Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Andreas Basch, 

Konstanze Fliedl, 

Barbara Tumfart und 

Silvia Waltl

Genese eines Skandals

Thomas Bernhards Heldenplatz in einer historisch-kritischen digitalen Edition

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Wiener Digitale Revue 5 (2024)

www.univie.ac.at/wdr

Abstract

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In diesem Beitrag wird die im Jänner 2024 im Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) erschienene historisch-kritische digitale Edition von Thomas Bernhards Drama „Heldenplatz“ vorgestellt; die Hintergründe ihrer Entstehung und die wichtigsten Features der Edition in Hinblick auf die Genese und Rezeptionsgeschichte von Bernhards umstrittenem Werk werden dargelegt.

This article is meant as an introduction to the historical-critical digital edition of Thomas Bernhards dramatical work “Heldenplatz” (“Place of Heroes”) that was published within the Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) in January 2024. The background of its creation and the edition’s most important features regarding the genesis and reception history of one of Bernhard’s most controversial works are explained.

Volltext

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Den bislang größten Theaterskandal der Zweiten Republik löste 1988 ein Drama Thomas Bernhards aus: Heldenplatz wurde zu einem Exempel nicht nur der literarischen, sondern auch der politischen und gesellschaftlichen Geschichte Österreichs. In diesem Jahr 1988 jährte sich das hundertjährige Bestehen des Burgtheatergebäudes an der Ringstraße; Burgtheaterdirektor Claus Peymann hatte Bernhard den Auftrag für ein Stück gegeben, das anlässlich des Jubiläums aufgeführt werden sollte. 1988 war aber auch das ‚Bedenkjahr‘ der fünfzigsten Wiederkehr des sogenannten ‚Anschlusses‘ Österreichs an das Dritte Reich. Bernhard wählte seine Ausgangssituation dementsprechend: Professor Josef Schuster, aus der Emigration zurückgekehrt, hat sich aufgrund der wiedererstarkten NS-Ideologie umgebracht.

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Der Text sollte bis zur Uraufführung geheim gehalten werden; aufgrund einer bis heute nicht geklärten Indiskretion wurde er aber noch während der Proben verschiedenen Zeitungsredaktionen zugespielt. Die Veröffentlichungen – „6,5 Millionen Debile“, titelte die Kronen Zeitung1 – führten zu vehementen Protesten des Bundespräsidenten Kurt Waldheim, des Altkanzlers Bruno Kreisky (SPÖ) und des Vizekanzlers Alois Mock (ÖVP): Es sei unzulässig, Bernhards Österreichbeschimpfungen noch durch Steuergelder zu subventionieren. Bis zur Premiere am 4. November 1988 wurde darüber spekuliert, ob Bernhard den Text ent- oder verschärft haben könnte.

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Diese Fragen beantwortet nun die neue digitale Edition des Stückes an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie dokumentiert erstmals die im Nachlass überlieferten Entstehungsstufen (Typoskripte und Druckfahnen mit handschriftlichen Korrekturen) als Faksimiles mit entsprechender Entzifferung. Aus diesen Textträgern geht nicht nur hervor, wie Bernhards Ideen in den typischen thematischen und syntaktischen Schleifen entwickelt wurden, sondern auch, dass er auf die Skandalisierung seines Dramas im Grunde nicht reagierte: Spätere Texteingriffe haben nichts mit seiner Österreich-Polemik zu tun.

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Die in der Abteilung für Literatur- und Textwissenschaft am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der ÖAW erstellte Ausgabe präsentiert die Digitalisate der betreffenden Überlieferungsträger mit Transkription. Die Texte wurden auf Grundlage des neuesten TEI Standards im XML-Format annotiert, wobei großer Wert auf eine möglichst akkurate Transkription der vielfältigen und komplexen Eingriffe Bernhards in die unterschiedlichen Textstufen gelegt wurde.

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Die Edition ermöglicht zudem eine Volltextsuche in allen Textstufen; außerdem bieten ein Stellenkommentar und Register zu Personen, Orten, Ereignissen, Institutionen und Werken zusätzliche Informationen zum Inhalt.

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Um dem zeitgeschichtlichen Kontext des Dramas und seiner Uraufführung gerecht zu werden, wird neben der Entstehung aber auch die Rezeption des Textes ausführlich dargestellt; die zahlreichen und kontroversen Presseartikel werden in zeitlicher Abfolge bibliographisch erfasst und in einer interaktiven durchsuchbaren Timeline visualisiert.

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Damit sind neue Zugänge zum Text und zu seiner Wirkung gewonnen; das Drama kann so nicht nur als Schlüsseltext österreichischer Literarhistorie, sondern auch als Dokument österreichischer Politik- und Gesellschaftsgeschichte gelesen werden.

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Herausgeberteam: Andreas Basch, Konstanze Fliedl, Barbara Tumfart, Silvia Waltl

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Link zur Edition.

Literaturverzeichnis

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  • Neue Kronen Zeitung, 07.10.1988

Anmerkungen

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„,Österreich, 6,5 Millionen Debile!‘. Bernhards Skandalstück Heldenplatz: Die Krone veröffentlicht erstmals Teile des Textes.“ (Neue Kronen Zeitung, 07.10.1988).

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Abbildungen

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Titel Faksimile mit Eingriffen des Autors (Druckfahnen Lauf 1, S. 54).
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Titel Faksimile mit Transkription (Druckfahnen Lauf 1, S. 74).
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Titel Kommentareintrag (Typoskript 1, S. 13).
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Titel Zeitleiste der Medienrezeption vor und nach der Premiere von Heldenplatz (Burgtheater, Wien, 04.11.1988) mit durchsuchbaren Parametern.
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Autor·innen

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Andreas Basch

Seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, von 2018 bis 2023 im ACE (Austrian Corpora and Editions), seit Juli 2023 im LTW (Abteilung für Literatur- und Textwissenschaft) im Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH).0000-0000-0000-0000

Konstanze Fliedl

2007–2020 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien, 2018–2023 Leiterin der Abteilung ACE (Austrian Corpora and Editions) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.0000-0000-0000-0000

Barbara Tumfart

1999–2001 Projektmitarbeiterin am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, von 2018 bis 2023 im ACE (Austrian Corpora and Editions), seit Juli 2023 im LTW (Abteilung für Literatur- und Textwissenschaft) im Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH).0000-0000-0000-0000

Silvia Waltl

Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, von 2018 bis 2023 im ACE (Austrian Corpora and Editions), seit Juli 2023 im LTW (Abteilung für Literatur- und Textwissenschaft) im Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH).0000-0000-0000-0000