Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Claudia Dürr und 

Wolfgang Straub

Editorial

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Wiener Digitale Revue 6 (2025)

www.univie.ac.at/wdr

Abstract

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WRITING FASHION: Die 6. Ausgabe der Wiener Digitalen Revue sieht im Phänomen Mode eine wesentliche Figuration der Moderne. Sie spannt den Bogen von Maria Theresia bis in die Gegenwart, von Jane Austen bis Teresa Präauer, von Jugendliteratur bis zum Feuilleton – und ergründet die Erzählungen von der ,Wiener Mode‘. Mit dieser Nummer der Wiener Digitalen Revue startet unser Podcast mit dem Kulturwissenschaftler Florian Ronc und der Malerin Raja Schwahn-Reichmann (Host: Stefan Sonntagbauer).

The 6th edition of the Wiener Digitale Revue sees the phenomenon of fashion as an essential figuration of modernity. It spans the arc from Maria Theresa to the present day, from Jane Austen to Teresa Präauer, from youth literature to the feuilleton – and explores the narratives of ‘Viennese fashion’. This issue of the Wiener Digitale Revue marks the launch of our podcast with cultural studies scholar Florian Ronc and painter Raja Schwahn-Reichmann (host: Stefan Sonntagbauer).

Volltext

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„Schiebe ich die Kleidung zwischen mich und das Nichts, damit ich dableiben kann, ohne daß man merkt, daß ich da war?“
Elfriede Jelinek: Mode
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Die sechste Ausgabe der Wiener Digitalen Revue widmet sich dem Thema Mode: WRITING FASHION. Bei einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema ist zu berücksichtigen, dass im deutschsprachigen Raum die Punzierung der Mode als oberflächliches, nebensächliches Phänomen noch ein wenig durchleuchtet. Begründet liegt diese Positionierung etwa an Denkern wie dem Sozialwissenschaftler Georg Simmel, der in seiner Schrift Die Mode (1911) gegen die zunehmende Schnelllebigkeit seiner Zeit anschreibt, oder an Schriftstellern wie Stefan Zweig, der – ins selbe Horn stoßend – die „Diktatur der Mode“ 1925 in einem Feuilleton als großen Schritt Richtung „Monotonisierung der Welt“ ausmacht. Die Auseinandersetzung mit Mode erscheint als eine Art Königswegs zur Theorie der Moderne: beide sind flüchtig, beschleunigt und stetem Wandel unterlegen.

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Durch vielfältige sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Modetheorie konnten die pejorativen Sichtweisen mittlerweile verdrängt werden. Und viele Denker:innen waren dem Phänomen gegenüber aufgeschlossen. Walter Benjamin etwa sah in der bekannten Passage aus Über den Begriff der Geschichte in der Mode einen gesellschaftlichen Seismographen: „Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert.“ (Benjamin 1991: 677) Einflussreich waren Roland Barthes’ semiotische Arbeit an der ,Übersetzung‘ des Phänomens Mode in Sprache (vgl. Barthes 1985) oder Pierre Bourdieus strukturelle Homologie von „haute couture“ und „haute culture“, seine Einbindung der Mode in die Analyse sozialer Distinktion (vgl. Bourdieu 1993). Barbara Vinken (vgl. u.a. Vinken 2022) setzt wertvolle Akzente zur Geschlechtertheorie der Mode sowie zum Verständnis von Crossdressing; Elena Esposito (vgl. Esposito 2004) fasst die Paradoxien der Mode zusammen, indem sie den Wechselwirkungen von Distinktion und Nachahmung nachgeht.

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Mode hat die Fähigkeit, die reale Welt und das Imaginäre „ineinander zu blenden und dem realen Leben eine mythische Qualität, und zugleich dem imaginierten Leben ein Realitätsprädikat zu verleihen.“ (Kraß 2006: 11) Mode scheint unvorhersehbar ihre Launen zu diktieren – und ist doch ein Spiel nach Regeln, ein differenziertes Zeichensystem im historischen Wandel. Wer den Dresscode beherrscht, nicht over-, nicht underdressed ist, ist im Besitz des entsprechenden Wissens – und der entsprechenden Kleidung. Für die Literatur interessant erscheint das Phänomen Mode, weil sich in ihr zahlreiche Dimensionen des Lebens in der Moderne bündeln und wechselseitig aufeinander beziehen: religiöse, ästhetische, mediale, historische, ökonomische, psychologische, soziale, ethische, politische, geschlechtsspezifische und andere mehr (vgl. Kutschbach/Schmieder 2015: 11)

