Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Nicole Kiefer

Freud im Fernsehen

Psychoanalyse und Detektivarbeit in den Krimiserien Vienna Blood und Freud

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Wiener Digitale Revue 5 (2024)

www.univie.ac.at/wdr

Abstract

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Immer wieder wurde die Psychoanalyse in die Nähe der (literarischen) Detektivarbeit gerückt, von Sigmund Freud selbst, seinen Schüler*innen, insbesondere aber in der Populärkultur. Der Beitrag widmet sich der Genese des Topos vom Psychoanalytiker als Detektiv und geht seiner Gestaltung in den beiden etwa zur selben Zeit fürs Fernsehen und für Streaming-Dienste entstandenen ORF-Koproduktionen „Vienna Blood“ (seit 2019) und „Freud“ (2020) nach, deren Zugang nicht unterschiedlicher sein könnte.

Psychoanalysis has repeatedly been likened to (literary) detective work, by Sigmund Freud himself, by his students, and especially in popular culture. This contribution is dedicated to the genesis of the topos of the psychoanalyst as a detective and explores its formation in the two ORF co-productions „Vienna Blood“ (since 2019) and „Freud“ (2020). Both were created around the same time for television and streaming services, but could not have chosen more different approaches.

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Immer wieder werden Sigmund Freuds Psychoanalyse und die Gattung der modernen Detektivliteratur, beides ‚Kinder‘ einer wissenschaftlichen Weltbetrachtung, in einem Atemzug genannt, was sich in der Bezeichnung der Psychoanalyse als “Detektiv-Psychologie” (Gay 1985: 141) oder “psychologische[r] Detektivarbeit” (Hauser 1974: 119) niederschlägt. Tatsächlich erinnert Freuds therapeutische Technik, sich im Zustand “gleichschwebender Aufmerksamkeit” Stück für Stück zum verdrängten psychischen Material vorzuarbeiten (vgl. Freud 1961 [1904]: 3–10), an das Sammeln von Indizien, das der Detektiv – häufig in Konflikt mit Gesetz und Polizei – betreibt, um den Fall zu lösen. Ein Vergleich, der dabei besonders oft gestellt wird, ist jener mit Arthur Conan Doyles Figur Sherlock Holmes, denn “both seem to fixate on details that initially appear to be trivial, or to weigh the clues in an entirely different manner from everyone else, despite having received the same information” (Yang 2010: 599).

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Im Weiteren soll und kann natürlich nicht geklärt werden, inwieweit die Ähnlichkeiten zwischen der detektivischen Vorgangsweise und der praktischen psychoanalytischen Analyse in der Realität zutreffen, stattdessen wird der in der Populärkultur weitverbreitete Topos des (fast immer männlichen) Psychoanalytikers als Detektiv in den Blick genommen. Viele Beispiele aus Literatur und Film – von Arthur Koestlers und Andor Némeths Kriminalgeschichte Wie ein Mangobaumwunder (1932) über Alfred Hitchcocks Psychothriller Spellbound (1945) bis hin zu Nicholas Meyers Bestsellerroman The Seven-Per-Cent Solution (1974) – haben die Nähe zwischen psychoanalytischem und detektivischem Verfahren thematisiert; spätestens seit der Fernsehreihe Vienna Blood (seit 2019, bisher 3 Staffeln) und der Netflix-Serie Freud (2020), beides ORF-Koproduktionen, ist die Faszination für die Psychoanalyse auch im zeitgenössischen österreichischen Krimi breitenwirksam angekommen. Der folgende Beitrag widmet sich der Genese des Topos sowie der Frage nach dessen Gestaltung in den beiden genannten Serien.

1. Der Ursprung der Analogie oder: Freuds Selbstinszenierung als Detektiv

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Wiederholt wurde in der Sekundärliteratur das große Interesse des Vaters der Psychoanalyse an detective stories betont (vgl. z.B. Yang 2010: 597), wobei als Referenz zumeist ein Zitat aus den Erinnerungen des sogenannten ‚Wolfsmannes‘ herangezogen wird:

Einmal kamen wir auch auf Conan Doyle und die von ihm geschaffene Figur des Sherlock Holmes zu sprechen. Ich dachte, daß Freud diese Art leichter Lektüre überhaupt ablehne, und war daher überrascht, daß dies keineswegs der Fall war und daß Freud auch diesen Schriftsteller recht aufmerksam gelesen hatte. Da ja auch in der Psychoanalyse die Rekonstruktion einer Kindheitsgeschichte „Indizienbeweise“ heranziehen muß, interessierte sich Freud offenbar auch für diese Art Literatur. (Pankejeff 1989: 182)
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Auch wenn die Richtigkeit dieser Angaben freilich nicht überprüft werden kann, so steht fest, dass Freud die ersten beiden großen Helden der detective story, Edgar Allan Poes C. Auguste Dupin und Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, zumindest gekannt haben muss. Poes in den 1840er Jahren erstmals publizierte ‚tales of ratiocination‘ wurden zu Freuds Lebzeiten vielfach ins Deutsche übersetzt (vgl. Schädel 2006 [Bd.2]: 110) und rezipiert, unter anderem von einer seiner Schülerinnen, der französischen Psychoanalytikerin Marie Bonaparte. Für ihre Studie über Poe, die auch ein Kapitel zu dessen Detektivgeschichte The Murders in the Rue Morgue beinhaltet (vgl. Bonaparte 1934: 329–375), steuerte Freud 1934 ein Vorwort bei, was eine wenigstens oberflächliche Kenntnis von Poes Werk nahelegt. Weit stichhaltiger belegt ist Freuds Vertrautheit mit Doyle, dessen bahnbrechender Erfolg in England ab den 1890er Jahren auch im deutschsprachigen Raum geradezu einen Boom an Übersetzungen und Bearbeitungen (vgl. Schädel 2006 [Bd.1]: 200–208; Leonhardt 1990: 55) auslöste. Im Jahr 1909 verwies Freud selbst in einem Brief an C.G. Jung auf Sherlock Holmes, bezugnehmend auf seine Korrespondenz mit dessen Patientin Sabina Spielrein. Sein Verhältnis mit ihr hatte Jung Freud zu diesem Zeitpunkt schon gestanden:

