Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Stefan Maurer

Eine Faszinationsgeschichte mörderischer Männlichkeit

Brigitte Schwaiger auf den Spuren von Helmut Frodl und Gabor Pesti

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Wiener Digitale Revue 5 (2024)

www.univie.ac.at/wdr

Abstract

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Die österreichische Autorin Brigitte Schwaiger (1949–2010) und ihre Faszination sowie Recherche eines Mordfalls, der in den frühen 1990er Jahren für öffentliches Aufsehen sorgte, stehen im Mittelpunkt dieses Essays. Schwaiger, die ein Sachbuch über den Mord an dem Regisseur Fritz Köberl plante, wurde im Zuge ihrer Recherchen sukzessive immer mehr in den Fall involviert, der zu einer quälenden Art der Obsession wurde. Anhand bislang unbekannter Archivmaterialien aus Schwaigers Nachlass wird ihre eigenartige persönliche Einmischung in den Mordfall und dessen juristische Nachwirkungen dargestellt.

The essay discusses the Austrian writer Brigitte Schwaiger (1949–2010) and her fascination with, as well as her investigation into, a popular murder case that occurred in the early 1990s, which she was attempting to turn into a non-fiction book. In her efforts to exonerate one of the perpetrators involved in the murder of film director Fritz Köberl, her engagement became increasingly obsessive. Drawing on previously unknown archival material, the essay seeks to reconstruct her unusual involvement in the murder case and its legal aftermath.

Volltext

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1. Vor dem Gesetz

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In Vor dem Gesetz (1914) schildert Franz Kafka gleichnishaft und eindrücklich die Mechanismen des juristischen Ein- und Ausschlusses – auch die Unmöglichkeit eines chiliastischen Heilsversprechens –, anhand eines Mannes vom Lande, der in das Gesetz ‚eintreten‘ möchte und den das Portal bewachenden Türhüter. Als „Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“ (Kafka 1994: 269), strahlt dem Mann vom Lande etwas aus der Dunkelheit entgegen, aber auch nach seinem Tod wird er nicht eintreten können. In Kafkas Parabel bleibt das Gesetz für den Mann vom Lande unerreichbar, ebenso entzieht es sich den Leser*innen, ob es nun in seiner juristischen, sozialen, politischen oder gar theologischen Gegenständlichkeit zu verstehen ist.

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Auch der vormaligen Bestsellerautorin Brigitte Schwaiger (1949–2010), die mit dem Roman Wie kommt das Salz ins Meer im Jahr 1977 einen Bestseller gelandet hatte (vgl. Strigl 2007: 249f.), entzog sich die Sphäre des Rechts, auch ihr blieb der Eintritt, – ein Erfolg in diesem Bereich –, schlussendlich verwehrt. Zahlreiche Dokumente, Briefe und Texte, die sich in ihren auf verschiedene Institutionen verstreuten Vor- und Nachlassteilen erhalten haben, legen davon Zeugnis ab, denn diese Dokumente wechseln von der literarischen Sphäre in jene des Rechts und vice versa, manche Dokumente bleiben ununterscheidbar. Das betrifft nicht nur ihr veröffentlichtes, sondern auch ihr unveröffentlichtes und unabgeschlossenes bzw. fragmentarisch gebliebenes Werk. Damit in Zusammenhang stehen unvollendete Projekte, die sich auch daraus erklären, dass die Schriftstellerin doch immer wieder mit diversen Institutionen, nicht zuletzt jenen Verlagen, die ihre Bücher publizierten, aber auch verschiedenen Privatpersonen, im juristischen Clinch lag.

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Ein großer Teil ihres Nachlasses – insgesamt 36 Boxen – wird am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt, weitere Teile finden sich u. a. im Archiv des Literaturhaus Wien. Ein größeres Konvolut jener Rechtssachen und -angelegenheiten, die Schwaiger im Lauf der 1990er Jahre verfolgte, verwahrte der Wiener Rechtsanwalt Nikolaus Lehner, der auch als einer jener Anwälte fungierte, die Schwaigers rechtliche Belange betreuten, darunter eine Scheidungsangelegenheit und damit versuchte Klage gegen ihren ersten Ehemann, einen spanischen Offizier und Veterinär, mit dem sie von Ende der 1960er Jahre wenige Jahre verheiratet gewesen war. Schwaiger selbst verfuhr mit ihrem eigenen literarischen Erbe widersprüchlich und hatte die Neigung, Dokumente und Manuskripte zu vernichten (vgl. Maurer 2023: 43–52).

