Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Julia Lückl

True-Crime, das ‚authentische Verbrechen‘ und seine (kommerzielle) Inszenierung

Zu Ferdinand von Schirachs Erzählband Verbrechen (2009) und seinen US-amerikanischen Vorbildern

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Wiener Digitale Revue 5 (2024)

www.univie.ac.at/wdr

Abstract

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„Nichts als die Wahrheit“: Unter diesem Motto werden in populärkulturellen True-Crime-Erzählungen ,authentische‘ Verbrechen inszeniert und vermarktet. Der vorliegende Beitrag untersucht und systematisiert diese Inszenierungsstrategien ausgehend von den Anfängen des True-Crime-Genres in der US-amerikanischen Zeitschrift True Detective (seit 1924) und analysiert, wie Ferdinand von Schirach einschlägige Erzählstrategien und Genrecharakteristika in seinem populären Erzählband Verbrechen (2009) aufgreift und weiterführt. Im Fokus steht dabei die Frage, wie Schirach Authentizität-Effekte erzählerisch hervorbringt und welche Rolle dies für die Vermarktung seiner Texte spielt.

“Nothing but the truth”: In true crime narratives ‘authentic’ crimes are staged and marketed under this slogan. Starting from the beginnings of true crime in the US magazine True Detective (since 1924), this article examines and systematizes the narrative strategies of staged authenticity within this genre. Based on this, it analyses how Ferdinand von Schirach continues and transforms such narrative strategies and genre characteristics in his popular short story collection Verbrechen (2009) and what role this plays for the marketing of his texts.

Volltext

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1. Einleitend. Mord ,authentisch‘ erzählen – (k)eine neue Faszination?

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Das Zeitalter des „Postfaktischen“ (Zoglauer 2021), gezeichnet von einer „Wahrheitskrise“ (Ferraris 2014: 18) und florierenden ,alternative facts‘: In aktuellen Kulturanalysen wird Schlagworten wie diesen gut und gerne gegenwartsdiagnostischer Wert zugeschrieben. Jüngste technische Entwicklungen, durch die Fakt und Fake immer weniger distinguierbar sind, und insbesondere die mediale Inszenierung dieser Veränderungen scheinen kollektive Ängste „vor der Totalimplosion realer Bezüge“ (Pörksen 2021: 23) zu schüren. Dabei gelangt ein alter Begriff zu neuem Ruhm: Das 20. und beginnende 21. Jahrhundert wird als „age of authenticity“ (Ferrara 2002: 5) bezeichnet; Authentizität zum „übergreifende[n] Leitkonzept“ (Weixler 2012: 2) und zentralen „Sehnsuchtsbegriff der Gegenwart“ (Schilling 2020: 10) stilisiert.

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Vor diesem Hintergrund erscheinen nun gegenwärtige Entwicklungslinien des Krimigenres aus literaturanthropologischer Perspektive überaus interessant: Insbesondere in Erzählbänden und seriellen Fernsehformaten (re-)etablierte sich in den letzten Jahrzehnten neben der klassischen und bis heute populären Detektivgeschichte eine Spielart der Kriminalliteratur, die das ,Echte‘, ,Wahre‘ und ,Faktische‘ des Dargestellten emphatisch betont und kommerziell vermarktet. Die Rede ist von sogenannten True-Crime-Stories, d.h. Fallgeschichten, die sich auf reale Verbrechen beziehen, insbesondere perfide, aufsehenerregende Taten aufgreifen und – dies ist im Kontext der Criminal Minds besonders interessant – auf die Geschichte der Täter*innen und den Tathergang fokussieren. Es handelt sich dabei um Formate, die sich aus ästhetischer Perspektive durch ein oxymorisches Verhältnis von Authentizität und Inszenierung charakterisieren lassen, wie im Rahmen dieses Beitrags gezeigt werden soll: Es sind Formate, die Authentizität inszenieren und gerade in diesem Wechselspiel aus (scheinbarer) Faktizität und der Emphase des Wahren zu einem Phänomen der Populärkultur wurden, das auch marktwirtschaftlich überaus erfolgreich ist. Nicht das Faktum alleine steht im Zentrum dieses Genres, sondern vielmehr der inszenierte Fakt.

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Man ist nun versucht, das gegenwärtige Florieren dieses Genres als Reaktion auf das kollektive „desire for authenticity“ (Plettenberg 2021: 131) im „postfaktischen Zeitalter“ (Zoglauer 2021) zu verstehen. Doch um diese These nicht in den ,luftleeren‘ Raum zu stellen, darf nicht übersehen werden, dass die Emphase des Wahren im Kontext von Verbrechenserzählungen und die damit einhergehende Faszination zwar als „sign of the times“ gelten darf, aber: „it has certainly been a sign of the times for eras gone by, too“ (Barnes 2023: 9). Bis ins 16. Jahrhundert lassen sich demnach literarische Gestaltungen ,wahrer‘ Verbrechen zurückverfolgen – wobei diese vormodernen Texte, die als Pamphlete bereits große Teile der Bevölkerung erreichten (vgl. Wiltenburg 2004: 1381f.), freilich völlig anderen (medialen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen) Prämissen unterlagen als gegenwärtige Erzählungen über den „authentische[n] Mord“ (Plettenberg 2021: 131). Waren einschlägige neuzeitliche Pamphlete noch in ein religiöses Kommunikationssystem eingebettet und die Inszenierung ,wahrer‘ Verbrechen – etwa bei Burkard Waldis, dessen Texte zum Teil zu Kirchenliedern vertont wurden (vgl. Wiltenburg 2004: 1384) – Teil einer christlichen Didaxe, die ihre Rezipient*innen durch Fallgeschichten (,casus‘) vor dem Sündenfall (,lapsus‘) warnen und bewahren sollte, ändert sich die kulturelle Funktion als wahr inszenierter Fallgeschichten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder. Im 18. Jahrhundert wurden sie etwa Teil aufklärerischer Erziehungsprogrammatik (bspw. mit Friedrich Schillers Verbrecher aus Infamie, 1786) und Justizkritik (z.B. in Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas, 1808/1810). Was jedoch konstant blieb, ist die Form der Fallgeschichte und der Fokus auf die Täter*innen, ihre Motive für die Tat und deren Folgen. Und stets waren einschlägige Texte Objekte populärkultureller Faszination, wie sich anhand von Leserbriefen, Druckzahlen, Vor- und Nachworten oder poetischen Reflexionen nachverfolgen lässt. Überblickt man diese hier freilich nur stichwortartig aufgerufenen Entwicklungslinien, wird deutlich, dass der gegenwärtige Boom für True-Crime-Erzählungen in gewisser Weise als Wiederauflage eines Klassikers zu verstehen ist: Erzählungen über das ,wahre‘ Verbrechen sind eine Art „pop culture phoenix“ (Schmid 2010: 198), der in immer neuen Formen zu immer neuer Popularität gelangt. So spricht Alexander Košenina gar von einer „anthropologische[n] Konstante“ (2016: 56).

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Davon ausgehend würde ein genauerer Blick auf diese kollektive Faszination in die Gegenwart lohnen: Worin liegt nun das Spezifische des heute boomenden populärkulturellen Interesses am ,authentischen Mord‘, das sich in dem wachsenden transmedialen Angebot einschlägiger Geschichten – in Podcasts, Filmen, Serien, Zeitschriften und Texten – ausdrückt? Und welche Rolle spielt dabei die Inszenierung von Authentizität? Um dieses Phänomen entsprechend zu untersuchen, bräuchte es freilich mehr als einen einzelnen Artikel; mein Beitrag versteht sich demnach lediglich als Annäherung an diese kollektive Faszination – und zwar anhand einer Fallanalyse bzw., dieses Wortspiel sei erlaubt, Fallgeschichte: Im Fokus steht der gegenwärtig im deutschsprachigen Raum wohl erfolgreichste und bekannteste Autor dieses Genres, der „Dichterjurist“1 Ferdinand von Schirach und seine unter dem Titel Verbrechen (2009) publizierten Fallgeschichten, die im Paratext als „Stories“ benannt werden. Bereits diese Gattungsbezeichnung lässt sich als Hinweis auf jenen ,Kult‘ lesen, an dem Schirach mit seinen Erzählungen partizipiert: Nicht Friedrich Schiller oder Heinrich von Kleist, wie in bisherigen Analysen seiner Arbeiten – sehr zum Missfallen einiger Literaturwissenschaftler*innen (z.B. Künzel 2016) – immer wieder betont wurde (z.B. Bauer 2014, Neumann 2012), sind die Vorbilder, an denen sich seine Verbrechenserzählungen ästhetisch orientieren, sondern vielmehr die Stories des True-Crime-Genres, die sich ausgehend von der amerikanischen Populärkultur des 20. Jahrhunderts auch in den deutschsprachigen Raum ausgebreitet haben und eine neue Form der Inszenierung (und Kommerzialisierung) des ,authentischen‘ Mordes etablierten. Schirach partizipiert damit an einer kollektiven Faszination, deren Wurzeln ich im ersten Teil des Beitrags anhand eines (freilich kurzen) Streifzugs durch die Popularisierung des True-Crime-Genres im 20. Jahrhundert näher betrachten möchte, um zunächst dessen Verhältnis zwischen Inszenierung und Kommerzialisierung auszuloten. Dabei geht es nicht um eine ästhetische Wertung dieses Genres, das qua seiner „obvious commercial aims“ und seiner Popularität immer wieder als „culturally insignificant“ (Wiltenburg 2004: 1378) abgetan wurde, sondern vielmehr um den Versuch, seine Popularität und die Rolle, die die Vermarktung von Authentizität dabei spielt, zu beleuchten, um davon ausgehend Schirachs Texte neu einzuordnen und nach ihren ,Vermarktungsstrategien‘ zu befragen.