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WRITING FASHION: Dieser Schwerpunkt der Wiener Digitalen Revue ergründet in Einzelanalysen das „epistemologische Potenzial der Mode als wesentliche Figuration der Moderne“ (Bertschik 2005: 108). Zwei Beiträge tun dies anhand von (vermeintlicher) Jugendliteratur, in denen erzählter Mode aufgrund ihrer Thematisierung von Übergangsprozessen, Orientierungs- und Anpassungsversuchen besondere Bedeutung zukommt: Iris Schäfer geht den diskursiven Formationen von Mode in Jeff Zentners Jugendroman Gemeinsam sind wir Helden (2020, The Serpent King, 2016) auf den Grund; Oxane Leingang beschreibt Richmal Cromptons Just William-Serie, die sich vornehmlich an ein erwachsenen Lesepublikum richtete, als „kostümhistorisches Museum“ und arbeitet heraus, wie die von Autorin und Illustrator dokumentierten Dresscodes und Modeerscheinungen das Klassenbewusstsein der Mittelschicht ventilieren.

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Jane Austen and France Burney setzten sich in ihren Romanen ausführlich mit dem Thema Mode auseinander, um 1800 kam es zu radikalen Änderungen auf dem Gebiet der Mode. Anna Mochar stellt in ihrem Beitrag die Beziehung zwischen Mode und Generationenbeziehungen in den Romanen in den Mittelpunkt – exemplarisch im Kontrast zwischen einer frivolen, modeinteressierten Mutterfigur und einer bodenständigen Tochterfigur. Karin Wozonig setzt sich mit der zu ihren Lebzeiten berühmten und renommierten Lyrikerin und Feuilletonistin Betty Paoli und ihren Ansichten zur Mode auseinander: Paoli beschäftigte sich in ihrem Schaffen bereits vor der sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung mit Geschlechterstereotypen und Mode. Und Florian Ronc wendet sich in seiner „Geschichte des schlechten Geschmacks“ gegen immer wieder abgerufene Topoi der Wiener Modegeschichtsschreibung und vertieft sich dafür u.a. in die Briefe Maria Theresias an ihre Tochter Marie Antoinette in der Modemetropole Paris.

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Unsere Rubrik „Schwarzes Brett“ beschäftigt sich diesmal durchgehend mit dem Schwerpunktthema Mode. Michaela Lindinger zeigt ein aufschlussreiches Exponat aus dem Wienmuseum; Tanja Kreidenhuber untersucht die Bedeutung der Schürze in Teresa Präauers Kochen im falschen Jahrhundert; Lisa Damm unternimmt eine „dressierende“ Lektüre von Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin; und Norbert Bachleitner fokussiert auf die Wiener Mode um 1800.

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„Aus der digitalen Praxis“ stellt drei DH-Projekt vor: die digitale Edition der „Schaubühne“-Jahrgänge (Imelda Rohrbacher), eine Untersuchung der kroatischen Sprachgeschichte während des Ustascha-Regimes (Elias Bounatirou) und die Erforschung von Quellcodes auf Basis kulturwissenschaftlicher Ansätze (Simon Roloff). Anne Baillot stellt ihre Bemühungen und Angebote zu einer Erleichterung einer nachhaltigen Forschung in den digitalen Geisteswissenschaften vor.

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Schließlich gehen wir neue mediale Wege: Mit dieser Nummer der Wiener Digitalen Revue startet der gleichnamige Podcast mit unserem Host Stefan Sonntagbauer. Wir beginnen mit zwei Folgen: Florian Ronc spricht über die zentralen Thesen seines schriftlichen Beitrags und ergänzt ihn im Gespräch um viele gegenwärtige Aspekte. Und die Malerin und Restauratorin Raja Schwahn-Reichmann erzählt von ihrer Sammlertätigkeit und den Herausforderungen der Bewahrung der Kleidersammlung der Dichterin Elfriede Gerstl.

Literaturverzeichnis

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  • Barthes, Roland: Die Sprache der Mode [1967]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.
  • Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 691–704.
  • Bertschik, Julia: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln/Weimar: Böhlau 2005.
  • Bourdieu, Pierre: „Haute Couture“ und „Haute Culture“ [1974], in: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 187–196.
  • Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
  • Jelinek, Elfriede: Mode, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 24.3.2000.
  • Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen: Francke 2006.
  • Kutschbach, Christine und Schmieder, Falko (Hg.): Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin: Kadmos 2015.
  • Simmel, Georg: Die Mode [1911], in: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin: Wagenbach 1983, S. 38–63.
  • Vinken, Barbara: Ver-Kleiden. Was wir tun, wenn wir uns anziehen. Wien/Salzburg: Residenz 2022.
  • Zweig, Stefan: Die Monotonisierung der Welt, in: Neue Freie Presse, 31.1.1925, S. 1–5.

Autor·innen

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Claudia Dürr

Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Wolfgang Straub

Wienbibliothek im Rathaus