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„In ihrem Wohnbezirk, Wien-Neubau, galt sie als ‚verrückte Schriftstellerin‘, und in Literaturkreisen hatte sie den Ruf, ‚schrecklich‘ zu sein“ (Schwaiger 2014: IV), heißt es in Der Selbstmord der Brigitte Schwaiger. Der gespenstische Trick dieses Textes: Was hier als Nachruf eines Dritten verfasst zu sein scheint, ist von der Schriftstellerin selbst geschrieben worden, bereits sieben Jahre vor ihrem Selbstmord im Jahr 2010 inszeniert sie hier den Nachruf auf sich selbst zu Lebzeiten. Die Veröffentlichung des Textes erfolgt dann erst vier Jahre später. Es ist eine radikale Abrechnung mit sich selbst, mit der eigenen Biographie, mit einem Leben, aber auch einem literarischen Werk, das Schwaiger sich selbst und allen ihren Leser*innen als eine Erzählung des Scheiterns und der eigenen Schicksallosigkeit vorführt, die zu einem fiktionalen Projekt der gnadenlosen ‚Selbst(zer)schreibung‘ wird. Schwaiger hat dabei, ähnlich wie die in Auschwitz internierte und dem Tod ausgelieferte Figur György Köeves im Roman eines Schicksallosen (Sorstalanság, 1975/1990) des Nobelpreisträgers Imré Kertesz, einen starken Willen zum Schicksal und entwickelt literarische Strategien des Umgangs damit und das ist durchaus als produktive Triebfeder ihres Œuvres zu verstehen. Denn diese literarischen Strategien manifestieren sich in 17 Büchern, sieben – auch international inszenierten – Theaterstücken (eines davon sogar Off-Broadway) sowie Regiearbeiten an Linzer und Wiener Theatern und einigen Hörspielen, Übersetzungsarbeiten aus dem Spanischen, sowie einem – noch großenteils – unbekannten bildnerischen Werks. Dies alles zeugt von ungebrochenem Talent seit ihrer ersten bislang nachgewiesenen Veröffentlichung, einem Kurzprosastück mit dem Titel Was ist Glück? in den Tiroler Nachrichten im Jahr 1966, im Alter von siebzehn Jahren. Evelyne Polt-Heinzl gruppiert Schwaigers literarisches Werk rund um die Themenkreise Traumata und Wunschprojektionen einer Jugend in kleinbürgerlicher Enge des Wiederaufbaus, die Aufarbeitung ihrer katholischen Kindheit im Kontext der Antiheimat-Literatur, aber auch der „Analyse der Pathologisierung der Frau als der radikal Fremden in der [...] Männerwelt“ (Polt-Heinzl 2012: 103).

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En passant geht sie in Der Selbstmord der Brigitte Schwaiger auch auf jenen Sachverhalt ein, der im folgenden Beitrag im Zentrum stehen wird:

Natürlich stellten ihr Eintreten für den Mörder und Zerstückler Pesti (Fall Köberl, zweiter Verurteiler: der ehemalige Fernsehmoderator Helmut Frodl) im Jahr 1994 […] einen Affront und Eklat und eine schwere Belästigung der Öffentlichkeit dar. […] Was durch die Krankheit der Schwaiger, Borderline, Nymphomanie und Promiskuität, jedoch nahezu entschuldbar ist. (Schwaiger 2014: IV)
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Daran anschließend bzw. parallel zu dieser Entwirrung und Literarisierung des eigenen biographischen Fadenknäuels im Kontext erlittener Traumata verlief in den 1990er Jahren eine Faszinationsgeschichte der mörderischen Männlichkeiten. Schwaiger war nicht nur am Briefbombenattentäter und Terroristen Franz Fuchs – dessen Prozess sie im Gerichtssaal mitverfolgte, unter nicht wenig medialem Interesse (vgl. Red. 1999: 45)1 – interessiert, sondern auch an Udo Proksch, dem Drahtzieher des Falls „Lucona“, des wegen sechsfachen Mordes verurteilten Unternehmers, – dessen Fall sie neu aufzurollen gedachte –, ebenso wie an dem grausamen Mord, den der ORF-Regisseur Helmut Frodl und der Wirtschaftsanwalt Gabor Pesti an dem Filmproduzenten Fritz Köberl begangen hatten.

2. Mord als schöne Kunst betrachtet

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Insbesondere ihre autobiografischen Romane Ein langer Urlaub (1996) und Ich suchte das Leben und fand nur dich (2000) illustrieren Schwaigers Bekanntschaft und Ehe mit Miguel Herreros Lopez. Die damals 19-jährige Schwaiger dürfte durch den sechs Jahre älteren Tierarzt und Offizier der Armee unter Diktator Francisco Franco und Verfechter des franquismo psychische Zurichtungen erfahren haben und sie wollte mehr als fünfundzwanzig Jahre später auch gegen ihn juristisch vorgehen. Wie sie an ihre Anwaltskanzlei schreibt, ist zumindest Ein langer Urlaub „nur ein winziger Teil des von mir erlebten “ und es „hätte, was ich mit Herrn Herreros tatsächlich erlebte, jeden literarischen Rahmen gesprengt, hätte ich alles in dem Buch erzählen wollen“ (Schwaiger an Lehner 29.11.1996).

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Durchzogen sind die beiden Romane, welche ihre spanische Ehe behandeln, an mehreren Stellen von Motiven und Beschreibungen, die Folter und Mord thematisieren:

Weißt du, daß einmal ein Mann Frauen in sein Zimmer verschleppt hat, ihnen die Arme und die Beine am Bett festgebunden hat, und dann hat er sie angeschaut. Nur angeschaut. / Und umgebracht und in Stücke gehackt und in den Ofen gesteckt. Dann hat er sie verbrannt, und er war immer sehr elegant gekleidet, mit Melone, Spazierstock, Manschetten und polierten Schuhen. Aber der, den ich meine, hat die Frauen gefesselt, hat ihnen die Beine auseinandergetan, und dann ist er dort gesessen und hat geschaut. (Schwaiger 1996: 35)
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Solche Passagen aus Schwaigers Ein langer Urlaub, als Referenzrahmen ihrer Ehe und Zeit im franquistischen Spanien der 1960er Jahre, welche die Phänomene Folter und Mord thematisieren, können mit Thomas De Quincys Mord als schöne Kunst betrachtet (On Murder considered one of the Fine Arts) assoziiert werden. Dieser 1827 erstmals in Blackwood's Edinburgh Magazine erschienene, satirische Essay, der sich geschickt als Herausgeberfiktion tarnt, macht Mordfälle zu zu einer künstlerischen Diskursform, indem Mordtaten parallel gesetzt werden zu Werken der bildenden Kunst und Literatur. In De Qinceys Essay steht damit, diametral zum Kriminalroman, nicht die Verfolgung und Bestrafung des Mörders, sondern der Mord selbst, der nach ästhetischen Kriterien, wie ein Kunstwerk, beurteilt wird, im Zentrum. Der Essay ist ein „ironische[r], provozierende[r] und vielschichtige[r] Versuch, eine Affinität zwischen Kunst und Verbrechen herzustellen“ (Krämer 1999: 9). Der Essay wird der literarischen Dekadenz zugeordnet, wobei der „Keim morbider Faszination quasi noch unter der Maske des Unernstes und der ironischen Groteske versteckt“ (Krämer 1999: 12) wird.

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„Man beginnt allmählich einzusehen“, so heißt es bei De Quincy, dass „zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch noch etwas mehr gehört als ein Messer, eine Börse, eine dunkle Gasse und zwei Schafsköpfe, von denen der eine dem andern das Lebenslicht ausbläst.“ (De Quincey 1913) Seiner ästhetizistischen Argumentation zufolge, sind die „feinsinnige Verteilung von Licht und Schatten, kurzum – ein hochentwickeltes künstlerischen Empfinden –“ (ebd.) die unerlässliche Vorbedingung zu einer solchen Mordtat. Mit solchen Kontexten und diesem „künstlerischen Empfinden“ im Zusammenhang mit einem Mordfall, wird sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auch Brigitte Schwaiger intensiv befassen.

3. Der Fall Köberl

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Es handelt sich bei dem Fall, der Schwaigers Interesse erregte, um den grausamen Mord an dem Filmstudiobesitzer und Kameramann Fritz Köberl, der im Mai 1992 vom Schauspieler, Produzenten und Regisseur Helmut Frodl und dem Anwalt Gabor Pesti auf bestialische Weise – Köberl wurde mit vier Kopfschüssen getötet und sein Körper anschließend in siebzehn Teile zerhackt – ermordet worden war. Das Thema „Frodl“, heißt es in einem Brief, habe Schwaiger „ja nie als Literatur betrieben“, sondern vielmehr mittels auf Gesprächen basierenden Recherchen „plus anschliessendem automatischen Schreiben (mediales Schreiben, Versuche) plus wirklich sehr viele Stunden Aktenstudium et cetera versucht, in die Gedankenräume eines Helmut Frodl vorzudringen“ (Schwaiger an Jancsi 1996).

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Den Mord, welchen Frodl und Pesti über Monate geplant hatten, führten sie in einer Wohnung im Budapester Arbeiterbezirk Csepel aus, sogar einen Lockvogel hatten die beiden engagiert. Es ging dabei vor allem um die Vertuschung eines Wettbewerbsvorteils bei der Vergabe von Werbespots durch das Unterrichtsministerium und somit um viel Geld, denn Köberl war dahintergekommen, dass sich Frodl in dieser Hinsicht illegale Vorteile verschafft hatte, indem er Beamte bestach.

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Sowohl Frodl als auch Pesti waren zwar bereits verurteilt und verbüßten ihre jeweiligen Haftstrafen in den Justizanstalten Garsten in Oberösterreich bzw. Graz-Karlau. Dennoch glaubte Schwaiger, als sie damit begann sich mit diesem Fall zu befassen, was ca. ab 1994 erfolgte, in der Lage zu sein, „da mitzuhelfen beim Aufdecken, wer wirklich Köberl umgebracht hat“, stellte aber retrospektiv fest, dass sie im Zuge ihrer Recherchen in „Teufels Küche“ geraten sei: „Ich will nicht näher beschreiben, in was für Lügengespinste ich mich da leider begab, sodaß ich nach zwei Jahren alles ruhen ließ.“ (Schwaiger o. D. [Autobiografische Notizen und Aufzeichnungen]: 28)

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Schwaiger kam im Zuge ihrer Recherche - geplant hatte sie ein Buch über den Fall, ob es ein Roman oder Sachbuch werden sollte, lässt sich nicht letztgültig klären - auch den beiden wegen Mordes Verurteilten nahe, besuchte sie in den Justizanstalten bzw. führte Korrespondenz mit ihnen.

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Helmut Frodl dürfte Schwaiger seit dem Winter 1976/1977 gekannt haben, wie sie selbst in einem Konvolut im unzugänglichen Teil des Nachlasses festgehalten hat, der eine von ihr verfasste Entgegnung der Anklageschrift von Staatsanwalt Ernst Kloyber vom Wiener Landesgericht für Strafsachen enthält.

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Frodl, so schrieb Peter Pelinka im Falter, sei „ein Aufsteigerexemplar der Vor-Yuppie-Generation aus dem besonders geld-, prestige-, status- und erfolgsorientierten Medienbereich“ (Pelinka 1992: 8) gewesen, dessen Biografie –, geboren war er als Kind eines Straßenbahners aus Erdberg –, sich mit jener des neuen Bundespräsidenten decken würde, wie Pelinka anmerkt. Frodl hatte „frühes Interesse für die Filmwelt“ und kam in den 1980er Jahren auch aufgrund seiner Nähe zur Sozialdemokratie zu „schneller Karriere und großem Geld“ (ebd.).