2. Einmal über den ,großen See‘. Die Ursprünge des True-Crime-Kults oder Wie das ,wahre‘ Verbrechen (nicht nur) die amerikanische Populärkultur erobert

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In den 1930er Jahren trifft der amerikanische Publizist Bernarr Macfadden eine folgenreiche Entscheidung: Um sein auf Mystery Fiction spezialisiertes Magazin True Detective, das bereits seit 1924 erscheint, für ein größeres Publikum attraktiv zu machen, beginnt er nach und nach die fiktionalen Detektivgeschichten durch „non-fiction pieces“ (Schmid 2010: 199) zu ersetzen. Erzählungen über reale Verbrechen werden zu den Titelgeschichten, die man auf dem Cover in farbigen, zumeist aber auf die Opfer fokussierenden Close-up-Zeichnungen anteasert und als „true crime stories“ bzw., wie es später im Untertitel des Magazins heißen wird, als „Authentic Stories“ in Szene setzt. Das Magazin wandelt sich in kürzester Zeit zum Verkaufsschlager; in Spitzenmonaten werden bis zu zwei Millionen Exemplare vertrieben (vgl. Murley 2008: 26).

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Das True Detective Magazine ist damit das erste jenes Genres, das heute unter dem Schlagwort ,True Crime‘ firmiert2 – ein Genre, dessen Definition nach wie vor strittig ist. Als Minimalkonsens gilt bisher (wie auch bereits die Gattungsbezeichnung nahelegt) lediglich, dass es Erzählungen umfasst, die als ,wahr‘ inszenierte Verbrechen ins Zentrum rücken und von ihren Leser*innen auch als ,wahr‘ rezipiert werden. Folgt man einschlägigen Theoretiker*innen, ist der kleinste gemeinsame Nenner also in dem zu finden, was Antonius Weixler als Objekt-Authentizität bezeichnet: die Referenz des Erzählten auf eine außerfiktionale, „subjektiv wahrgenommene[] ,Wirklichkeit‘“ (2012: 13). Aber: Es würde freilich zu kurz greifen, Authentizität – vor allem im Kontext des True Crime – lediglich auf den Begriff der Wirklichkeitsnähe zu reduzieren, wie sich zeigen lässt, wenn man einen genaueren Blick auf die Anfänge dieses Genres wirft und dabei näher betrachtet, was hier eigentlich unter „authentic“ – wie es der Untertitel des True Detective heißt – verstanden wird:

,Mother! Mother!‘ came the terrified, insistent cry of beautiful 8-year-old Matilda Russo – although the horror-stricken mother knew that her missing child was dead! What possible clue could there be in those two words? Yet – they led the detectives straight into the heart of that black mystery! They solved the most horrible crime the State of New Jersey has ever known! (TDM 12/1928: 19)
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Durch Leadtexte wie diesen werden einschlägige Beiträge eingeleitet; eine Szene kurz umrissen, mystifiziert und sensationalisiert, immer mit dem obligatorischen Cliffhanger am Ende. Das Verbrechen wird hier nicht berichtet, es wird erzählt – und dabei werden stets die perfidesten, blutigsten und abstrusesten Taten in den Mittelpunkt gerückt: ein Mann, der im Laufe seines Lebens 22 seiner insgesamt 35 Ehefrauen ermordet (Why I Killed My 22 Wives, TDM 06/1926: 40–47); ein grausamer Mörder mit einem Fetisch für Babys, um die er sich liebevoll kümmert (Against Fearful Odds, TDM 12/1928: 54–56); oder, wie in der zitierten Textpassage, ein Kindesmord, dessen Opfer die Hinterbliebenen heimsucht (The Cry from the Grave, ebd.: 18–22). Nicht der ,einfache‘ Verbrecher rückt dabei ins Zentrum, sondern der zum Monster und Devianten, zum Abstrusen und zugleich zum Faszinosum stilisierte Mensch; eine „twisted soul“ (ebd.: 55), die manchmal gar selbst – in Form einer öffentlichen confession – die Motivation für ihre Grausamkeiten schildert. So lassen sich einschlägige Magazine auch als Inventarisierung des Perfiden, Mörderischen und Abgründigen lesen, das hier allerdings (noch) nicht medizinisch erfasst und seziert, sondern vielmehr zum Objekt kollektiver Faszination wird; zugleich aber auch zum Glied in einer Kette aus Präzedenzfällen, die allesamt für die Effektivität des amerikanischen Polizei- und Justizapparats, der am Ende stets über das Criminal Mind siegt, bürgen.

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Das Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Fiktion, Authentizität und Inszenierung bildet dabei den Kern dieses Genres. So sind einschlägige Texte zunächst von einer (auf heutige Leser*innen wohl übertrieben anmutenden) Rhetorik der Wahrheitsemphase bestimmt: Immer wieder werden sie als „fact stor[ies]“ (ebd.: 54) bezeichnet, als „true“, „real“ und „unfiltered“, und sollen damit einen unverstellten Blick auf das Deviante ermöglichen.3 Die im Leadtext angeteaserten Taten und ihre Umstände werden dabei ausführlich und mit Liebe zum Detail geschildert – allerdings nicht im Stil eines journalistischen Tatsachenberichts, sondern vielmehr unter Reproduktion narrativer Muster. „Moorestown, New Jersey, is a quiet, beautiful Quaker settlement, much the same as thousands of other small American communities“ (ebd.: 18), heißt es etwa zu Beginn des Beitrags The Cry from the Grave. Konkret verortet und zunächst als prototypische idyllische Kleinstadt inszeniert, bricht die proleptisch vorweggenommene Gewalttat die Idylle; der Ort wird zum Schauplatz eines „case of killing perpetrated by a man, who was, beyond all doubt the most fiendish and cunning arch-criminal“ (ebd.). Einleitungen wie diese können – ähnlich wie bei Märchen – als formelhaftes Inventar von True-Crime-Erzählungen gelten. Immer wieder findet man präzise Orts- und Zeitangaben, die wie eine Reminiszenz an das Zeitungsformat wirken, das diese Hefte bisweilen imitieren, und dadurch zugleich, mit Roland Barthes (1982 [1968]) gesprochen, einen effet de reél, also einen Wirklichkeitseffekt, hervorbringen.

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Dem entgegen steht freilich der rhetorische Gestus der Hyperbel, wie er bereits in der oben zitierten Textpassage angeklungen ist: Die Verbrechen werden stets wortreich in Superlativen geschildert; jedes einzelne von ihnen ist „the most sensational in the history of the city“ (TDM 12/1928: 12). Und auch über diese Rhetorik hinaus fallen zahlreiche Mittel der Fiktionalisierung auf: Täter*innen und Opfer kommen in direkten Reden zu Wort, ebenso wie die Ermittler*innen selbst. Die Beiträge sind in Abschnitte – markiert durch Absatzstrukturen – gegliedert, die gekonnt mit Cliffhangern arbeiten; und immer wieder finden sich Motive, die bereits aus der Gothic Novel bekannt sind: die Entdeckung von unbekannten Familienbanden, unverständliche Schriften (die auch als Fotos abgedruckt werden, z.B. ebd.: 19), nächtliche Landschaften (die in ihrer Darstellung vielfach an die zeitgenössische noir-Ästhetik erinnern) und v.a. zunächst unerklärliche Begebenheiten, die schon in den Titeln angeteasert werden (wie etwa auch in der oben zitierten Erzählung „The Cry from the Grave“). Stets wird dabei betont, dass hier, in diesem Magazin, der erste Blick „behind the scenes“ (TDM 01/1930: 10) möglich werde – ein Blick hinter die Kulissen einerseits der Polizeiarbeit, andererseits aber, vor allem in späteren Ausgaben, auch in die Psyche der Täter. Der reißerische Stil tat dem Anspruch, den Leser*innen „Authentic Stories“ zu präsentieren, dabei keinen Abbruch; Authentizität wurde vielmehr durch Paratexte und insbesondere die Inszenierung der Autor*innen der Beiträge verbürgt:

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„You Write – We’ll Pay! If you are a newspaperman or a policeman you must have dozens of good, punchy cases in your locker. Why not send them to us?“, so ist etwa auf der Rückseite der Dezemberausgabe des Real Detective aus dem Jahr 1940 zu lesen (Real Detective [12/1940]: 82). Von Anfang an erhielten True-Crime-Magazine ihre Geschichten nicht durch eigene Recherchen, sondern durch interessierte Leser*innen mit dem notwendigen beruflichen Hintergrund, die diese einsandten. Gedruckt wurden aber freilich nicht die auf diese Weise akquirierten Berichte, sondern vielmehr von professionellen Autor*innen überarbeitete Fassungen, wie in den Heften auch offengelegt wurde: „By Ellis H. Parker, Chief of Detectives, Burlington County, N. J., as told to Alan Hynd“, lautet etwa die Autorschaftsattribuierung zu The Cry from the Grave – eine Formel, wie sie in der Regel bei allen Beiträgen in diesen Heften zu finden ist. Neben Fotos der Ermittler*innen und Gewährspersonen wurden teils auch deren Lebensläufe doppelseitig abgedruckt und den True-Crime-,Berichten‘ vorangestellt. Die so inszenierte Zusammenarbeit mit der Polizei garantierte Authentizität durch Autorität und ermöglichte auch den Zugang zu authentischem Material, das in den Beiträgen abgedruckt werden konnte: Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen Täter*innen, Opfer und Zeug*innen, die Tatorte ebenso wie Tatwaffen und andere einschlägige Objekte – manchmal selbst Fotografien der Leichen aus den offiziellen Ermittlungsakten, d.h. ungestelltes, ,echtes‘ Material, das den Beiträgen die erhoffte und vom Publikum erwartete „aura of reality“ (Browder 2010: 125) verleihen sollte. In einigen Fällen wurden dabei selbst Bilder von Autopsien gezeigt, der tote (meist weibliche) Körper also ins Zentrum sensationalistischer Zugriffe gerückt.