Frl. Spielrein hat mir in einem zweiten Brief bekannt, daß es sich um Ihre Person handele, ohne sonst eine Absicht zu verraten. Ich habe darauf außerordentlich weise und scharfsinnig geantwortet, indem ich aus leisen Anzeichen Sherlock Holmes-artig den Sachverhalt zu erraten schien (was mir natürlich nach Ihren Mitteilungen gelingen mußte). (Freud/Jung 1974: 259)
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Michael Shepherd nimmt an, dass Freud mit diesem Vergleich explizit auf seine eigene Behandlungsmethode anspielt (vgl. Shepherd 1986: 16). Rolf Haubl und Wolfgang Mertens argumentieren hingegen, dass Freud den fiktiven Detektiv Sherlock Holmes gerade deshalb in diesem Zusammenhang erwähnt, weil er seine detektivischen Fähigkeiten hier nur vortäuscht – und somit signalisiert, dass “er sich der Differenz zwischen analytischer Arbeit und Holmes-artiger Genialität wohl bewußt ist” (Haubl/Mertens 1996: 34). Doch auch wenn Freud den Vergleich mit Holmes an dieser Stelle nicht auf seine Methode anwendet, so bezieht er sich bei der Beschreibung der psychoanalytischen Analyse durchaus immer wieder auf das detektivische Indizienparadigma, etwa in Bruchstück einer Hysterie-Analyse (vgl. Freud 1961 [1905]: 240) oder in Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (vgl. Freud 2010 [1916/17]: 23). Am ausführlichsten geht Freud aber im Vortrag Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse (1909) auf das Verbindende zwischen den beiden Disziplinen Kriminalistik und Psychoanalyse ein. Nicht nur vergleicht er darin Verbrecher*innen mit Hysteriker*innen, weil beide ein Geheimnis verbergen – die einen vor der Außenwelt, die anderen unbewusst, auch vor sich selbst –, sondern schildert auch den Therapeuten in der Rolle des Untersuchungsrichters:

Die Aufgabe des Therapeuten ist [...] die nämliche wie die des Untersuchungsrichters; wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nachahmen werden. (Freud 1947 [1909]: 9)
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Neben Stellen, in denen Freud theoretisch auf die epistemologische Verwandtschaft zwischen dem psychoanalytischen und dem detektivischen Verfahren hinweist, finden sich in seinem Werk auch solche, in denen er sich richtiggehend selbst als Meisterdetektiv inszeniert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein im zweiten Kapitel der Psychopathologie des Alltagslebens festgehaltenes Gespräch Freuds mit einem jungen Mann. Da dieser sich beim Zitieren eines Vergil’schen Verses partout nicht mehr an das Wort aliquis erinnern kann, fordert er Freud dazu auf, ihm darzulegen, wie er “zum Vergessen dieses unbestimmten Pronomen [...] komme” (Freud 1973 [1904]: 14). Freud, der diese Herausforderung natürlich begeistert annimmt, lässt den jungen Mann frei assoziieren, bis diesem schließlich etwas einfällt, das er dem Analytiker zuerst nicht mitteilen möchte, es auf Freuds Drängen schlussendlich aber doch tut – woraufhin er erstaunt feststellt, dass Freud das Rätsel mithilfe seiner Kombinationsgabe und der freien Assoziationen als Hinweise schon gelöst hat:

„[...] Also ich habe plötzlich an eine Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte, die uns beiden recht unangenehm wäre.“
Daß ihr die Periode ausgeblieben ist?
„Wie können Sie das erraten?“
Das ist nicht mehr schwierig. Sie haben mich genügend darauf vorbereitet. Denken Sie an die Kalenderheiligen, an das Flüssigwerden des Blutes zu einem bestimmten Tage, den Aufruhr, wenn das Ereignis nicht eintritt, die deutliche Drohung, daß das Wunder vor sich gehen muß, sonst ... Sie haben ja das Wunder des heiligen Januarius zu einer prächtigen Anspielung auf die Periode der Frau verarbeitet. (Ebd.: 16)

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Die auffallende Literarizität des Gesprächs hat so manche stutzig gemacht, etwa den walisischen „Guerilla“-Historiker Peter Swales, der den jungen Mann als alter ego von Freud selbst interpretierte und in diesem Fall den „Beweis“ für das von C.G. Jung gestreute Gerücht sah, Freud habe eine Affäre mit seiner Schwägerin Minna Bernays gehabt (vgl. Swales 1982: 1–22; Breger 2000: 397). Im Kontext dieses Beitrags bedeutender ist eine Beobachtung des niederländischen Essayisten und Literaturhistorikers Karel van het Reve (vgl. van het Reve 1994: 18f.), der darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Dynamik des Gesprächs eine große Ähnlichkeit mit einer stereotypen Konversation zwischen Holmes und Watson kurz nach der Lösung eines Falls aufweist: Nachdem der Meisterdetektiv eine geniale Schlussfolgerung gezogen hat, drückt Watson sein Erstaunen darüber aus (z.B. „How the deuce did you know that, Holmes?“), was der andere mit Befriedigung zur Kenntnis nimmt. Noch bevor Holmes seine Gedankengänge erklärt, betont er, wie einfach die Lösung sei (z.B. „Elementary, my dear Watson“). Wie bei Sherlock Holmes’ Deduktionen (bzw. Abduktionen)1 üblich, wird auch bei Freud “das Eintreffen der Vorhersage als ein Beweis für die Richtigkeit” (ebd.: 22) der Argumentation betrachtet, obwohl es durchaus auch andere (wenn auch nicht übermäßig viele) Möglichkeiten an vom jungen Mann befürchteten schlechten Nachrichten gegeben hätte – etwa eine Krankheit oder der Nichterhalt einer versprochenen Mitgift. Wie van het Reve argumentiert, ließe sich letztere Möglichkeit mindestens ebenso gut wie die drohende Schwangerschaft aus den Assoziationen des jungen Mannes ableiten. Im Gegensatz zu Sherlock Holmes, der zumindest im Roman The Sign of the Four zugibt, dass aus seinen Beobachtungen auch andere Schlüsse möglich wären,2 lässt Freud allerdings “keine andere Erklärung als die seine zu” (ebd.: 24).