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In Gabor Pesti, den Bruder von Maria Eisenreich, der Frau des Schriftstellers Herbert Eisenreich, war Schwaiger eigenen Aussagen zufolge sogar als junge Frau verliebt gewesen, zumindest war er ihr unter dem Namen Géza seit 1978 bekannt, da sie mit seiner Schwester eng befreundet war. Die dritte Ehefrau von Eisenreich, der in den 1950er Jahren in Sandl bei Freistadt, also Schwaigers Heimatstadt lebte, war auch eine Patientin von Herbert Schwaiger, ihrem Vater, der als praktischer Arzt in der Region tätig war.

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Unter dem Titel Der Komplice des Todes erschien im Juni 1992 ein Porträt des 1947 in Ungarn geborenen Pesti, der 1956 im Zuge der den Ungarischen Volksaufstand begleitenden Welle von Flüchtlingen nach Österreich gelangt war, dort die Staatsbürgerschaft erhalten hatte und in der Folge als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater tätig war. Er war an der Albatros Filmproduktion-GmBH beteiligt, jener Gesellschaft, über die Frodl seine Geschäfte abwickelte. Pesti hatte 1987 einen schweren Autounfall mit einem Geisterfahrer nur knapp überlebt und hatte ein Jahr auf der Intensivstation verbracht. „Die Ärzte mußten sein Gehirn komplizierten Operationen unterziehen und seine Hoden amputieren“ (Himmelfreundpointner 1992: 52), heißt es in dem Artikel, in dem auch unter Bezugnahme auf Interviews von Freunden und Bekannten über Persönlichkeitsveränderungen und das entstellte Äußere Pestis berichtet wird. Anlässlich des Prozesses, wie es ihn in der Zweiten Republik noch selten gegeben hatte, überschlugen sich die Medien bereits Monate zuvor förmlich in der Berichterstattung und den neuesten Enthüllungen.

4. Der Prozess gegen Frodl und Pesti

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Im Dezember 1993 begann das Mordverfahren am Wiener Landesgericht, das auf drei Wochen angesetzt war. Im Zuge des Prozesses fanden sich alle Beteiligten, von den Staatsanwälten bis hin zu den Strafverteidigern Frodls und Pestis früher oder später in den Schlagzeilen wieder. Wenige Tage vor Prozessbeginn hatte eine Anschlagsserie mit Brief- und Rohrbomben begonnen, am 6. Dezember war Helmut Zilk Opfer eines solchen hinterhältigen Attentats – für die der Terrorist Franz Fuchs verantwortlich zeichnete – geworden. Der Andrang anlässlich des Prozessauftakts war enorm, der größte Gerichtssaal Österreichs im Wiener Landesgericht war überfüllt. Daniel Glattauer, zu diesem Zeitpunkt noch Gerichtsberichterstatter, schreibt, dass es mehr Gedränge gegeben hätte als bei „Lucona, Noricum und Lainz“ (Glattauer 1993a: 12). Während sich die Ereignisse rund um das Stückgutschiff Lucona, das 1977 nach einer Explosion mit sechs Todesopfern im Indischen Ozean versunken war, zu einem der größten politischen Skandale der Zweiten Republik auswuchsen, stand die sogenannte „Norcium-Affäre“ mit Waffenlieferungen des VÖEST-Tochterunternehmens Noricums in Zusammenhang. In den 1980er Jahren waren mehrere Patientinnen und Patienten im Lainzer Krankenhaus von drei Krankenschwestern, den ‚Todesengeln von Lainz‘, ermordet worden.

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Sieben Prozesstage lang wurde die vierzigstündige Verhandlung im Fall Köberl geführt, die Einvernahmen wurden immer wieder unterbrochen, es gab „wütende Proteste aus dem Publikum, der Angeklagte wurde ausgelacht, der Richter schmunzelte unentwegt, weil auch er nur ein Mensch sei, der Staatsanwalt konnte sich seine bissigen Kommentare nicht verkneifen“, berichtete Glattauer: „Und in den Geschworenenbänken funkelten die Augen und zischten Empörungslaute, wie das bei großen Prozessen in Wien schon seit Jahren nicht mehr der Fall war“ (Glattauer 1993b: 8).

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Es gab keine Schuldausschließungsgründe, denn auch das von Verteidiger Nikolaus Lehner in Auftrag gegebene Privatgutachten hinsichtlich eines bei seinem Mandanten ansatzweise entdeckten Borderline-Syndrom war zu „‚verdünnt‘, um von einer seelischen Störung sprechen zu können“ (Peyerl 1993: 16). Viele Prominente verfolgten das Verfahren vor Ort mit, u. a. Hannes Androsch, Vera Russwurm, Nora Frey und Barbara Stöckl. Frodl gestand die Tat nicht, was das Publikum angesichts der erdrückenden und eindeutigen Beweislage als Provokation empfand und für Verstörung sorgte. Denn selbst als die siebzehn Leichenteile Köberls „technisch nachbetrachtet“ wurden, schildert Daniel Glattauer die Reaktion der Angeklagten folgendermaßen: „Gabor Pesti mit nach vorne gebeugtem Kopf schwebt im Dauer-Dämmerzustand. Helmut Frodl hält den glasklaren, engelhaften Blick durch. Er hat in 40 Prozeßstunden keine Gefühlsschwankungen erkennen lassen.“ (Glattauer 1993c: 8)

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Am 22. Dezember 1993 fiel dann das spektakuläre Urteil, während Frodl wegen Mordes in erster Instanz verurteilt wurde und eine lebenslängliche Haftstrafe erhielt, fasste Pesti – der auch als „angebliches ‚Hirn‘ der Bluttat galt“ (Bobi 1994: 54) –, wegen Beihilfe zum Mord 20 Jahre aus. Allerdings gingen beide im Oktober des Folgejahres in Berufung gegen diese Urteile. Frodl beharrte nämlich darauf, dies hatte er bereits im Verlauf des Prozesses ausgesagt, dass ein KGB-Mann Köberl erschossen hätte und er selbst sowie Pesti vollkommen unschuldig seien.

