Abgerufen von https://digitalcommons.cedarville.edu/idea_of_an_essay/vol4/iss1/29, Zugriff am 15.04.2024.
- UNESCO (2018): Defining Literacy. Abgerufen von https://gaml.uis.unesco.org/wp-content/uploads/sites/2/2018/12/4.6.1_07_4.6-defining-literacy.pdf, Zugriff am 15.04.2024.
Anmerkungen
Top of pageUnter ‚sekundärem‘ Analphabetismus versteht man das Phänomen, dass auch Schulabsolvent*innen nicht schreiben und lesen können; ‚funktionaler‘ Analphabetismus meint den Umstand, dass zwar einzelne Buchstaben entziffert und eine Unterschrift geleistet, aber der Sinn von (längeren) Texten nicht erkannt werden kann. – Zum Folgenden vgl. Clare 2007: 1010–1049.
BackRuth Rendell: A Judgement in Stone [1977]. London: Arrow Books 1994; Ruth Rendell: Urteil in Stein. Roman [übers. v. Edith Walter]. München 2000 (= Goldmann-Tb 44770). Das Buch wurde zweimal verfilmt: 1986 als The Housekeeper (R: Ousama Rawi, D: Rita Tushingham) und 1995 als La Cérémonie (R: Claude Chabrol, D: Sandrine Bonnaire).
BackAllerdings gäbe auch die klassische deutsche Übertragung von Wolf Graf Baudissin wenigstens einen Aspekt nicht wieder, nämlich das – vorausdeutende – „erstarrte Blut“: „Die Spur verweht, der Weg verschneit, / Denn nächtlich friert der Kauz und schreit“ (Shakespeare 1987: 532).
BackDieses Zitat wird in der deutschen Übersetzung wiedergegeben: „Ich werde Mr. Micawber nie im Stich lassen“ (Rendell 2000: 192); ohne Kontext und Erklärung hat es auf das deutschsprachige Lesepublikum aber gewiss nicht dieselbe Wirkung wie das Original auf ein britisches, bei dem sogar Adjektivbildungen wie „micawberish“ und „micawberesque“ in Gebrauch sind.
BackDie Übersetzung gibt das nicht nur wieder („Hätte man die M’Naghten Rules auf sie angewandt, hätte sie den Test bestanden, denn obwohl ihr klar gewesen war, was sie tat, hatte sie nicht gewußt, daß sie Unrecht tat“ [Rendell 2000: 212]), sondern ergänzt es durch eine Fußnote zu den zentralen Inhalten des betreffenden Rechtsgrundsatzes.
BackEine Untersuchung zu Rendells späterer politischer Einstellung wäre durchaus lohnend. The Blood Doctor beispielsweise, veröffentlicht 2002 unter dem Pseudonym Barbara Vine, unter dem ihre ‚psychologisierenden‘ Romane erschienen, ist aus der Perspektive eines (durchaus sympathischen) adeligen Herrenhausmitglieds erzählt; The Birthday Present (2008), ebenfalls von ‚Barbara Vine‘, übt hingegen gehörige Kritik an der Selbstherrlichkeit politisch privilegierter Konservativer. – 1997 geadelt, hat Ruth Rendell selbst einen Sitz im House of Lords eingenommen – allerdings auf Seiten der Labour Party.
BackIn den USA etwa hob man vor allem das ‚understatement‘ des Textes hervor und urteilte, das Buch sei „one of Ruth Rendell’s best“ (Callendar 1978).
BackBernhard Schlink: Der Vorleser. Roman [1995]. Zürich 1997 (= Diogenes-Tb 22953). Verfilmt wurde der Roman 2008 (The Reader; R: Stephen Daldry, D: Kate Winslet).
BackVgl. Adler 2002. Zit. nach Heigenmoser 2005: [124]–131; dort findet sich auch viel weiteres Material zur journalistischen und literaturwissenschaftlichen, deutschen und internationalen Rezeption.
BackBönisch/Reif 2014. Die Begriffe ‚sekundärer‘ bzw. ‚funktionaler‘ Analphabetismus sind hier vermieden, wohl, weil sie auf eine Gemengelage von Ursachen hindeuten, die statistisch nicht erfassbar sind; als Fakten geprüft wurden lediglich die betreffenden Fähigkeiten der Probanden.
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