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Der österreichische Germanist Michael Rohrwasser schlägt vor, Freuds Fallgeschichten grundsätzlich “wie Geschichten von Sherlock Holmes als Literatur” (Rohrwasser 2005: 69) zu lesen. Einerseits verweisen schon die Namen der Patient*innen, die durchaus “Sherlocksche Untertöne” (Shepherd 1986: 14) tragen, auf deren fiktives Moment, andererseits handelt es sich nicht um wörtliche Protokolle, sondern um im Nachhinein rekonstruierte, in einen narrativen Zusammenhang gebrachte Erzählungen. Indem wir von Freud nur das erfahren, was er während der Behandlungen wahrgenommen haben will, und er seine Deutungen als die immer richtigen präsentiert, inszeniert er sich nicht nur als Autor, sondern auch als Erzähler und erfolgreicher Held seiner Geschichten – und vereint damit, wie Rohrwasser meint, “als Protokollant seiner Fälle die Rollen von Sherlock Holmes und John Watson” (Rohrwasser 2005: 70). Einwände gegen Freuds Deutungen können, wie etwa im Fall Doras (vgl. Haubl/Mertens 1996: 34–37), nur von Seiten der Patient*innen kommen, die im Darstellungsmuster der Detektivgeschichte sowohl Opfer als auch Verbrecher*innen darstellen. Aufgrund der Widerstände und Abwehrmechanismen zählen diese Widersprüche allerdings von vornherein nicht, sodass der Grandiosität Freuds keine ebenbürtige Meinung entgegengestellt wird. Wie in der Detektivgeschichte bietet er uns am Ende seiner Fälle eine eindeutige, positive Lösung an – dass es dabei allerdings mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen wird und das happy end manchmal ein rein fiktives ist, ist heute zumindest für manche Fallgeschichten bewiesen (vgl. Eysenck 1985: 58f.). Für den Autor Freud, der sich der Erwartungen seiner Leserschaft durchaus bewusst war, erschien diese Darstellungsweise wohl als bester „Ausweg“ aus dem Dilemma zwischen “the search for historical truth” (Spence 1987: 156) und “the promise of narrative truth” (ebd.), denn: “[D]as Publikum [verlangt] etwas Definitives, sonst meint es, man wüßte nicht, was man zu sagen hätte” (Blanton 1975: 43).

2. Die Psychoanalyse, eine kriminologische Hilfswissenschaft?

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Wenn die Psychoanalyse, wie Freud in Bruchstück einer Hysterie-Analyse proklamiert, in der Lage ist, “das verborgenste Seelische” (Freud 1961 [1905]: 240) durch den Blick auf Details ans Licht zu bringen, so liegt es nahe, diese Fertigkeiten auch in der Verbrechensbekämpfung einzusetzen. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass Anfang des 20. Jahrhunderts versucht wurde, psychoanalytische Methoden in die noch junge Disziplin der modernen Kriminologie zu integrieren: Schüler*innen des Kriminalpsychologen Hans Gross erkannten die mögliche Bedeutung des von Wilhelm Wundt in die deutsche Psychologie eingeführten und von C.G. Jung im Feld der Psychiatrie erforschten “Assoziationsexperiments” für die Kriminalistik, wodurch die neue Verhörmethode der “psychologischen Tatbestandsdiagnostik” entstand (vgl. Haubl/Mertens 1996: 22–27). Deren Ziel war es, die Schuldhaftigkeit der Verdächtigen anhand ihrer unmittelbaren Reaktion auf bestimmte, mit der Tat in Verbindung stehende Reizwörter zu ermitteln, wobei neben einem ungewöhnlichen Inhalt und der Unmöglichkeit, die eigene Antwort später zu reproduzieren, vor allem eine verlängerte Reaktionszeit als Indikator genommen wurde (vgl. Jung 1941 [1906]: 10f.). Zwar gibt Jung, der sich sehr in der Weiterentwicklung “dieser unvergleichlich feinen psychologischen Forschungsmethode” (ebd.: 47) engagierte, in seiner 1906 erschienenen Abhandlung Die psychologische Diagnose des Tatbestandes durchaus zu, dass diese an diversen Problemen kranke und noch nicht Praxis-tauglich sei, der Erfolg liege aber in der Gewinnung von Erfahrung und der Einbeziehung psychoanalytischer Fertigkeiten:

Die Analyse [...] setzt beim Experimentator nicht nur eine gewisse spezielle Erfahrung, sondern auch eine Reihe von psychopathologischen Kenntnissen voraus, die heutzutage leider noch nicht das Gemeingut aller Psychologen sind. Es sind dies die Prinzipien der genialen Psychoanalyse Sigmund Freud’s. Erst durch die völlige Aneignung der Freud’schen Methode ist man imstande, mit einer gewissen Sicherheit Psychoanalysen an Hand der Assoziationen auszuführen. Ein ungeschickter Experimentator kann in dieser heiklen Materie leicht auf die schlimmsten Irrwege geraten [...]. (Ebd.: 18)
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Seine eigene Tauglichkeit als Experimentator beweist Jung sogleich am konkreten Fall, denn wenige Seiten später beschreibt er, wie er mithilfe des Assoziationsexperiments einen ahnungslos am Experiment teilnehmenden Verdächtigen als Dieb überführt habe (vgl. ebd.: 21–29).