5. Fiktionalisierung(en) eines Mordes

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Obwohl Helmut Frodls Mordplan eher einem schlechten „Tatort“-Krimi glich, so konstatiere Peter Pelinka im Falter, waren die unterschiedlichen Bemühungen um die Literarisierung des Mordfalles (vgl. Pelinka 1992: 8) auffällig. Das Feuilleton sah sogar Parallelen zu einem Klassiker der Kriminalliteratur: Patricia Highsmiths Der talentierte Mr. Ripley (The Talented Mr. Ripley, 1955). Dies vor allem deswegen, weil Frodl im Anschluss an den Mord versucht hatte, die Identität von Köberl anzunehmen, wie auch Ripley das Weiterleben seines Opfers „Dickie“ Greenleaf vortäuschte. „Der Mord an sich freilich findet nicht so leicht eine prominente Parallele, weder in der Kriminalliteratur noch in der realen Kriminalgeschichte“ konstatierte Pelinka, weil die Leiche Köberls „auf besonders tabubrechende Art“ (Pelinka 1992: 8) von Frodl beseitigt worden sei.

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Frodl selbst schrieb während seiner Haft einen Roman sowie ein Drehbuch über die „Mordgeschichte“ mit dem Titel Außer Kontrolle. Im Netz der Agenten. Dieser „Psychothriller“ – wie die Gattungsbeschreibung lautet – erschien 1993, nur wenige Tage vor Prozessbeginn in der Edition Va Bene. Nikolaus Lehner präsentierte das „Buch zum Prozeß“ nur wenige Tage vor dessen Beginn, dazu zeigte er Dias aus Frodls Kindheit und ließ den Medienvertreter*innen Gulaschsuppe servieren. Es komme „selten vor, daß der Inhalt eines Psycho-Agenten-Thrillers die Verantwortung eines Mordangeklagten vor Gericht vorwegnimmt“ (Red. 1993: 8), hieß es in Der Standard. Im Roman tritt der Geheimagent Fjodor Rybakow auf, der Franz Kober in Budapest in eine Wohnung lockt und ermordet. Die Leiche wird zerstückelt und in Müllsäcke verpackt. Die Protagonisten Herbert Fried und László Kotay – durchaus als Frodl und Pesti lesbar – sind in Frodls Narrativ natürlich unschuldig, ersterer nimmt aber den Mord aus Angst vor dem sowjetischen Auslandsgeheimdienst KGB auf sich (vgl. Frodl 1993).

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Aber was hat dieser Mordfall und die juristischen Folgeerscheinungen nun mit Brigitte Schwaiger zu tun? Schwaiger plante ebenfalls ein Buch, für das sich ein Wiener Verlag interessierte, der Lektor „findet manche Texte gut“ (Schwaiger an Lehner: 3.5.1996). Tatsächlich hat sich kein größerer, geschlossener Entwurf dieses Buchs erhalten, nur verschiedene kürzere Entwürfe, Vorarbeiten und Studien.

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Schwaiger war bei dem Berufungsverfahren im Oktober 1994 im Saal C des Wiener Justizpalastes selbst anwesend, bei dem Lehner eine „geharnischte Nichtigkeitsbeschwerde“ (Grotter 1994: 20) vortrug – auch hier bestand wieder großes mediales Interesse. In einem Brief an Lehner äußerte sie sich über ihr Interesse an dem Fall wie folgt:

Ich war damals in einer sehr labilen Stimmung. Nicht nur sah ich Helmut Frodl zum ersten Mal, sondern hatte mein Gefühlsleben damals wirklich, von mir distanziert nun und beinah (im Schmerz) zynisch so formuliert „Hollywood-Format“. / Ich meine, dass ich wegen Gabor Pesti, in den ich einmal sehr verliebt war, etwas erlebte damals, was in einem Film als Kitsch bezeichnet werden würde. Eine „Lovestory“, bei der eine Frau einen Mann wiedersieht, den sie kaum mehr erkennt, weil sein Gesicht verschwunden ist, und dann sitzt er noch dazu in Handschellen da und soll ein Mörder sein. (Schwaiger an Lehner 25.1.1996)
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In der Zwischenzeit waren bereits einige Bücher erschienen, u. a. mit Herbert Gnedts Lockruf nach Budapest (1993) ein Text, der den Fall aus der Sicht der Freunde des Mordopfers Köberl schildert und Textstellen aus Originaldokumenten sowie Protokollen wörtlich übernimmt. Gnedts Sachbuch liest sich eher wie ein Kriminalroman, an dessen Konventionen er sich anlehnt und der die – bereits als bekannt voraussetzbaren – Ereignisse rekonstruiert und am minutiösen Ablauf der Ereignisse interessiert ist. Der grausige Fund der einzelnen Leichenteile steht am Beginn:

Es ist Freitag, der 22. Mai 1992. Istvan untersucht gerade einen Müllcontainer in der II. Rakoczi-Ferenc-Straße in Csepel. Ein größerer Plastiksack, der mit einem braunen Klebeband verknouet [sic!] ist, interessiert ihn. [...] Als Istvan in den Sack fährt, greift er in eine andere Hand. So, wie man jemanden begrüßt. Aber die Hand im Plastiksack ist kalt. [...] Insgesamt sind es 17 Stück Mensch, die die ungarische Polizei aus den Mülltonnen in den Straßen von Csepel herausholt. Brustkorb und Schulterteile fehlen. Der grausige Fund ist ein Zufall. Er war nur möglich, weil sich die Müllabfuhr verspätet hatte. (Gnedt 1993: 8–9)
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Im Berufungsverfahren bäumten sich sowohl Lehner als auch Pestis Verteidiger „ein letztes Mal auf und beschworen die Obersten Richter in über 100 Seiten langen Nichtigkeitsbeschwerden, die Strafen herabzusetzen oder die Urteile überhaupt aufzuheben“ (Bobi 1994: 54) und begründeten ihre Forderungen mit massiven Verfahrensmängeln. Pesti, so berichtete News, habe dann auch „literarische ‚Unterstützung‘ von einer prominenten alten Freundin erhalten: Christine Schwaiger [sic!]“ (ebd.). Schwaiger war „von der Unschuld Gabors zutiefst überzeugt“ und gab im Interview mit News zu Protokoll, dass sie bereits seit einiger Zeit an einem „Roman über Pestis ‚schwieriges Leben‘ arbeiten“ würde, der klarmachen würde, „‚daß Gabor, das nie erwachsen gewordene Kind, nicht mehr als der wehr- und ahnungslose Handlanger des Mörders Frodl gewesen ist‘“ (Bobi 1994: 54).

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Auch wenn man Schwaigers literarischem Vorhaben grundsätzlich positiv gegenüberstehen kann, sind ihre „Verteidigungs-Reime“ (ebd.), die News anlässlich des Berichts über die Ereignisse vor dem Obersten Gerichtshof rund um die Berufung der Urteile abdruckte, schwer verdaulich. Denn es klaffen hier locker-naive Verse und mörderischer Inhalt auseinander, falls man nicht auch den satirischen Subtext dieser „Mörderballade“ mitliest:

[...] nach budapest mitten im mai / fuhren wiener freunde zwei / zum helmut ist köberl frech gewesen / sie werden ihm leviten lesen / statt daß er seinen zorn ergießt / der frodl helmut plötzlich schießt / köberl mit kugeln im genick / kehrt aus ungarn nicht zurück. // ... von der bluttat ganz verwirrt / ist gabor durch die stadt geirrt / will bei verwandten eine pause / die sind leider nicht zuhause / und der helmut, dieses schwein / schnitt derweil den leichnam klein / mit dem häcksler, mit der säge / ging er seine eigenen wege / sehr elektrisch und fast leise / arbeitet auf schnelle weise / und er putzte dann zusammen / die verdreckte badewanne [...]“ (Schwaiger zit. n. Bobi 1994: 54)
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Im Interview mit News verlautbarte Schwaiger auch, dass sie geneigt war, Pesti zu heiraten, wobei ihr gleichzeitig die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens bewusst war: „Das hilft ihm wohl sicher nicht.“ (Bobi 1994: 54) Während von diesem Heiratsantrag im Kurier falsch berichtet wurde – bei Schwaiger „rufen jetzt alle an und fragen, ob sie nicht ganz g’scheit sei“ (N.N.: 1994: 11) –, gab auch die Mühlviertler Rundschau ihre Meinung zu dieser Causa ab:

Sie möchte den ‚flotten‘ Gabor retten, behauptet, er sei unschuldig und legt sogar ein Gedichterl bei, das dies beweisen soll. [...] Sie würde den Pesti, der keine (P)Bestie sei, am liebsten heiraten, um ihm zu helfen, sagt die Freistädterin in ‚News‘. [...] Widerlich, daß manche Autoren aus einem der grauslichsten Mordfälle des Jahrhunderts auch noch Kleingeld und Publicity machen möchten. (Ehrgang 1994: 4)
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Ihr öffentliches Engagement rund um diese Ereignisse sollte Schwaiger noch längere Zeit verfolgen. Denn 1999 kam der Vorwurf, sie wolle durch ihre Interventionen nur selbst wieder im öffentlichen Rampenlicht stehen und sich selbst vermarkten, in einer Kolumne in Täglich Alles zur Sprache. Schwaiger reagierte und schrieb in einem Leserbrief: „Weder waren mein jahrelanges Recherchieren des Mordfalls Fritz Köberl, Budapest 1992, noch mein Interesse am Fall ‚Versicherungsbetrug Lucona‘ [...] dazu angetan, dass ich mich selbst in irgendeiner Weise vermarkten hätte können oder wollen.“ (Schwaiger an Täglich Alles 7.2.1999) Schwaigers Interesse an dem Fall, den Tätern und deren Persönlichkeitsstruktur, die sich auf ernsthafte und aufwendige Recherche stützte, kann nicht letztgültig geklärt werden. Ihr Interesse mutet auch angesichts einer Fülle von Schriftstücken, Briefen und Dokumenten bizarr an.