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All dies waren zentrale Bestandteile von Mcfaddens Agenda, „Wahrheit“ zu vermitteln: „[H]e wanted to show the truth of human behavior, good and bad, noble and corrupt, beautiful and ugly – and he discovered that great numbers of people wanted to read about the truth as he found it“ (2008: 23), so Jean Murley über Macfaddens „Wahrheitsanspruch“, der freilich Teil einer ausgeklügelten Vermarktungsstrategie war – ebenso wie die häufige Betonung, seine Magazine seien „dedicated to presenting the truth – to stripping away all pretensions, artifices, and hypocracies [sic]“ (ebd.: 22).

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Im krassen Gegensatz zu dieser Stilisierung steht – wie bereits ausschnitthaft gezeigt – die eigentliche Gestaltung dieser Hefte und der darin erscheinenden True-Crime-,Berichte‘, die weniger eine realitätsnahe Zusammenschau zeitgenössischer Kriminalfälle liefern, als vielmehr ein bestimmtes Bild von ,realen‘ Verbrechen konstituieren und reproduzieren: Die Opfer in diesen vermeintlichen Berichten sind – wie im heutigen True-Crime-Genre im Allgemeinen – meist Frauen, die zugleich auch für die Covergestaltung einschlägiger Zeitschriften herhalten. Schreckensgeweitete Augen, die Hände schützend vor den Körper gehalten, ein Angstschrei auf manchen Illustrationen durch mit Blut verschmierten Knebel zum Schweigen gebracht – illustratorisch eingefangen werden stets die imaginierten letzten Augenblicke der Opfer, also eine Art visueller Cliffhanger. Wer wissen möchte, welche Geschichte dahintersteckt, muss das Heft kaufen und kann diese letzten Momente vor der Tat und danach en détail in der Lektüre mitverfolgen. Dass es sich bei den Opfern in erster Linie um weiße Frauen handelt, hat freilich mit der Adressatenorientierung der Magazine an einer „white working-class readership“ (ebd.: 16) zu tun: In einer von strukturellem Rassismus geprägten und patriarchal organisierten Gesellschaft handelt es sich dabei wohl um jene gesellschaftliche Gruppe, deren Tod das größte emotionale Schockpotenzial hervorzurufen vermag – und sich zudem entsprechend ästhetisieren lässt.4 Dagegen scheinen – so der Eindruck bei der Lektüre dieser Magazine – in erster Linie weiße Männer über die notwendige moralische Fallhöhe zu verfügen, um als Täter zu fungieren. Nicht die ,reale‘ Situation zeitgenössischer Kriminalfälle wird – auch wenn die Magazine dies emphatisch betonen – hier repräsentiert,5 sondern vielmehr eine bestimmte Ikonografie des (amerikanischen) Verbrechens (samt gender und racial bias) inszeniert, die einschlägige Kriminalserien bis heute reproduzieren. Der ,authentische Mord‘ ist der Mord eines weißen Mannes an einer weißen, wehrlosen Frau (und/oder ihren Kindern).6

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Zu dieser neuen Inszenierung des ,authentischen‘ Mordes zählt nun auch eine neue Form des Criminal Mind, in dem zeitgenössische pathopsychologische Diskurse und fiktionale Erzählmuster aufeinandertreffen:

A person who appears to be physically and mentally normal but who is emotionally sick, possesses what the psychiatrists term a psychopathic personality [...]. Court records disclose that a large number of sex crimes are committed by this type of psychopath. He has gentle manners and an engaging smile. Often young women learn to their sorrow, when they are alone with him in his car along a lonely road, that he is a beast in human form. (TDM 06/1940: 73, Herv. J.L.)
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So beschreibt Sid McMath im True Detective jene Täterfigur, die in den Medien des True Crime eine steile Karriere machen wird: den Psychopathen, der sich durch seine „gentle manners“ auszeichnet, sein wahres Gesicht aber immer wieder in Form monströser Verbrechen zeigt. Für Leser*innen der Gothic Horror Literatur wird dieser Figurentypus alles andere als neu gewesen sein – man denke etwa an Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) –, aber als ,reale‘ oder, präziser, im True-Crime-Genre populär gemachte Täterfigur war der Psychopath in den 1930er und 1940er Jahren eine noch weitgehend unbekannte Figur (vgl. Murley 2008: 37), weshalb er den Leser*innen wie in der zitierten Textpassage wohl auch explizit erklärt wird.

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,Wahrheit‘, das lässt sich anhand dieses Typus der Criminal Minds zeigen, wird im True-Crime-Genre nun nicht nur (im Sinne eines vereinfachten ,Abbildungsrealismus‘) reklamiert, sondern vielmehr schafft es durch bestimmte Inszenierungen und die Hervorbringung von Typenfiguren auch selbst Wirklichkeit. So findet der Psychopath, das „beast“ mit seiner „mask of sanity“, den Weg nicht deshalb in die True-Crime-Magazine, da er plötzlich in der realen US-amerikanischen Kriminellenszene auftaucht, sondern dieser Tätertypus wird – so zumindest meine These – vielmehr erst im True-Crime-Genre (wohl durch dessen vielfache Bezüge zur Gothic Novel) entwickelt und davon ausgehend zu einem populärkulturellen Phänomen, das auch in zeitgenössische kriminologische und psychopathologische Diskurse Einzug findet. Als wohl wichtigster Beitrag darf dabei Hervey M. Cleckleys The Mask of Sanity: An Attempt to Clarify Some Issues About the So-Called Psychopathic Personality (1941) gelten – eine Kombination aus psychologischer Theorie und Fallstudien, die Täterbeschreibungen, wie sie in einschlägigen True-Crime-Erzählungen vorkommen, aufgreift und die Mörder pathologisiert. Es ist die diskursive ,Geburt‘ des Psychopathen – einer Figur, die in weiterer Folge auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Verbrechen und Tätern prägt, die wiederum als Protagonisten zurück in True-Crime-Erzählungen finden. So etwa in die überaus populären Artikel über Ed Geins Taten in Wisconsin (Mord und Leichenschändung), die später als ,Material‘ für Alfred Hitchcocks berühmten Film Psycho (1960) dienten, und in jene Beiträge über den Mord an der Clutter-Familie in Kansas (1959), der durch Truman Capotes In Cold Blood (1966) bekannt wurde.

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Der prototypische Täter des ,authentischen‘ Mordes im True Crime ist also ein pathologischer Fall, vor dem sich die Leser*innen gruseln und fürchten sollen. Mord ,authentisch‘ zu erzählen, heißt hier auch, ihn zu sensationalisieren und seine Rezeption damit zu einem emotionalen Erlebnis, zum thrill, zu machen: Das Perfide und Deviante wird minutiös erfasst und kann so zum Objekt der Begierde und Faszination der Leser*innen werden. Am Ende steht dabei stets ein „Happy End“, also die Bestrafung des Täters, der durch die amerikanischen Behörden bezwungen wird. Bei diesen Narrativen geht es jedoch nicht um eine Art Generalprävention, die die Leser*innen einschüchtern und vor eigenen Straftaten abhalten soll; vielmehr stellen diese Beiträge das Deviante aus, weisen ihm, indem nicht der ,normale Bürger‘, sondern ein abnormes beast zum Täter wird, einen Platz außerhalb der Gesellschaft (und damit auch außerhalb der Leser*innenschaft) zu. Der didaktische Anspruch als wahr inszenierter Verbrechenserzählungen, wie er in Bezug auf deutschsprachige, aber auch angloamerikanische Erzählungen in den Jahrhunderten zuvor prägend war, findet hier also sein Ende. In den True Crime Magazinen (aber auch in späteren Büchern, Filmen, Serien und Podcasts) geht es darum, „public’s appetite“ (Murley 2008: 42) zu stillen, nicht wie in früheren Erzählungen über ,wahre‘ Verbrechen ein – religiöses oder aufklärerisches – Erziehungsprogramm zu verfolgen. Der ,wahre‘ Fall und das in ihm inszenierte Criminal Mind erhalten also eine neue Funktion – und der Voyeurismus kommt dabei nicht zu kurz.