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Auch Freud selbst interessierte sich für dieses Thema, nahm dazu allerdings eine differenzierte Position ein: Im schon erwähnten Vortrag Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse aus dem Jahr 1909 weist er skeptisch auf Schwachpunkte des assoziativen Verfahrens hin und warnt davor, diese Verhörtechnik vorschnell als Grundlage einer Verhaftung zu nehmen, denn:

Sie können nämlich bei Ihrer Untersuchung vom Neurotiker irregeführt werden, der so reagiert, als ob er schuldig wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein in ihm bereitliegendes und lauerndes Schuldbewußtsein sich der Beschuldigung des besonderen Falles bemächtigt. [...] [E]s gibt viele solcher Menschen, und es ist noch fraglich, ob es Ihrer Technik gelingen wird, solche Selbstbeschuldiger von den wirklichen Schuldigen zu unterscheiden. (Freud 1947 [1909]: 13f.)
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Wie berechtigt Freuds Zweifel bezüglich der Unverantwortlichkeit der Methode war, bewies wiederum Jung, wenngleich nicht mit Absicht. Denn dessen Aussage als Gerichtsgutachter nach einem dreistündigen Assoziationsexperiment trug 1934 maßgeblich dazu bei, einen Unschuldigen wegen Mordes an seiner Ehefrau zur lebenslangen Haftstrafe zu verurteilen – ein Richterspruch, der vier Jahre später im wiederaufgenommenen Verfahren revidiert wurde (vgl. Haubl/Mertens 1996: 27).

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Doch auch außerhalb des Feldes der Tatbestandsdiagnostik überwogen Freuds Skepsis ob der Tauglichkeit der Psychoanalyse als kriminalistische “Hilfswissenschaft” und seine Sorge hinsichtlich des möglichen “Missbrauch[s] psychoanalytischer Theoreme” (ebd: 26), deren praktische Anwendung nur für den geschützten Bereich des psychoanalytischen Settings gedacht war. So äußert er etwa 1916/17 in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Bedenken, psychoanalytische Befunde, wie etwa die Fehlleistungen, als Indizien zu gebrauchen, und demonstriert dies am realen Kriminalfall eines Mannes, der seine Ehefrau 1914 mithilfe von Krankheitserregern ermordete, welche er sich von wissenschaftlichen Instituten erschlichen hatte:

Dieser Mann beklagte sich nun einmal bei der Leitung eines solchen Instituts über die Unwirksamkeit der ihm geschickten Kulturen, verschrieb sich aber dabei, und an Stelle der Worte ››bei meinen Versuchen an Mäusen oder Meerschweinchen‹‹ stand deutlich zu lesen, ››bei meinen Versuchen an Menschen‹‹. Dies Verschreiben fiel auch den Ärzten des Instituts auf; sie zogen aber, soviel ich weiß, keine Konsequenzen daraus. Nun, was meinen Sie? Hätten die Ärzte nicht vielmehr das Verschreiben als Geständnis annehmen und eine Untersuchung anregen müssen, durch welche dem Mörder rechtzeitig das Handwerk gelegt worden wäre? [...] Nun, ich meine, ein solches Verschreiben erschiene mir gewiß als sehr verdächtig, aber seiner Verwendung als Geständnis steht etwas sehr Gewichtiges im Wege. [...] Daß der Mann von dem Gedanken beschäftigt ist, Menschen zu infizieren, das sagt das Verschreiben allerdings, aber es läßt sich nicht entscheiden, ob dieser Gedanke den Wert eines klaren schändlichen Vorsatzes oder den einer praktisch belanglosen Phantasie hat. (Freud 2010 [1916/17]: 63f.)
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Dass Freud die Unverantwortlichkeit, psychoanalytische Hinweise (die immer auch auf Fantasien verweisen können, die weder in die Tat umgesetzt werden, noch bewusst sein müssen) bei realen Kriminalfällen als Beweise zu verwenden, so vehement vertritt, zeigt, dass er sich der Grenzen der Psychoanalyse bei der praktischen Anwendung durchaus bewusst war. Auch wenn er sich in seinen Werken zweifellos selbst als Meisterdetektiv inszenierte und sich in dieser Rolle gefiel, so widerstand er im Gegensatz zu Jung und anderen doch der Verlockung, sich im Gebiet der Kriminologie zu profilieren (vgl. Herren 1973: 23–61).

3. „Willkommen beim Fall“: Vienna Blood (seit 2019)

Mag Freud selber hin und wieder zur bescheidenen Inszenierung als Detektiv geneigt haben – es waren im Besonderen seine Gefolgsleute, die ihn in negativer oder positiver Färbung als Sherlock-Holmes-Epigonen verewigten. (Osterwalder 2011: 93)
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Jedoch zogen nicht nur Schüler*innen Freuds, wie Hanns Sachs oder Theodor Reik, den Vergleich zwischen Freud und Holmes, sondern auch Wissenschaftler*innen. So konkretisiert etwa der italienische Historiker Carlo Ginzburg in seinem berühmt gewordenen Aufsatz Spurensicherung die Entstehung eines sich auf die medizinische Semiotik stützenden Indizienparadigmas Ende des 19. Jahrhunderts anhand von drei Männern, die er als geistesverwandt ansieht: Sigmund Freud, Sherlock Holmes und Giovanni Morelli3 (vgl. Ginzburg 2002: 17).