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Immerhin findet sich ein eigenhändig angefertigter Arbeitsbericht – der eigentlich ein „Kosten-Aufstellungs-Entwurf“ (Schwaiger 27.7.1996: 1) ist, wie eine handschriftlich angefertigte Notiz am Rand festhält –, der die wesentlichen Punkte von Schwaigers Beschäftigung mit diesem Fall zusammenfasst. Sie hielt fest, dass sie insbesondere dort „Verfahrensmängel“ (ebd.: 6) sah, wo es um den Sachverhalt ging, dass Frodl Pesti am „Mord-Tag“ mit dem Benzodiazepin Rohypnol betäubt habe (Schwaiger 27.7.1996: 5).

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Über ihre persönliche Bekanntschaft mit Pesti und Frodl hinaus, spiegelt sich in dieser emotionalen Überidentifikation vielleicht auch die eigene psychische Erkrankung. Das „Warum“ – auch angesichts ihrer Verpflichtungen als Mutter, ihrer finanziellen und privaten Schwierigkeiten, die während der 1990er Jahre einen Zenit erreichten, lässt sich auf den ersten Blick schwierig nachvollziehen. Eventuell könnte Schwaiger noch Hybristophilie – das sogenannte „Bonnie-und-Clyde-Syndrom“ – vermutet werden, denn es sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Frauen sich von Straftätern, auch Gewaltverbrechern, angezogen fühlen (vgl. Pfister 2013). Vielleicht ist der Grund ihrer Faszination und anhaltenden Beschäftigung literarischer Natur, musste sie doch mit Frodl umgehen „wie mit einer Romanfigur, die ich ertaste: kenne ihn nur schriftlich, doch ist er real und sorgt für Überraschungen“ (Schwaiger an Nochta 1996).

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Schwaiger zeigte sich über Frodls „wirklich überraschende[s] Talent“ erstaunt und sie verglich ihn gegenüber Lehner mit Jean Genet, der, so schreibt sie, auch als Mörder inhaftiert gewesen sei, „als Sartre und Zeitgenossen ihn entdeckten. [...] Helmut ist, sollte er ein Mörder sein, so doch eine Entdeckung wert: ich gebe mir diesbezüglich zwei, drei Jahre, ihn literarisch durch Lektoren-Arbeit zu fördern. Wenn Helmut gemordet hat/haben sollte, so, weil ein Teil seines Ich dies tun mußte“ (Schwaiger an Lehner, 30.7.1996).

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Bald glaubte sie nicht mehr an Pestis Unschuld, wie sie dessen Strafverteidiger schreibt. Schließlich konnte sie nicht verstehen, warum Frodl – mit dem sie im brieflichen Austausch stand – noch immer glaube, dass „alles nicht wahr ist“ und „seine Tat verdrängt“ (Schwaiger an News 1995). Auch die Aussicht mit diesem Fall oder einem Buch über den Mord und seine Hintergründe Geld zu verdienen, war schnell vom Tisch, denn „[o]b und wann ein Verlag meine Arbeit als Buch bringen wird, kann ich nicht bestimmen“ und die „meisten Verleger“ (Schwaiger an Jancsi: 1996) würden es ablehnen, schreibt Schwaiger an eine Bekannte. Auch der Theaterverlag Sessler wollte ihr auf ihre Entwürfe keinen Vorschuss zahlen. Aus der Zeit stammt ein Hörspiel betitelt Der Prozess Hänsel und Gretel, das 1995 entstand und auf Ö1 in der Reihe Literatur am Sonntag im März 1997 ausgestrahlt wurde. Dieses Hörspiel, bei dem Heide Stockinger Regie führte, ist eine Paraphrase des bekannten Grimm’schen Märchens, das sich in einen Mordfall verwandelt, denn die Geschwister haben die alte Frau auf heimtückische Weise ermordet und müssen sich nun vor Gericht verantworten. Das Hörspiel beginnt mit der Verlesung der Anklage nach Paragraphen 75 StGB durch den Staatsanwalt. Die Geschwister hätten

in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken nach vorausgegangener gemeinsamer Planung in allen Details vorgehabt, eine betagte Dame, die in einem kleinen Haus in einem Wald lebte, zuerst zu betrügen, indem sie vortäuschten, bei ihr arbeiten zu wollen, bei ihr gelebt, sie ausgenutzt und beschlossen, einen günstigen Moment abzuwarten, in dem sie sie töten und zugleich, ohne Spuren zu hinterlassen, beseitigen konnten. Dazu bedienten sie sich eines Backofens, den sie heimtückischer Weise von der alten Frau selbst anheizen ließen. (Schwaiger 1997)2
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Während eines Aufenthalts in Spanien im November 1993 malte sie darüber hinaus die Bilder Ein Gerichtsurteil und Eine Verhandlung und versuchte auch mittels eines „grossen Bildertreatments“ (Schwaiger an Jancsi 1996), also eines sogenannten Storyboards, wie diese in frühen Phasen des Filmemachens üblich sind, den ungarischen Produzenten und Regisseur György Gát auf dieses Projekt aufmerksam zu machen, allerdings ohne damit Erfolg zu haben. Wie intensiv sie sich mit dem Thema befasste, obwohl sie damit literarisch nicht reüssieren konnte und allerorts nur auf Ablehnung stieß, zeigte sich noch Jahre später. Hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit Frodls war sich Schwaiger nicht sicher, ob dieser überhaupt psychisch krank sei, denn ihrer Meinung nach, konnte er „ja eine Bestialität ausgelebt haben, von der niemand etwas weiss und wusste“. Er habe „Köberls Leichnam nicht ‚zerfleischt‘, nicht ‚gemetzelt‘“, schreibt sie in einem Brief an Lehner, „sondern er hat kühl mit elektrischer Säge ein ‚Werk‘ vollbracht: das ist meiner Meinung nach krank und ein Beweis für Krankheit“ (Schwaiger an Lehner 7.5.1996). Wie sie an Nikolaus Lehner schreibt, gab es