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Es ist der Beginn eines Kults, der sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg auch im deutschsprachigen Raum verbreitet und zunehmend zu einem kommerziellen Produkt wird: In den 1970ern und insbesondere den 1980ern entwickelt sich True Crime zu einer umfangreichen „consumer-driven publishing industry category, garnering huge profits for mass-market paperback publishing houses that have continued to grow“ (Murley 2008: 4). Die Überführung dieser Faszination vom Magazin zum gedruckten, teils hunderte Seiten langen Buch ist medial bedingt durch die ab den 1970ern bessere Verfügbarkeit billig produzierter Taschenbücher. Den Ausgangspunkt bildet dabei Truman Capotes bereits erwähnte Publikation In Cold Blood – ein „non-fiction novel“, wie Capote seinen Text selbst bezeichnete und dabei schon im Untertitel („A True Account of a Multiple Murder and its Consequences“), im Vorwort7 sowie zahlreichen Interviews seinen Wahrheitsanspruch inszenierte: „I got this idea of doing a really serious big work – it would be precisely like a novel, with a single difference: every word of it would be true from beginning to end.“ (Capote in Levine 1966: 4) Es sind Gesten der Authentifizierung wie diese, die das True-Crime-Genre prägen: Der Autor bürgt für die Authentizität des Erzählten, indem er seine Quellen ausweist und durch unterschiedliche Paratexte eine Art „Authentizitäts-Pakt“ (Weixler 2012: 3) mit den Leser*innen schließt. Das Novum von Capotes non-fiction novel war dabei, dass er sich auf eine besondere Form der Quelle berufen konnte – die Criminal Minds selbst. So waren seine primären Informanten die Täter Richard Hickhock und Perry Smith, die wenige Wochen nach dem von ihnen begangenen Vierfach-Mord an einer Familie in Kansas (dem sogenannten Clutter-Mord) verhaftet, später verurteilt und hingerichtet wurden – all dies begleitet von zahlreichen Interviews mit Capote. In Cold Blood erzählt ihre Geschichte, fühlt sich in die Täter ein und folgt ihnen von der (minutiös geschilderten) Tat bis zu ihrer Exekution – fingierte, als ,real‘ inszenierte biografische Dokumente (z.B. Briefe, Aufzeichnungen der Täter, Berichte aus den Ermittlungsakten), die wie auch die Gattungsbezeichnung als non-fiction novel Authentizität beglaubigen sollen, inklusive.8 Die Erzählung weicht aber freilich in einigen Aspekten von dem ,realen‘ Tathergang, wie er in den Polizeiakten dokumentiert ist, ab (vgl. dazu Barnes 2023). So entsteht durch diese und die zahlreichen folgenden True-Crime-Erzählungen eine Art Urban Legend dieser Taten, die in den unterschiedlichsten Medien wieder- und weitererzählt wurde – als Zeitschriftenartikel, Buch, Film, später in True-Crime-Podcasts, die das Genre bis heute prägen.

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Die zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem Kansas-Mord sind ein anschauliches Beispiel dafür, dass True Crime mittlerweile zu einem transmedialen und vor allem transnationalen Phänomen geworden ist, das in seiner von der amerikanischen Populärkultur inspirierten Form als kommerzielles Produkt – mitsamt seiner Ästhetik, seinen Narrativen, seiner zentralen Täterfigur des Psychopathen – auch in den deutschsprachigen Raum ,exportiert‘ wurde; insbesondere natürlich seit amerikanische Filme, Podcasts und Serien im Zeitalter der Globalisierung popkulturelle Phänomene der USA weltweit, aber vor allem in Europa verbreiten. Die amerikanische Wound Culture – also die „public fascination with torn and open bodies and torn and opened persons, a collective gathering around shock, trauma, and the wound“ (Seltzer 1998: 1) – prägt das True-Crime-Genre dabei bis heute: Aktuelle Formate – sei es auf Streaming-Plattformen wie Netflix, sei es in populären Podcasts – steigern die Faszination für ,wahre‘ Verbrechen erneut, wobei eine zunehmende Radikalisierung in der Darstellung zu beobachten ist: True Crime ist gegenwärtig geprägt von dem, was in der Filmwissenschaft als „full-on visual body horror“ (Murley 2008: 5) bezeichnet wird: „autopsy footage, close-ups of ligature marks and gunshot wounds on bodies, bruises or lividity on flesh, and blood pools, stains and spatters in the physical spaces where murder has occurred“ (ebd.). Immer wieder ist daher auch die Rede von sogenanntem „crime porn“ (ebd.), das mittlerweile weniger ein literarisches als vielmehr ein multimediales Phänomen ist.

3. Von Mythen und Fetischen. Einige Überlegungen zur Faszination rund um den ,authentischen Mord‘

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Authentische Inszenierung, inszenierte Authentizität: Der Kern des True-Crime-Genres liegt, wenn man die exemplarischen Lektüren des vorigen Abschnitts auf eine allgemeinere Ebene hebt, in dem Spannungsverhältnis von emphatisch (über)betontem Wahrheitsanspruch – in Paratexten wie Untertiteln, Vorworten, Bildmaterialien usw. – und der sensationalistischen Ausgestaltung ,wahrer‘ Verbrechen, die dem eingeforderten Realitäts- bzw. Faktizitätseindruck zugleich entgegensteht und diesen unterläuft. Interessanterweise hat dies allerdings keinen Einfluss auf den gattungsinternen Authentizitätspakt zwischen Leser*innen und Autor*in; nicht die Faszination für das ,Reale‘ scheint den Kern dieses Phänomens zu konstituieren (sonst müssten ja auch Zeitungen ebenso zum Faszinosum werden), sondern vielmehr die Inszenierung des Authentischen, der inszenierte Fakt, der erzählerisch ausgestaltet wird. Ähnlich wie bei modernen Mythen sind dabei im Laufe der Zeit bestimmte Typenfiguren (v.a. der Psychopath und die wehrlose Frau) und narrative Muster entstanden, deren Iteration wohl als zentraler Bestandteil der True-Crime-Faszination gelten kann. Gerade bekannte Verbrechen – wie etwa die erwähnten Clutter-Morde – werden wiederholt aufgegriffen, neu gestaltet und damit zu einer Art Mythos, der sich um das reale Verbrechen rankt und sich auf diese Weise auch in das kollektive Gedächtnis einschreibt. Aber auch strukturell weisen einschlägige Erzählungen einige zentrale Gemeinsamkeiten mit modernen Mythenkonzepten auf: Ein wahrer Kern wird in narrative Form gebracht und durch bekannte Erzählmuster gestaltet, bis das Verbrechen in einer Art ,Doppelexistenz‘ besteht – der Version, wie sie tatsächlich passiert ist, und den zahlreichen Erzählungen, die transmedial weiter- und neu erzählt werden und das kollektive Bild davon prägen. Die erzählerische Übertreibung, Zuspitzung und Fiktionalisierung ist den Texten dabei durchaus anzumerken, aber das tut dem Anspruch auf Faktizität keinen Abbruch – denn es geht nicht darum, diese Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (sie verlieren nicht an Attraktion, auch wenn sie sich in einigen Punkten als ,falsch‘ erweisen, wie etwa Truman Capotes In Cold Blood), sondern vielmehr um die lustvolle Erfahrung des Erzählens- und Erzähltbekommens. Nicht das Moment des Informierens (wie es etwa Zeitungsberichte über Verbrechen prägt), sondern das Emotionalisieren, Sensationalisieren und Unterhalten stehen im Fokus. Die bloße Annahme einer „Objekt-Authentizität“ (Weixler 2012: 13) als Kern des True-Crime-Genres würde hier also zu kurz greifen, denn es geht weniger um einen bloßen Anspruch auf ,Abbildung‘ als um den aus der Inszenierung dieser Magazine entstehenden thrill, der dem ,authentischen‘ Medium eine gewisse ,Aura‘ verleiht. Was zunächst transzendent klingen mag, lässt sich durch Rückgriff auf Hartmut Böhmes Konzept der Fetischisierung ,erden‘ und damit kulturwissenschaftlich fassen:

Vom Standpunkt säkularisierter Aufklärung wird mit Fetisch ein Ding bezeichnet, an das Individuen oder Kollektive Bedeutungen und Kräfte knüpfen, die diesem Ding nicht als primäre Eigenschaft (im Locke’schen Sinn) zukommen, sondern ihm in einem initialisierenden Akt dauerhaft beigelegt werden – und zwar so, daß dieses Ding für den Fetischisten diese Bedeutungen und Kräfte sowohl inkorporiert wie ausstrahlt. Als ein bedeutendes und kraftgeladenes Objekt wird das Fetisch-Ding für den Fetischisten zu einem Agens, an das dieser fortan durch Verehrungs-, Furcht- oder Wunschmotive gebunden ist. Das Ding erhält damit Wirk- und Bindungsenergien. (Böhme 2000: 445)
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Fetischistische Objektbeziehungen entstehen also, wenn einem Gegenstand (oder auch einem Text) Bedeutungen zugeschrieben werden, die über dessen direkt wahrnehmbare Qualitäten hinausweisen und ihn so zu einem Faszinosum werden lassen. Dies gilt wohl auch für die Inszenierung des Devianten im True Crime: Ähnlich wie in Museen durch Ausstellungspraktiken und Inszenierung Objekte fetischisiert werden, ist es in einschlägigen True Crime Heften (und später anderen Formaten) der gewissenlose Verbrecher als Ikonografie des Bösen, Perfiden und Abgründigen, wie es seit jeher zum Inventar kollektiver Angst(lust)fantasien zählt. True Crime Magazine funktionieren in diesem Sinne wie Schaufenster, die das Böse und seine Opfer in voyeuristischer Manier ausstellen und damit ein kollektives Verlangen danach nicht nur stillen, sondern zugleich auch hervorrufen. Es sind Texte, die auf den in der Kulturwissenschaft immer wieder konstatierten „Reality Hunger“ (Murley 2008: 3) der Gegenwart abzielen; Texte, die Wahrheit beanspruchen, diese aber selbst gestalten, inszenieren und konstituieren – und so wiederum die gesellschaftliche Wahrnehmung prägen (wie anhand der diskursiven ,Geburt‘ des Psychopathen in diesem Genre exemplarisch deutlich wird). Dabei lassen sich auf Basis dieses – freilich lückenhaften und nur einige bruchstückhafte Lektüreeindrücke anbietenden – Streifzugs vier zentrale Elemente der Authentizitätsinszenierung ausmachen:

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Im Zentrum steht (1) die Verknüpfung von Autorschaft, Autorität und Authentizität – Konzepte, die nicht nur etymologisch eng miteinander verbunden sind (vgl. Weixler 2022: 138). So entwerfen einschlägige Texte (aber auch Serien und Podcasts) eine Art Autorimago, das für die Faktizität des Erzählten qua eigener Recherchen (sei es im beruflichen, sei es im privaten Kontext) bürgt – etwa die zahlreichen Chief Detectives, die in den True Crime Magazinen als Gewährspersonen inszeniert werden, oder Truman Capote, der seine Recherchen in unterschiedlichen Paratexten minutiös beschreibt. ,Paratext‘ ist dabei ein zentrales Stichwort, denn (2) spielen verschiedene Peri- und Epitexte, die die ,Wahrheit‘ des Erzählten emphatisch betonen, eine zentrale Rolle (man denke etwa an den Untertitel und die Gattungsbezeichnung von Capotes In Cold Blood). Auch die häufigen Zitate „authentischer“ Dokumente scheinen (3) diese Funktion zu erfüllen. Dazu zählen neben Zitaten aus Kriminalakten vor allem auch fotografische Materialien, die das Berichtete (visuell) beglaubigen. Die letzte Inszenierungsstrategie bezieht sich schließlich auf konkrete erzählerische Verfahren, nämlich (4) die genaue Schilderung von Details – sei es die minutiöse Beschreibung des Mordes oder seiner Spuren am menschlichen Körper (die zum Teil ja auch durch Bildmaterial eingefangen werden), sei es die Erzählung von Details, die für den Handlungsfortgang keine Relevanz haben und daher, ganz im Sinne von Roland Barthes’ Konzept der effets de réel, eine Art Wirklichkeitseffekt bedingen. Insbesondere die präzise raumzeitliche Verortung ist dabei ein immer wieder formelhaft eingebrachtes Detail.

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Das Zusammenspiel dieser vier Inszenierungsstrategien prägt auch heutige Formen des True Crime strukturell. Damit also nun zurück in die Gegenwart: „[W]e are in a time of massive renewed attention to the genre“ (2021: 151), schreibt etwa Lindsey Webb mit Blick auf den aktuellen transnationalen und -medialen Erfolg des True Crime. Auch in den deutschsprachigen Raum wurde das Phänomen ,importiert‘ – durch Übersetzungen einschlägiger Bücher und durch Filme, aber insbesondere durch Serien (z.B. die erfolgreiche Netflix-Produktion Making a Murder, USA 2015–2019) und Podcasts. Parallel entstehen freilich auch originär deutschsprachige Produktionen, wobei auffällt, dass True Crime im Buchformat hinter andere Medien zurücktritt: Abgesehen von Andrea Maria Schenkels Tannöd (2006) oder Heinz Strunks Der Goldene Handschuh (2016) gibt es nur wenige populäre Beispiele für deutschsprachiges True Crime im Buchformat – freilich bis auf einen der vielleicht bekanntesten und (auch kommerziell) erfolgreichsten deutschen Autoren des Krimigenres: den ,Dichterjuristen‘ Ferdinand von Schirach, der nach seiner Arbeit als Anwalt in Berlin eine zweite Karriere als Schriftsteller begann und der nun, im letzten Teil des Beitrags, im Fokus stehen soll.

4. True Crime „feuilletonfähig“? Eine (literaturwissenschaftliche) Fallgeschichte über Ferdinand von Schirachs Vermarktung ,authentischer‘ Fallgeschichten

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2009 veröffentlicht, rangierte Ferdinand von Schirachs erster Band Verbrechen mit elf „Stories“, so die Gattungsbezeichnung, 54 Wochen auf der Spiegel-Bestseller-Liste; er ist mittlerweile in über 30 Sprachen (darunter auch Japanisch, Chinesisch und Koreanisch) übersetzt und seit 2013 vom ZDF mit Josef Bierbichler in der Hauptrolle als Serie verfilmt.9 Vom Verlag und in Interviews als Geschichten aus dem „Alltag eines Strafverteidigers“ (Kluge/Schirach 2010) und „wahre Geschichten“ (Klappentext) inszeniert, wurde der frühere Anwalt Schirach ursprünglich als Genre-Autor (der er ja auch ist) vermarktet. Aber – und das ist der entscheidende Unterschied zu anderen einschlägigen True-Crime-Erzählungen – auch vor Konsekrationsinstanzen, die „nicht oder nicht primär die Erfüllung einer bestimmten Regelpoetik oder den schieren kommerziellen Erfolg zum Kriterium ihrer Anerkennung und zum Anlass ihrer Distinktion“ (Pabst 2020: 692) machen, erlangten Schirachs Texte Aufmerksamkeit und Anerkennung. Im Feuilleton und selbst einzelnen literaturwissenschaftlichen Beiträgen wurden sie wiederholt mit den Verbrechensgeschichten von Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Elias Canetti und selbst Thomas Bernhards Alte Meister verglichen (z.B. Bauer 2014, Neumann 2012) und mit zahlreichen Würdigungen bedacht; 2010 gewann Schirach schließlich den Kleist-Preis – eine renommierte Auszeichnung, die etwa auch die Büchner-Preisträger*innen Emine Sevgi Özdamar und Clemens J. Setz erhielten.

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Ein populäres Massenphänomen einerseits, ein als ,Hochliteratur‘ beachtetes Werk andererseits: Schirachs Erzählungen sind ein anschauliches Beispiel für jene Texte, die gegenwärtig die Rezeptionskluft, die in der Regel zwischen populärer und im Feuilleton und der Literaturwissenschaft beachteten Texten besteht, überschreiten und die Moritz Baßler (2022) jüngst in polemischer Manier unter dem Begriff des populären Realismus in den Blick genommen hat. Schirachs Texte bilden damit eine neue Version des „pop culture phoenix“ (Schmid 2010: 198) True Crime – nämlich eine, die zwar an den Ästhetiken und populären Inszenierungsstrategien des True-Crime-Kults partizipiert, zugleich aber durch verschiedene Textstrategien (u.a. intertextuelle Bezüge s.u.) den „Schmutz- und Schundgeruch“ (Pabst 2020: 691), der dem Genre nach wie vor anhaftet, ,überdeckt‘ und True Crime damit „feuilletonfähig“ (ebd.: 707) macht. So wird Schirach weniger als Genre-Autor denn als „Autor mit philosophischem Anspruch“ (ebd.: 692) gelabelt und vor allem vermarktet – sehr zum Missfallen einiger Literaturwissenschaftler*innen (z.B. Künzel 2016). In diesem zweiten Teil des Beitrags geht es mir – ausgehend von der zuvor skizzierten Traditionslinie des True Crime – nicht um eine Polemik gegen oder Würdigung von Schirachs Texten, sondern vielmehr um eine Analyse der Textstrategien, die eine solche Mehrfachadressierung und Kommerzialisierung ermöglichen, und die Frage, welche Rolle die Inszenierung von Authentizität dabei spielt. In anderen Worten: Es geht um den „Fall Schirach“ und darum, seine unter dem Titel Verbrechen herausgegebenen Fallgeschichten – den ersten Teil seiner Trilogie mit den weiteren Bänden Schuld (2010) und Strafe (2018) – einer literaturwissenschaftlichen Fallanalyse zu unterziehen.