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Es ist daher kaum verwunderlich, dass Freud und Holmes einander auch in der Populärkultur hin und wieder persönlich begegnet sind, zum Beispiel in Nicholas Meyers Roman The Seven-Per-Cent Solution, der in den 70er Jahren zum Bestseller wurde. Wenngleich Freud manchmal auch als Gegenspieler des Detektivs (z.B. in Cecil Jenkins Hörspiel In Sachen Sherlock H. gegen Sigmund F.) oder Mordverdächtiger (so in Carol DeChellis Hills Henry James’ Midnight Song) inszeniert wird, überwiegt bei der Mehrheit der Werke der Rückgriff auf die Figur des (männlichen) Psychoanalytikers als Ermittler. Dieser Tradition schließen sich auch die im Wien der Jahrhundertwende angesiedelten Liebermann-Krimis des britischen Autors und Klinischen Psychologen Frank Tallis an, in denen der junge Psychoanalytiker und Freud-Schüler Max Liebermann gemeinsam mit dem Polizeiinspektor Oscar Rheinhardt Mordfälle löst. Auf der seit 2005 entstehenden, bisher sieben Bände umfassenden Buchreihe basiert die von der BBC, dem ORF und dem ZDF seit 2019 realisierte Fernsehfilm-Reihe Vienna Blood, welche ihren Namen Tallis’ zweitem Roman entlehnt und bislang neun Folgen in drei Staffeln zählt.

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Die Handlung der ersten Folge Die letzte Séance setzt im Jahr 1906 ein. Der junge Neurologe Max Liebermann, der seine Karriere wie sein Vorbild Freud als Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus begonnen hat – in der zweiten Staffel wird er seine eigene Praxis eröffnen –, darf im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Studien kriminellen Verhaltens für einige Tage die Arbeit der Kriminalpolizei beobachtend begleiten und wird Inspektor Rheinhardt zugeteilt. Dieser steht Liebermann anfangs skeptisch gegenüber, wird aber schon bald von der besonderen Beobachtungsgabe des jungen Arztes verblüfft. Noch bevor die Mordermittlung in Fahrt kommt, erfolgt eine ‚Vorführung‘ dieser, denn auf die Frage, wieso er zur Erforschung kriminellen Verhaltens nicht lieber in einem Labor Gehirne seziere, entgegnet Liebermann:

Weil man den Verstand studiert, indem man die Lebenden beobachtet. Zum Beispiel: Ein Polizeibeamter, womöglich seit 20 Jahren im Dienst, in gehobener Stellung, und dennoch ist er ungeduldig, ist schwerfällig, knallt Schubladen zu, kaut Kaffeebohnen, transpiriert, obwohl es hier drinnen kalt ist. Er vergisst die Namen seiner Kollegen ... also, da muss er wohl dringend auf einen Erfolg aus sein. Nicht dringend ... verzweifelt. Womöglich ist es etwas her, dass er einen vorzuweisen hatte. (Dornhelm 2019: 09:20–09:53)
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Die Szene erinnert an die erste Begegnung zwischen Holmes und Watson in A Study in Scarlet, bei welcher der Detektiv den Arzt mit seinem Wissen darüber überrascht, dass dieser kürzlich aus Afghanistan zurückgekehrt sei. Einige Tage später klärt Holmes seinen neuen Mitbewohner Watson auf:

[...] From long habit the train of thoughts ran so swiftly through my mind, that I arrived at the conclusion without being conscious of intermediate steps. There were such steps, however. The train of reasoning ran, ‘Here is a gentleman of a medical type, but with the air of a military man. Clearly an army doctor, then. He has just come from the tropics, for his face is dark, and that is not the natural tint of his skin, for his wrists are fair. He has undergone hardship and sickness, as his haggard face says clearly. His left arm has been injured. He holds it in a stiff and unnatural manner. Where in the tropics could an English army doctor have seen much hardship and got his arm wounded? Clearly in Afghanistan.’ The whole train of thought did not occupy a second. I then remarked that you came from Afghanistan, and you were astonished”. (Doyle 2016 [1887]: 19f.)
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Auch Rheinhardt ist von Liebermanns Bemerkung erstaunt und erkundigt sich am nächsten Tag, woher dieser gewusst habe, wie es ihm gehe. Der Neurologe verweist auf seinen Lehrer Freud, den Mann, der

behauptet, alles was man über einen Menschen wissen möchte, erfährt man über Beobachtung. Man sieht es seiner Kleidung an oder seinen Eigenarten. Wie er einen Stift hält, oder eine Kaffeetasse. Er lehrt, dass das menschliche Verhalten zu uns spricht, unsere Marotten, unsere kleinen Scherze. Ja sogar die Fehler, die wir machen. Der noch so feinste Unterschied und jede Nuance verrät etwas davon, was in unserem Inneren vorgeht. (Dornhelm 2019: 20:16–20:47)
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Wie Holmes ‚liest‘ Liebermann sein Gegenüber, indem er intuitiv vorgeht. Im Gegensatz zu dem Detektiv, der sich häufig auf Äußerlichkeiten konzentriert, ist es jedoch „das Innere“ der Menschen bzw. vor allem der Täter*innen, das den jungen Arzt besonders interessiert. In seiner Zusammenarbeit mit Rheinhardt stellt er immer wieder die Frage nach dem Wesen der Mörderin oder des Mörders in den Mittelpunkt: Wie ist jemand, der so handelt? Entsprechend der Rückschlüsse, die Liebermann etwa aus der Art und Weise des Verbrechens zieht, erstellt er ein Profil – zu dem die Verdächtigen passen, oder eben nicht. „Das war er nicht“ ist ein Satz, der in Vienna Blood nach gemeinsamen Verhören mit Rheinhardt häufig fällt; so etwa in der zweiten Folge Königin der Nacht, als Liebermann trotz erdrückender Indizienlage von der Unschuld eines Verdächtigen überzeugt ist, weil er diesen als zu sanftmütig für eine solch brutale Tat einschätzt. Die Kombination aus genauem Hinsehen und Intuition zeichnet seine Methodik aus, die man als eine frühe Form des Profiling bezeichnen könnte.