so merkwürdige Parallelen zwischen Helmut Frodl und mir. Nicht nur glaube ich, dass ich im Jahr 1976 einmal bei Fritz Köberl, Helmut Frodl und anderen in einem Studio war [...]. [...] Dort war Helmut Frodl, noch sehr jung, sehr lieb und lustig. Ich habe an Fritz Köberl die Erinnerung, dass er ein wenig hämisch war oder spöttisch, nicht zu durchschauen, für mich, und dass er langes Haar hatte, damals, [...] aber dann das Eis brach durch Helmut Frodl, der alles auf die leichte Tour, sehr lustig, lieb machte, sich benahm wie ein männliches Elfenwesen eigentlich aus einem Theaterstück von Shakespeare [...]. (Schwaiger an Lehner: 25.1.1996)
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Im August 2001 besuchte sie Frodl noch einmal im Gefängnis – der letzte Besuch war im Herbst 1996 erfolgt – und schrieb in einem Brief, von dem nicht sicher ist, ob sie ihn abgeschickt hat, dass sie nach allem

was ich in den letzten Wochen mit Helmut an Informationen ausgetauscht habe, die ich vorher aus seinem und die er aus meinem Leben nicht wusste, glaube ich, dass es eine Parallele gibt in Helmuts und meinem Leben. Und zwar, dass sowohl sein wie mein Lebensweg von manipulativ herbeigefuehrten Schicksalsschlaegen begleitet war. (Schwaiger an Lehner: 20.8.2001)
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Obwohl sich kein vollendetes literarisches Projekt an Schwaigers intensive Recherchen zum Mord an Fritz Köberl anschließt, erzählen die in ihrem Nachlass erhalten gebliebenen Dokumente von ihrer Faszinationsgeschichte mörderischer Männlichkeit. „Meine literarische Arbeit“, so merkt sie in einem Brief an, „ist nicht[,] wenn ich viele Seiten schreibe“, vielmehr, so erklärt sie, ging es ihr darum, in „Gedankenräume“ vorzudringen und bezeichnet dies als „Gedankenversuche“ (Schwaiger an Jancsi 1996).

Literaturverzeichnis

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  • Schwaiger, Brigitte (1996): Ein langer Urlaub. Roman. München: Langen Müller.
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  • Schwaiger, Brigitte (o. D.): Autobiografische Notizen und Aufzeichnungen, 43 Bl. Literaturhaus Wien / Archiv, Sign.: H1:Schwaiger,B. unpag.
  • Strigl, Daniela (2007): Brigitte Schwaiger: „Wie kommt das Salz ins Meer“ (1977). Rückblick auf ein „Fräuleinwunder“ – cum grano salis. In: Klaus Kastberger/Kurt Neumann (Hrsg.): Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. 1. Lieferung. Wien: Zsolnay, S. 249-258.

Anmerkungen

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Profil berichtete ausführlich über diesen Zwischenfall beim Prozess: „Franz Fuchs lächelte, als er die Frau im Prozeßpublikum sah. Und einen Augenblick lang schien es, der mutmaßliche Bombenbauer habe die Schriftstellerin Brigitte Schwaiger (Wie kommt das Salz ins Meer?), die aus dem Publikum seinen Namen rief, tatsächlich wiedererkannt. Doch dann holte Fuchs wieder tief Luft und hob an, seine Parolen weiter zu brüllen, als wäre nichts geschehen. Sie habe ihn 1986 durch ihren damaligen Mann kennengelernt, behauptet Schwaiger. Der mutmaßliche Attentäter sei zu Besuch in ihrer Wiener Wohnung gewesen, habe sich als ‚Franz Fuchs aus Gralla‘ vorgestellt und einen sympathischen Eindruck gemacht. Fuchs habe damals mit der linkssozialistischen ‚Kooperative Longo Mai‘, der sie und ihr Ex-Mann angehörten, sympathisiert. Schwaigers Ex-Ehemann Michael G. bestreitet gegenüber profil, Fuchs jemals gekannt zu haben, und führt die Aussage der Schriftstellerin auf einen Rosenkrieg um das Sorgerecht für das gemeinsame Kind zurück. Und auch der mutmaßliche Attentäter selbst tat die Begegnung mit Schwaiger vergangenen Freitag zumindest gegenüber seinem Verteidiger ab: ‚Da ist nichts dran.‘ Überdies hat die Schriftstellerin bereits bei mehreren Großprozessen auf sich aufmerksam gemacht. Sollte Schwaigers Behauptung allerdings stimmen, wäre sie höchst brisant. Denn gegen Mitglieder von ‚Longo Mai‘ liefen eine Zeitlang auch Ermittlungen der Briefbomben-Fahnder im Zusammenhang mit Oberwart. Der Verdacht ließ sich allerdings nicht erhärten.“ (Red 1999: 45) Transkription durch den Verfasser.

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Transkription durch den Verfasser.

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Stefan Maurer

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