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„Ferdinand von Schirach erzählt unglaubliche Geschichten, die dennoch wahr sind“, so liest man im Klappentext und der Verlagsaussendung zu Schirachs Erzählband. Ein Spannungsverhältnis wird hier aufgemacht, das sich auch in der Gattungsbezeichnung „Stories“, die „die Möglichkeiten des Faktischen wie des Fiktionalen gleichermaßen“ (Neumann 2012: 126) offenhält, widerspiegelt. Bereits auf paratextueller Ebene ist also eine schon aus den historischen Vorläufern und Vorbildern von Schirachs Texten bekannte Inszenierungsstrategie des „wahren“ Verbrechens (s. Abschn. 3, Strategie 2) zu finden; ein Authentizitätspakt wird nahegelegt, der sich auch auf textueller Ebene, d.h. innerhalb der Geschichten, fortführt. So fungiert ein zunächst namenloser Anwalt, der – wie der Autor selbst – als Strafverteidiger eine Kanzlei in Berlin leitet, als Erzähler. Der implizite Autor – also jene von Wayne C. Booth (1961) theoretisierte Autorinstanz, die die Leser*innen auf Basis des Textes (und Paratextes) konstruiert – wird auf diese Weise – auch dies eine Inszenierungsstrategie, die für dieses Genre typisch ist (s. Abschn. 3, Strategie 1) – immer wieder explizit mit dem realen Autor enggeführt. So etwa wenn sich in der ,Story‘ Geheimnisse ein unter Schizophrenie leidender Mandant der Identität des Anwalts bemächtigt und mit den Worten „[I]ch heiße Ferdinand von Schirach, ich bin Rechtsanwalt“ (Schirach 2010: 200) vorstellt; oder wenn in der letzten Erzählung der Trilogie die zuvor erschienenen Texte als autobiografische Versuche des erzählenden Anwalts, mit dem im Berufsleben Erlebten fertigzuwerden, inszeniert werden:

Einige Monate nach dem Tag in der Normandie habe ich mit dem Schreiben begonnen. Es war zu viel geworden. Die meisten Menschen kennen den gewaltsamen Tod nicht, sie wissen nicht, wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinterlässt. Ich dachte an die Menschen, die ich verteidigt hatte, an ihre Einsamkeit, ihre Fremdheit und ihr Erschrecken über sich selbst. (Schirach 2018: 189)
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Es sind Reflexionen wie diese, die in der Rezeption von Schirachs Texten immer wieder als Selbstaussage des Autors interpretiert und (vom Verlag) auch als solche inszeniert wurden. Die erzählten Geschichten erscheinen so als wahre, vom Autor selbst erlebte und verhandelte Fälle, die in ihrer Kombination allerdings den Eindruck einer „musterbuchartig[en]“ Auswahl machen, bei der „keines der gängigen, aus Fernsehkrimis und Boulevardzeitungen vertrauten Probleme“ (Neumann 2012: 120) fehlt; das Spektrum reicht von Tötung aus Mitleid und Mord aus Gerechtigkeitsgefühl bis hin zu häuslicher Gewalt und kollektiver Vergewaltigung. Die Erzählungen folgen dabei stets demselben zweigliedrigen Erzählschema: Im ersten Teil wird die Geschichte der Täter*innen in apodiktischer Manier aus einer (scheinbar) neutralen heterodiegetischen Perspektive erzählt, die im zweiten Teil der Ich-Perspektive des Anwalts weicht, der das anschließende Prozessgeschehen schildert. So entpuppt sich der erste, scheinbar neutral erzählte Part der Erzählung im Lektüreprozess ebenso als Bericht des Anwalts, der – das liegt in der Natur seines Berufes – keine unabhängige Vermittlerrolle einnimmt, sondern sich nur als ,neutral‘ inszeniert, indem er sich ganz aus der Erzählung zurücknimmt (auch dies im Übrigen nach Weixler eine narrative Strategie um den Eindruck von Authentizität zu erzeugen, vgl. 2022: 140). Immer wieder verweist er dabei auch auf (fiktionale) Akten, Gerichts- und Vernehmungsprotokolle oder Gespräche mit Staatsanwälten; er scheint hier also (wie schon in den True-Crime-Zeitschriften stets empathisch hervorgehoben wurde) „authentische“ Dokumente und involvierte Gewährspersonen zu zitieren, die bei Schirach freilich fiktional sind, die Inszenierungsstrategien der US-amerikanischen Vorbilder jedoch aufgreifen und weiterführen (s. Abschn. 3, Strategie 3).

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Dieses Erzählparadigma und die mit Blick auf das Forschungsinteresse dieses Beitrags zentralen Fragen nach der Inszenierung von Authentizität lassen sich exemplarisch anhand von Fähner, der ersten der elf Erzählungen des Bandes, skizzieren:10

Friedhelm Fähner war sein Leben lang praktischer Arzt in Rottweil gewesen, 2800 Krankenscheine pro Jahr, Praxis an der Hauptstraße, Vorsitzender des Kulturkreises Ägypten, Mitglied im Lions Club, keine Straftaten, nicht einmal Ordnungswidrigkeiten. Neben seinem Haus besaß er zwei weitere Mietshäuser, einen drei Jahre alten Mercedes E-Klasse mit Lederausstattung und Klimaautomatik […]. Fähner hatte keine Kinder. Seine einzige noch lebende Verwandte war seine sechs Jahre jüngere Schwester, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in Stuttgart lebte. Über Fähner hätte es eigentlich nichts zu erzählen gegeben.
Bis auf die Sache mit Ingrid. (Schirach 2020[2009]: 7)

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Ausführlich wird hier, ganz zu Beginn der Erzählung, das Leben des bürgerlichen Friedhelm Fähner umrissen, der seine Frau Ingrid nach 40 Ehejahren – bezeichnenderweise mit einer Axt, also einem „gepflegte[n] Symbol der Bürgerlichkeit“ (Plettenberg 2021: 142) – ermordet; in die scheinbare Ereignislosigkeit, die nicht erzählenswert wäre, bricht – hier ganz lakonisch angedeutet – „die Sache mit Ingrid“. Interessant ist dabei – neben der strukturellen Ähnlichkeit zur klassischen True-Crime-Einleitungsformel (die Störung der eingangs umrissenen idyllischen Normalität durch ein proleptisch vorweggenommenes Verbrechen, s.o.) – der nüchterne Stil, der dem sensationalistischen, reißerischen Tonfall, wie er andere True-Crime-Formate bis heute prägt, entgegensteht. Bei Schirach ist dieser Stil Teil der Authentifizierungsstrategie: In seiner Detailgenauigkeit und Lakonie erinnert er an das, was gemeinhin als Juristenprosa verstanden wird – steht dabei den klassischen True-Crime-Erzählungen in puncto Voyeurismus allerdings um nichts nach:

Als sie [Ingrid] die Tür öffnete, nahm Fähner wortlos die Baumaxt von der Wand. Sie stammte aus Schweden, handgeschmiedet, sie war eingefettet und ohne Rost. [...] Ingrid starrte auf die Axt. Sie wich nicht aus. Bereits der erste Schlag, der ihre Schädeldecke spaltete, war tödlich. Die Axt drang mit abgesplitterten Knochenstücken weiter bis in das Gehirn, die Schneide teilte ihr Gesicht. Noch bevor sie zu Boden fiel, war sie tot. Fähner hatte Mühe, die Axt aus ihrem Schädel zu hebeln, er stellte seinen Fuß auf ihren Hals. Mit zwei wuchtigen Hieben trennte er den Kopf vom Rumpf. Der Gerichtsmediziner verzeichnete später siebzehn weitere Schläge, die Fähner benötigte, um Arme und Beine abzutrennen. (Schirach 2020 [2009]: 15)
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Es ist ein klarer, ungeschönter Blick auf die Tat, die hier anhand zahlreicher anatomischer Einzelheiten minutiös geschildert wird und in seiner nüchternen Detailgenauigkeit – verstärkt durch den Verweis auf den Gerichtsmediziner am Ende des Zitats – ein wenig an einen polizeilichen Bericht erinnert. Die das True-Crime-Genre prägende Wound Culture erscheint hier also im Kleide fachlicher Nüchternheit. Durch die zahlreichen „funktional überschüssige[n] Details“ (Martínez/Scheffel 2009: 117) – also Details, die für die Handlung selbst keine unmittelbare Bedeutung haben – entsteht auch in Schirachs Fallgeschichte das, was Roland Barthes als effets de réel bezeichnet hat – Effekte, die, wie zuvor diskutiert, schon in den True Crime Magazinen (s. Abschn. 3, Strategie 4) verwendet wurden, um Kontiguität zwischen dem Text und der konkreten realen Tat zu behaupten.

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Interessant ist darüber hinaus die Darstellung des Criminal Mind, des Täters, der in dieser hier exemplarisch ausgewählten Kurzgeschichte zwar ebenfalls als ein beast mit einer mask of sanity beschrieben werden könnte – so hält ihn etwa, wie es im Text heißt, der Postbote „für einen Heiligen“ (Schirach 2020 [2009]: 16), er ist allseits beliebt und geachtet; ermordet und zerstückelt dann aber seine Frau, ohne jegliche emotionale Regung dabei zu zeigen: „Die Beine des Hockers standen im Blut. Fähner bekam Hunger“ (ebd.: 15). Im Gespräch mit der Polizei, die er nach der Tat selbst ruft, ist „[s]eine Stimme […] nicht erregt“ und er „sehr ruhig“ (ebd.: 16). Der Anwalt-Erzähler schildert ihn allerdings nicht als Psychopathen, sondern vielmehr als Opfer, das aufgrund der jahrelangen Beleidigungen durch seine Frau selbst zum „Gefangene[n]“ (ebd.: 13) geworden sei und ,keine Wahl‘ gehabt habe, als sie umzubringen. Minutiös wird die Vorgeschichte der beiden erzählt – Ingrids tägliche Angriffe11, ihre morbide Körperlichkeit, die sie zu einem Objekt des Ekels stilisiert12, und Fähner, der ihrer ,Übermacht‘ nicht gewachsen ist und nachts nackt auf der Badewanne sitzend „[z]um ersten Mal in seinem Erwachsenenleben“ (ebd.: 14) weint. Durch „latente Emotionalisierungsstrategien und manipulierende Perspektivierungen“ (Plettenberg 2021: 144) gelingt es Schirach, im Laufe des Lektüreprozesses Sympathie für den Täter hervorzurufen, sodass der Richterspruch am Ende, durch den Fähner wieder auf freien Fuß kommt, trotz allem gerecht erscheint. Es handelt sich hier um eine Art manipulatives Erzählen, das auch aus der Erzählsituation heraus zu verstehen ist, denn in der Retrospektive erweist sich die Kurzgeschichte als Plädoyer des Anwalts, der die Schöffen – wie die Leser*innen – manipulieren möchte: „Im Plädoyer versuchte ich den Grund zu finden. [...] Ich erzählte seine Geschichte. Ich wollte, dass man verstand, dass Fähner am Ende angekommen war. Ich sprach, bis ich glaubte, das Gericht erreicht zu haben. Als ein Schöffe nickte, setzte ich mich wieder“ (Schirach 2020 [2009]: 17f.). Als Anwalt verteidigt Schirachs erzählerisches „Alter-Ego“ (Soboczynski 2010) seinen Mandanten, als Erzähler seine Figur und lenkt dabei die Urteilsbildung der Leser*innen, sodass am Ende das Kapitalverbrechen Mord (in diesem Fall ein klassischer Femizid) zu einem relativierbaren Faktum wird.