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In seltenen Fällen spielen bei den Ermittlungen auch konkrete Theorien und Erkenntnisse der Psychoanalyse eine Rolle, hier vor allem die Fehlleistungen. So dient etwa in der ersten Folge ein durch „ich“ ersetztes „wir“ im (vom Mörder erzwungenen) Abschiedsbrief des Opfers als Indiz für die Schwangerschaft der jungen Frau. Den Schritt, von einer Fehlleistung auf die Täterin oder den Täter zu schließen – vor dem Freud, wie oben beschrieben, gewarnt hat –, geht die Serie jedoch nicht, zumindest nicht in den bisher veröffentlichten drei Staffeln. Auch die von Jung in der Realität erprobte Methode des Assoziationsexperiments kommt nicht vor. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Psychoanalyse in Vienna Blood nicht nur die Funktion einer kriminalistischen Hilfswissenschaft einnimmt, um die Frage nach dem wer zu klären, sondern bei manchen Fällen auch den Schlüssel zum warum darstellt. Dies wird besonders in der zweiten Folge augenscheinlich, in welcher der sogenannte „Mozartmörder“ anhand seiner Opfer die Zauberflöte „nachstellt“. Es handelt sich um den Bühnenbildner Olbricht, der in seiner Kindheit die Vergewaltigung seiner Mutter hinter den Kulissen der Oper miterleben musste, während das genannte Stück gespielt wurde. “Sie glauben, wenn Sie die Figuren dieser Oper umbringen, die Figuren Ihrer Kindheit, dann werden die Schreie aufhören” (Dağ 2019: 01:23:50), konstatiert Liebermann im Showdown der Folge und diagnostiziert Olbricht, eigentlich ein Kind zu sein, “das seine Alpträume töten will” (ebd.: 01:24:18).

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Bemerkenswert ist, dass Rheinhardt und Liebermann, die gute Freunde werden und in weiterer Folge immer wieder gemeinsam ermitteln, einander auf Augenhöhe begegnen. „Willkommen beim Fall“ lautet der wiederkehrende Ausspruch, sobald einer den anderen von einer Theorie überzeugt hat. Der Inspektor ist kein den großen Detektiv bewundernder Watson, sondern ein gewissenhafter Polizist, der mit klassischen Polizeimethoden (etwa Indizienbeweise, Zeugen, Beschattung) arbeitet, jedoch auch offen für Neues ist. Neben Profiling wird in Vienna Blood ebenso eine frühe Form der Spurensicherung eingesetzt, denn in einigen Folgen wird das Duo – auf Vorschlag von Liebermann – durch die junge Wissenschaftlerin Amelia Lydgate unterstützt, die Partikel der Tatorte analysiert.

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Und der Vater der Psychoanalyse selbst? Während Liebermanns Vorbild in den Romanen immer wieder auftaucht und von seinem Schüler des Öfteren bei Fällen um Rat gefragt wird, ist er in Vienna Blood nur zu Beginn der ersten Folge kurz in einer Szene zu sehen, in der Liebermann an einem Vortrag Freuds über die Psychopathologie des Alltagslebens teilnimmt. Haben die Macher*innen der Fernsehfilm-Reihe sich grundsätzlich dafür entschieden, reale Personen eher auszusparen, so schlägt die etwa zeitgleich entstandene, sich ebenfalls dem Topos des Psychoanalytikers als Detektiv widmende Serie Freud einen vollkommen anderen Weg ein.

4. Hypnose als Methode zur Wahrheitsfindung: Freud (2020)

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Nur wenige Monate nach der ersten Staffel von Vienna Blood, im März 2020, erfolgte die Ausstrahlung der achtteiligen Anthologieserie Freud im ORF und auf Netflix. Im Gegensatz zu der Fernsehfilm-Reihe erzählt die Serie die Geschichte eines sich über alle Folgen ziehenden Falls, der im Wien des Jahres 1886 angesiedelt ist. Fiktive Figuren treffen auf reale Persönlichkeiten, allen voran Sigmund Freud, doch auch sein damaliger Mentor Josef Breuer, der Psychiater Theodor Meynert sowie Arthur Schnitzler - mit dem Freud in der Serie gut befreundet ist, wenngleich es in der Realität bis 1906 wenige Berührungspunkte gab (vgl. Müller-Seidel 1997: 34) - haben ihre Auftritte, ebenso wie Kaiser Franz Joseph I. und sein Sohn Kronprinz Rudolf.

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Freud, zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Vater der Psychoanalyse, sondern ein junger Arzt in der psychiatrischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses, verbrachte 1885/86 einen mehrmonatigen Aufenthalt in Paris, wo Jean-Martin Charcot “die Hypnose den Quacksalbern und Scharlatanen entrissen und für die ernsten Zwecke der psychischen Heilung eingesetzt” (Gay 1989: 62) hatte, was Freud nachdrücklich beeindruckte. Die Serie setzt kurz nach Freuds Rückkehr nach Wien ein, zu einem Zeitpunkt, als er selbst begann, mit dieser Methode zu arbeiten, jedoch noch keine besonderen Erfolge vorweisen konnte und auch noch nicht die finanziellen Mittel hatte, um seine Verlobte Martha Bernays heiraten zu können. “Im Frühjahr 1886 waren Freuds Aussichten so ungewiß wie zuvor” (ebd.: 67), stellte der Freud-Biograf Peter Gay fest.

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Diese unstete Ausgangssituation macht Freud sich zunutze, indem die Serie ihren Protagonisten als permanent Scheiternden einführt, der die “therapeutische Revolution” (Kren 2020, Ep. 1: 04:00), wie er die Hypnose in der ersten Folge bezeichnet, selbst noch gar nicht beherrscht und bei einer Demonstration ihrer Wirkung daher auf eine “Scharad” (ebd.: 03:55) zurückgreifen muss. Auch gelingt es ihm nicht, eine junge Frau, das Opfer einer Stichverletzung, zu retten, das der diensthabende Polizist Alfred Kiss zu Freud bringt, weil er der dem Tatort nächstgelegene Arzt ist. Die Begegnung der beiden erweist sich jedoch als bedeutend, denn der Mord ist erst der Beginn einer Reihe blutiger Ereignisse, bei deren Entdeckung und Aufklärung Freud helfen kann: Das junge Medium Fleur Salomé, seine neueste Patientin, wird von Visionen über Verbrechen geplagt, die sich als wahr herausstellen. Durch Hypnosesitzungen mit Freud gelingt es ihr, Details zu erkennen und die Polizei zu zwei weiteren Tatorten zu führen. Während Kiss seine Untersuchungen aufnimmt und auf Zeugenaussagen wie Indizien vertraut, ist die Rolle Freuds weniger die des (polizeilich) Ermittelnden als des behandelnden Arztes, seine Methode zur Wahrheitsfindung die Hypnose.

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Wenngleich viele der in der Serie verwendeten Begrifflichkeiten und Theorien – etwa das Unbewusste, Verdrängung, Trieb – in der Realität erst später zum Vokabular Freuds gehören sollten, verwendete er die Hypnose bis in die Mitte der 1890er Jahre, um “die signifikanten Erinnerungen hervorzulocken, die seine Patienten nur widerstrebend preisgaben” (Gay 1989: 86). Denn, wie es in seinem Text Die Abwehr-Neuropsychosen aus dem Jahr 1894 heißt:

Wenn die Bewußtseinsspaltung der akquirierten Hysterie auf einem Willensakt beruht, so erklärt sich überraschend leicht die merkwürdige Tatsache, daß die Hypnose regelmäßig das eingeengte Bewußtsein der Hysterischen erweitert und die abgespaltene psychische Gruppe zugänglich macht. Wir kennen es ja als Eigentümlichkeit aller schlafähnlichen Zustände, daß sie jene Verteilung der Erregung aufheben, auf welcher der „Wille“ der bewußten Persönlichkeit beruht. (Freud: 1952 [1894]: 64)
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Bemerkenswert ist, dass die Hypnose in der Serie nicht nur als Instrument zur Behandlung und Wahrheitsfindung dient, sondern ihr auch eine weitere, entgegengesetzte Funktion zukommt: Durch sie soll der von nationalistischen Motiven getriebene Plan, ein Attentat auf den Kaiser zu verüben und eine Revolution anzuzetteln, verwirklicht werden. Als Drahtzieher*innen des Komplotts erweisen sich die Zieheltern Fleurs, Graf und Gräfin von Szápáry. Letztere ist der Hypnose mächtig und nutzt diese, um ihr unliebsame Zeug*innen – etwa Freud selbst, was jedoch nicht funktioniert – in den Selbstmord zu treiben, vor allem aber, um Fleur gegen ihren Willen zu beeinflussen. Denn das junge Medium, das an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet, entfaltet, sobald die zweite Persönlichkeit Táltos geweckt wird, suggestive Kräfte, welche sich an der Grenze zum Übernatürlichen bewegen. “Wir können die Dunkelheit der Menschen sehen. Wir können sie als Waffe einsetzen. [...] Wir können mit den Toten reden und machen uns die Lebendigen hörig, wir können heilen und verfluchen” (Kren 2020, Ep. 7: 39:43–39:57), so Táltos in einer Schlüsselszene. Sie ist es gewesen, die – ohne sich später als Fleur daran zu erinnern – in Zeremonien im Palais Szápáry junge, für Okkultes empfängliche Männer der aristokratischen Schicht gefügig gemacht hat, mit dem Ziel, dass diese, auf ein Codewort reagierend, am bald stattfindenden Ball der Völker ein Gemetzel anrichten würden. Doch bei manchen lässt sich, wie es in der Serie heißt, das einmal befreite “Tier, das in uns allen haust” (Kren 2020, Ep. 8: 19:31), nicht mehr einsperren. Das ‚Es‘ übernimmt die Oberhand und legt die geheimsten Gewaltfantasien der Männer frei, die in einer Art somnambulem Wachzustand in die Realität umgesetzt werden. Die von Kiss untersuchten Gewalttaten unterliegen somit keiner bewussten Motivation der Täter, die nach Aufhebung der Hypnose keinerlei Erinnerung an diese haben. Logik alleine kann das Rätsel nicht lösen. Herkömmliche Polizeimethoden und Indizien (etwa ein am Tatort zurückgelassener Knopf) führen Kiss zwar durchaus zu den die Verbrechen Verübenden, um das dahinterliegende Geheimnis zu lüften, braucht es aber die Psychoanalyse. Freud gelingt es, die Somnambulen zum Teil aus ihrem Zustand zu befreien, sowie die verdeckten Schichten des Unbewussten ans Licht zu bringen.