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Begleitet wird dies durch zahlreiche Exkurse in das deutsche Rechtssystem, die bisweilen didaktisierend wirken – sodass man sich, wie Christine Künzel polemisch festhält, „in ein Proseminar für angehende Juristen versetzt fühlt“ (2016: 64):

Ein ›Key-Client‹ ist ein Mandant, an dem die Kanzlei viel Geld verdient, ein Klient mit besonderen Rechten. (Schirach 2020 [2009]: 126) Wird Anklage erhoben, muss das Gericht entscheiden, ob sie zur Verhandlung zugelassen wird. Der Richter eröffnet das Verfahren, wenn er eine Verurteilung für wahrscheinlicher als einen Freispruch hält. (ebd.: 173)
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Die Haltung gegenüber dem deutschen Rechtssystem ist dabei – auch wenn in einzelnen Erzählungen, insbesondere in Summertime (2009) oder Volksfest (2010), auf die „Schlupflöcher“ dieses Systems verwiesen wird – stets eine affirmativ-systembejahende: „Unser Strafgesetz ist über 130 Jahre alt. Es ist ein kluges Gesetz.“ (Schirach 2010: 69) Darin liegt im Übrigen auch einer der zentralen Unterschiede zu den justizkritischen Erzählungen über wahre Verbrechen aus dem 18. Jahrhundert – etwa François Gayot de Pitavals Causes célèbres et intéressantes (1734–1743), August Gottlieb Meißners Skizzen (1778–1796) oder Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) –, mit denen Schirachs Texte trotz des „beträchtlichen gedanklichen und stilistischen Gefälles“ (Vogt 2016: 35) oft verglichen werden: Bei Pitaval, Meißner und Schiller wird das zeitgenössische Spannungsverhältnis zwischen spätabsolutistischer Rechtspraxis, den Anfängen einer modernen Psychologie und idealistischer Subjektphilosophie ausverhandelt und die Rolle des Subjekts im Übergang zwischen Tat- und Täterstrafrecht in den Fokus gerückt.13 Schirachs Texte fokussieren zwar ebenso auf den Täter und seinen Weg vom unbescholtenen Individuum zum Criminal Mind, aber stets mit einer systembejahenden Haltung gegenüber dem Rechtssystem, das als der eigentliche „Held[]“ (Jungen 2009) aus den Erzählungen hervorgeht.14 Seine didaktisch anmutenden Ausführungen dienen dementsprechend nicht einer Reflexion oder gar Kritik am Status quo, sondern sind vielmehr mit Blick auf die Authentizitätsinszenierung zu verstehen: Sie fungieren als Beleg der juristischen Fachkompetenz des Autors und somit als „Beglaubigung des Erzählten als grundsätzlich realitätskonform“ (Plettenberg 2021: 137).

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Die Autorinstanz spielt also auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle. Sie autorisiert den Text als ,real,‘ und ist zugleich das zentrale Mittel der Kommerzialisierung und Vermarktung der Texte. So ist der Name Schirach längst zur Marke geworden, die den Spagat zwischen Bestseller-Literatur (also ,Massentauglichkeit‘) und renommierter, vielfach gewürdigter Literatur zu schaffen scheint. Der Grund dafür liegt wohl in Schirachs Erzählstrategien, die einerseits die Erwartungen des Publikums nach einer geordneten Erzählstruktur und klarer Sprache erfüllen; die Aufmerksamkeit der Leser*innen kann voll und ganz auf den jeweiligen Inhalt gerichtet werden, da sich im Lektüreprozess keine (sprachlichen) ,Hindernisse‘ in den Weg stellen. James Wood (2008: 169) bezeichnet diesen Stil, der sich in zahlreichen Bestsellern der Gegenwart identifizieren lässt, auch treffend als „commercial realism“, Ulrich Greiner spricht in einer Rezension von „Inhaltsliteratur“ (2014) und Moritz Baßler (2022) jüngst von „populärem Realismus“. Andererseits wird Schirachs „makellos schlichte Prosa“ (Greiner 2014) durch intertextuelle Verweise auf den bildungsbürgerlichen Kanon – etwa Referenzen auf Theodor Fontane (Schirach 2020 [2009]: 205), Rainer Maria Rilke (ebd.: 205), Elias Canetti (ebd.: 175) oder Scott Fitzgerald (ebd.: 58) – mit Bedeutung aufgeladen und vermittelt den Leser*innen damit den Eindruck, trotz der Einfachheit der Erzählungen anspruchsvolle Literatur zu rezipieren (bzw. zu konsumieren). Dazu tragen auch die immer wieder explizit als „rechtsphilosophische[] Problem[e]“ (ebd.: 17), moralische Fragen oder anthropologische Erkenntnisinteressen inszenierten Verallgemeinerungen bei, die vor allem gegen Ende der Fallgeschichten in Form von Sentenzen (z.B. „Wir glauben, etwas sicher zu wissen, wir verrennen uns, und oft ist es alles andere als einfach, wieder zurückzufinden.“, Schirach 2020 [2009]: 153),15 rhetorischen Fragen und Exkursen über das Rechtssystem in den Text aufgenommen werden und einen philosophischen Anspruch der Texte inszenieren – so etwa in der Erzählung Fähner:

Was ist der Sinn von Strafe? Weshalb strafen wir? […] Es gibt eine Fülle von Theorien. Strafe soll uns abschrecken, Strafe soll uns schützen. Strafe soll den Täter davon abhalten, nochmals eine Tat zu begehen. Strafe soll Unrecht aufwiegen. Unser Gesetz vereinigt diese Theorien, aber keine passte hier [in Bezug auf Fähners Mord, Anm. J.L.] richtig. (Ebd.: 17)
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Die Reflexion geht über aufgeworfene Fragen und Aphorismen nicht hinaus, doch werden sie – gerade auch durch die Einbeziehung der Leser*innen mit der Wir-Form („Unser Gesetz“) –, wie einschlägige Rezensionen zeigen, als Indiz für den philosophischen und anthropologischen Erkenntnisanspruch von Schirachs Fallgeschichten gedeutet. Dass diese sentenziösen Verallgemeinerungen und rhetorischen Fragen, die die ,großen Fragen‘ des Rechtssystems und nach dem ,Bösen‘ betreffen, allerdings nicht den Kern der Erzählungen ausmachen, sondern vielmehr Teil der Vermarktungsstrategie von Schirachs Texten sind, zeigt die Tatsache, dass sie in der ersten Auflage des Bandes noch gar nicht zu finden sind, sondern erst nachträglich (etwa ab der siebten Auflage, wobei eine präzise Überprüfung schwierig ist, da nicht alle Auflagen verfügbar sind) eingefügt wurden – und zwar zu jenem Zeitpunkt, als die Verfilmung der Erzählungen schon in Produktion war, in der diese Sentenzen als Resümee am Ende jeder Folge aus dem Off eingesprochen werden. Man könnte hier wohl auch von einer nachträglichen Bedeutungsstiftung sprechen, die zu Schirachs Vermarktung als juristisch gebildetem Autor zählt, der anhand von exemplarischen, realen Fällen rechtliche Probleme verhandelt.