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Dadurch, dass die Methode der Hypnose nicht nur als – wenn auch umstrittenes – wissenschaftlich erklärbares Phänomen dargestellt wird, sondern im Falle Fleurs auch paranormale Aspekte eine Rolle spielen (etwa ist es ihr möglich, Menschen ‚einzufrieren‘), wirft die Serie die schon in der Literatur der Romantik verhandelte Frage auf, ob “ihre Geschehnisse natürlichen und innerpsychischen Ursprungs sind oder als das Wirken unbekannter und unverstandener, die Kausalgesetze außer Kaft setzender bzw. überschreitender Kräfte zu begreifen sind” (Barkhoff 2013: 417). Auch bei der in Freud präsentierten Dichotomie der heilenden vs. der dämonischen Facette der Hypnose handelt es sich um ein in der Kulturgeschichte der Phantastik fruchtbares Motiv. Wie der Germanist Jürgen Barkhoff konstatiert, hat die Angst davor, “inwieweit die transgressiven, fremdinduzierten Trancen die Schranken von Moral und Gesetz überwinden und ihre Objekte zu willenlosen Instrumenten unter Hypnose verübter Verbrechen reduzieren könnten” (ebd.: 419), vor allem in die phantastische Literatur des späten 19. Jahrhunderts und den expressionistischen Film des frühen 20. Jahrhunderts Eingang gefunden, etwa in Guy de Maupassants Le Horla (1886), Arthur Schnitzlers Paracelsus (1898) oder Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920). Freud verweist mit visuell verstörend-beklemmenden Bildern auf diese Tradition, zugleich wird das Motiv des von außen kommenden Zwangs zum Töten in der Serie auch mit den traumatischen Erlebnissen von Soldaten im Krieg enggeführt: In Rückblenden sehen die Zuschauer*innen, wie Kiss auf Befehl seines Vorgesetzten und in der Hoffnung, damit seinen Sohn – einen wieder eingefangenen Deserteur – zu retten, Gefangene töten muss; ein für ihn traumatisches Erlebnis. Wie Fleur und auch Freud selbst wird er von Alpträumen geplagt. Immer wieder verschwimmen in Freud die Grenzen zwischen Realität, Traum, Vision, von Kokain berauschtem Zustand und Hypnose. Dass die Serie sich dennoch fundamental von den Werken der Phantastik unterscheidet, liegt daran, dass sie – zumindest bis zu einem gewissen Grad – an die Plotstruktur des Krimis gebunden ist. Was in der phantastischen Literatur durch die “phantastische Ununterscheidbarkeit zwischen Wahn und Wirklichkeit” (ebd.: 419) zumeist im Unklaren bleibt, muss in Freud notgedrungen zur Auflösung gebracht werden, um die “Geheimnis- oder Rätselspannung” (Nusser 2009: 32) des Whodunit zu befriedigen. Keinesfalls handelt es sich bei dieser Produktion allerdings um eine klassische Detektivgeschichte; vielmehr verbinden sich Elemente des Polizeikrimis (Handlungsstrang Kiss) und der Gothic Fiction (Handlungsstrang Fleur), um sich im auf einen rasanten Showdown zusteuernden Finale zum Thriller zu entwickeln.

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Abschließend kann festgehalten werden, dass die etwa zur selben Zeit fürs Fernsehen und für Streaming-Dienste entstandenen Projekte Vienna Blood und Freud zwar beide die Verbindung von Psychoanalyse und Polizeiarbeit thematisieren, sich dieser aber höchst unterschiedlich nähern, was das Schema, die Motivik, aber auch den allgemeinen Ton betrifft. Während Vienna Blood von einem der Detektivgeschichte in der Tradition Poes und Doyles inhärenten Optimismus und dem Glauben an Rationalität und Fortschritt getragen wird, präsentiert Freud eine düstere, alptraumhafte Welt, in der nicht nur der mögliche Missbrauch von Methoden der Psychoanalyse vorgeführt, sondern auch das Vertrauen des Individuums in sich selbst radikal infrage gestellt wird.

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In den Sherlock-Holmes-Geschichten wird Holmes’ Methode als Deduktion bezeichnet. Wie Thomas und Jean Sebeok jedoch dargelegt haben, handle es sich bei der Vorgangsweise des Meisterdetektivs eigentlich um das von Charles S. Peirce beschriebene Prinzip der Abduktion: Im Gegensatz zur Induktion oder Deduktion entsteht die der Abduktion zugrunde liegende Hypothese nicht durch strenges logisches Denken, sondern aus einem sinnlichen “Akt der Einsicht” (Sebeok/Sebeok 1982 : 37) heraus, welche uns “wie ein Blitz trifft” (ebd.) – aus diesem Grund stellt das durch den kreativen Moment geprägte Abduzieren für Pierce auch die einzige “originäre Schlußform” (ebd.: 38) dar; nur sie erlaubt es, “neuartige Vorstellung[en]” (ebd.) hervorzubringen.

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Nachdem Holmes Watson mit seinen Ableitungen verblüfft hat, gibt er zu, dass es eine Sache der Wahrscheinlichkeit sei, Recht zu haben: “Ah, that is good luck. I could only say what was the balance of probability. I did not at all expect to be so accurate.” (Doyle 1994 [1889]: 7)

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Giovanni Morelli war ein Kunsthistoriker, dessen sogenannte Morelli-Methode durch den Blick auf unauffällige Details wie Ohren, Hände oder Füße Originale von Kopien zu unterscheiden versucht.

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Nicole Kiefer

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