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Durch Erzählstrategien wie diese verschleiern die Erzählungen ihre Einfachheit und ihren Unterhaltungscharakter auf den ersten Blick und inszenieren einen philosophischen Anspruch, der ihnen – u.a. durch die Verleihung des Kleist-Preises – auch zugestanden wird. Darin liegt auch der zentrale Unterschied zu klassischen True-Crime-Erzählungen, die ihren Unterhaltungscharakter nicht verbergen, damit aber auch stets als massentaugliche Trivialliteratur abgetan werden und bislang nur wenig erforscht wurden: Schirach wird sowohl als Autor vermarktet, der authentische Geschichten aus seinem Anwaltsleben zu Literatur verarbeitet (inszenierte Authentizität), als auch als rechtsphilosophischer Experte, der durch die in seine Texte (oft plakativ) eingeflochtenen Reflexionen Rechtsweisheiten vermittelt – also eine Induktion ‚pseudo-philosophischer‘ Weisheiten, die der Inszenierung von Authentizität, Unmittelbarkeit und Wahrheitsemphase partiell entgegensteht, der umfassenden Rezeption der Texte bislang allerdings keinen Abbruch tat; vielmehr liegt darin wohl der Kern des (kommerziellen) Erfolgs von Schriachs Texten: Sie lassen sich (qua ihrer „rechtsphilosophischen“ Exkurse) als ,hohe‘ Literatur vermarkten und greifen zugleich auf populäre Erzählstrategien zurück, deren (auch kommerzieller) Erfolg schon in den True-Crime-Zeitschriften des 20. Jahrhundert unbestritten war. Wie diese Zeitschriftenbeiträge profitieren auch Schirachs Texte von dem – so schrieb schon Schiller mit Blick auf die Pitaval’schen Verbrechenserzählungen – „Vorzug der historischen Wahrheit“ (1960 [1792]: 865), also von der Inszenierung der Erzählungen als „die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit“ (Drees 2009). Auch wenn sich der „pop culture phoenix“ (Schmid 2010: 198) True Crime im Laufe der Jahrzehnte erheblich gewandelt hat, bleibt die Inszenierung von Authentizität als strukturelle Konstante, zentrale Faszination und zugleich als Vermarktungsstrategie also erhalten. So ließe sich abschließend mit Christine Künzel die Frage stellen, ob Schirachs Erzählungen von der Literaturkritik wohl ebenso wohlwollend beurteilt worden wären, „wenn der Autor nicht der bekannte Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach gewesen wäre, sondern ein Autor oder eine Autorin ohne Authentizitätsausweis“ (2016: 73). Eine Frage, die freilich das True-Crime-Genre im Allgemeinen betrifft – lebt es doch von der Befriedigung des „Reality Hunger“ (Murley 2008: 3) moderner Leser*innen.

Literaturverzeichnis

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  • Schirach, Ferdinand von (2010). Schuld. Stories. München: Piper.
  • Schirach, Ferdinand von (2018): Strafe. Stories. München: Luchterhand.
  • Schmid, David (2010): True Crime, in: Charles J. Rzepka/Lee Horsley (Hg.): A Companion to Crime Fiction. Oxford: Blackwell, S. 198–209.
  • Seltzer, Mark (1998): Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture. New York: Routledge.
  • Soboczynski, Adam (2010): Täter wie wir, in: Die Zeit. Abgerufen von www.zeit.de/2010/31/L-B-Schirach, Zugriff am 29.01.2024.
  • True Detective Mysteries (06/1926): Why I Killed My 22 Wives. An Actual Confession by “Bluebeard” Watson. As told by H. Edwin Mootz, S. 40–47.
  • True Detective Mysteries (12/1928): Against Fearful Odds. By Detective W.W. Rogers. As told to Jack Wooten, S. 54–56.
  • True Detective Mysteries (12/1928): The Cry from the Grave. By Ellis H. Parker. As told to Alan Hynd, S. 18–22.
  • True Detective Mysteries (01/1930): The Mystery of the Thirteenth Key. By Detective Otto W. Phillips. As told to Fred Allhoff, S. 10–16.
  • True Detective Mysteries (06/1940): Today’s Challenging Terror. By Sid McMath, S. 73–75.
  • Vogt, Jochen (2016): „Feinere Menschenforschung“, „Scientific Exercise“ oder nur eine „Story“? Zur Literarisierung von Kriminal-Fallgeschichten seit dem 18. Jahrhundert, in: Patrick Meier/Franziska Stürmer (Hg.): Recht populär. Populärkulturelle Rechtsdarstellungen in aktuellen Texten und Medien. Baden-Baden: Nomos, S. 13–35.
  • Webb, Lindsey (2021): True Crime and Danger Narratives. Reflections on Stories of Violence, Race and Justice, in: The Journal of Gender, Race, and Justice 24/1, S. 131–170.
  • Weinrich, Harald (2016 [1973]): Linguistik der Lüge. 8. Aufl. München: C.H. Beck.
  • Weixler, Antonius (2012): Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt, in: Ders. (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 1–32.
  • Weixler, Antonius (2022): Erzählen/Text, in: Chim Saupe/Martin Sabrow (Hg.): Handbuch Historische Authentizität. Göttingen: Wallstein, S. 136–144.
  • Wiltenburg, Joy (2004): True Crime. The Origins of Modern Sensationalism, in: The American Historical Review 109/5, S. 1377-1404.
  • Wood, James (2008): How Fiction Works. New York: Picador.
  • Wohlhaupter, Eugen (1953–1957): Dichterjuristen. 3 Bde. Tübingen: Mohr.
  • Zoglauer, Thomas (2021): Konstruierte Wahrheiten. Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter. Wiesbaden: Springer.

Anmerkungen

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1

Den Begriff des „Dichterjuristen“ geht auf Eugen Wohlhaupter zurück, der ihn bereits in den 1950er Jahren prägte (vgl. Wohlhaupter 1953).

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2

Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass der True-Crime-Begriff heute im Wesentlichen für Produktionen verwendet wird, wie sie im Rahmen der amerikanischen Populärkultur des 20. und 21. Jahrhunderts und davon inspiriert auch im europäischen Raum kommerzielle Erfolge feiern. So würde man bspw. Schillers und Kleists Texte wohl kaum als ,True Crime‘ bezeichnen.

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3

Interessant erscheinen mit Blick auf diese Emphase des Faktischen auch Harald Weinrichs Ausführungen zur Linguistik der Lüge; er zeigt, dass die übermäßige Betonung von „Wahrheit“ und Detailliertheit in der Darstellung als linguistische Lügensignale fungieren (vgl. Weinrich 2016 [1973]).

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4

So heißt es etwa in dem bereits zitieren Beitrag The Cry from the Grave über das Opfer: „Matilda was one of the most beautiful children that God ever made. She possessed an abundance of beautiful, dark hair, and had large, laughing, brown eyes. She would have been an ideal model for an artist. The child was so attractive, in fact, that strangers often stopped her on the street, to ask her name, and sometimes railed upon her parents, Mr. and Mrs. Michael Russo, with a view of becoming better acquainted with the little girl.“ (TDM 12/1928: 18)

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5

Rassistisch motivierte Lynchmorde, die in den 1920er und 1930er Jahren keine Seltenheit waren, und die Tatsache, dass in dieser Zeit fast die Hälfte aller Gewaltopfer People of Colour waren, werden durch diese Auswahl der Geschichten freilich verborgen.

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6

In späteren Ausgaben wurden Frauen freilich auch immer häufiger als Täterinnen gezeigt.

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7

So beginnt das Vorwort wie folgt: „All the material in this book not derived from my own observation is either taken from official records or is the result of interviews with the persons directly concerned, more often than not numerous interviews conducted over a considerable period of time.“ (Capote 1966: 4)

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8

Auch Capotes Täter sind – insbesondere Perry Smith – psychopathisch veranlagt und verspüren keine Reue. Als klassisches Beispiel dafür wird in der Forschung zu Capotes Roman immer wieder folgende Passage zitiert, in der Perry Smith sein Opfer beschreibt: „I thought he was a very nice gentleman. Soft-spoken. I thought so right up to the moment I cut his throat.“ (Capote 1966: 275)

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9

Zur „Feuilletonfähigkeit“ von True Crime vgl. Pabst 2020: 707.

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10

Dabei handelt es sich um eine Erzählung, die das Schema, dem die meisten von Schirachs „Stories“ folgen, repräsentiert und sich daher ideal für eine exemplarische Analyse eignet. Interessant wäre davon ausgehend auch ein genauerer Blick auf jene Erzählungen, in denen Schirach mit diesem Erzählschema bricht, in erster Linie etwa Volksfest (2010); dies würde den Rahmen dieses Beitrags allerdings übersteigen.

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11

„Die Abendessen voller Vorwürfe nahm er schweigend hin. Die metallische Stimme Ingrids reihte modulationslos Satz um Satz Anfeindungen aneinander.“ (Schirach 2020 [2009]: 13)

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12

„Sie war fett geworden, ihre blasse Haut hatte sich mit den Jahren rosa gefärbt. Ihr wulstiger Hals war nicht mehr fest, vor ihrer Kehle hatte sich ein Hautlappen gebildet, der im Takt ihrer Beschimpfungen hin- und her waberte. Sie litt unter Atemnot und Bluthochdruck.“ (Schirach 2020 [2009]: 13)

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13

Vgl. dazu den Beitrag von Lydia Rammerstorfer in dieser Ausgabe der WDR.

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14

„[Man] liest dieses Buch als ein einziges Plädoyer für das abwägende Schuldstrafrecht“, hält Oliver Jungen (2009) in seiner Rezension zu Verbrechen fest.

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15

Für weitere Beispiele vgl. Schirach 2020 [2009]: 7 sowie Schirach 2010: 183, 189.

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Autor·in

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Julia Lückl

Julia Lückl hat Germanistik und Psychologie studiert und ist seit 2023 Doktorandin und Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Zu ihren Forschungsinteressen zählen neben Ästhetik und Poetik der Gegenwartsliteratur insbesondere Populärkultur und -literatur, Fragen des Verhältnisses zwischen Literatur und (Literatur-)Markt und experimentelle Literatur. In ihrer Dissertation widmet sie sich der Entstehung universitärer Schreibschulen im deutschsprachigen Raum sowie Diskursen und Praktiken der Lehr- und Lernbarkeit literarischen Schreibens.