Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Iris Schäfer

Von Marken, Brandmarkungen und der Erhabenheit des Seins

Erzählte Mode als diskursive Formation in Jeff Zentners Jugendroman Gemeinsam sind wir Helden (2020)

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Wiener Digitale Revue 6 (2025)

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Abstract

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In Texten der Jugendliteratur, die adoleszente Konflikte, d.h. mentale und realweltliche Übergangsprozesse, Orientierungs- und Anpassungsversuche thematisieren, kommt erzählter Mode besondere Bedeutung zu. Für deren Analyse bieten sich neben modephilosophischen Erwägungen ebenso entwicklungspsychologische Zugriffe an. Da Modekörper nicht per se vorhanden sind, sondern hergestellt werden und der Wahrnehmung und Deutung bedürfen, um ihre Wirkmacht zu entfalten, wählt der vorliegende Beitrag einen diskursanalytischen Zugriff für die Analyse erzählter Mode(n) in Jeff Zentners Debutroman The Serpent King (2016; dt. Zusammen sind wir Helden, 2020).

In texts of young adult literature that address adolescent conflicts, i.e. mental and real-world transition processes, attempts at orientation and adaptation, narrated fashion is of particular importance. In addition to fashion-philosophical considerations, developmental psychological approaches also lend themselves to their analysis. Since fashion bodies do not exist per se, but are produced and require perception and interpretation in order to unfold their power, this article chooses a discourse-analytical approach for the analysis of narrated fashion(s) in Jeff Zentner's debut novel The Serpent King (2016; German: Zusammen sind wir Helden, 2020).

Volltext

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Mode bewegt sich im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit; sie braucht die öffentliche Aufmerksamkeit, um ihre Wirkmacht entfalten zu können, und darin, wie Einzelne auf aktuelle Modediktate reagieren, gelangt Individualität zur Darstellung. Aus diesem Grund erweist sich dieses gemeinhin als oberflächlich betrachtete Phänomen als prädestiniert, um literarische Figuren mit Tiefe zu versehen. Wie verhalten sich Figuren zum modischen Diktum? Verstecken sie sich hinter fremden Namen/Marken, oder nutzen sie modische Trends, Farben und Materialien, um einen eigenen Stil zu generieren und so eine individuelle Lesart der sich stetig im Wandel befindlichen Sprache der Mode über den Körper sichtbar zu machen? Barbara Vinken bringt dieses Potenzial der (erzählten) Mode auf den Punkt: „Die Mode, kann man mit Ferdinand de Saussures berühmter Unterscheidung sagen, gibt mit ihren wechselnden Vorgaben die Sprache (langue) an, die jeder beherrschen muss, um darin seine individuelle Redeweise (parole) ausbilden zu können.“ (Vinken 2016a: 158) Vinken macht deutlich, dass in der Auseinandersetzung mit modischen Trends ein Lernprozess zum Ausdruck kommt. So ließe sich die Kompetenz, diese Sprache zu sprechen, als das Ergebnis einer kulturellen Sozialisation beschreiben, die zudem von individuellen Vorlieben, höchst persönlichem ästhetischen Empfinden und Kreativität zeugt. Dass der erzählten Mode gerade in solchen Texten eine besondere Rolle zukommt, die adoleszente Konflikte, d.h. mentale und realweltliche Übergangsprozesse, Orientierungs- und Anpassungsversuche thematisieren, ist daher naheliegend. So bieten sich für die Analyse der in der Jugendliteratur erzählten Mode neben modephilosophischen Erwägungen ebenso entwicklungspsychologische Zugriffe an.

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Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte man das modische Diktum im Bereich des Über-Ichs bzw. Ich-Ideals verorten. Von anderen hier angesiedelten Instanzen wie jenen der Eltern oder Lehrkräfte unterscheidet es sich maßgeblich durch seine Fluidität, da sich modische Trends in einem stetigen Wandel befinden, was eine zeitnahe Beschäftigung mit und Umsetzung von modischen Vorgaben erfordert, um als Individuum mit dem Prädikat der Modebewusstheit versehen zu werden. Die spielerische Auseinandersetzung mit modischen Trends kann sich als nutzbringend für die Individuation erweisen. Eine solche, auf Selbstdarstellung und Selbstfindung ausgerichtete Praxis kann sowohl im analogen als auch im virtuellen Raum ausagiert werden. Auf Onlineforen wie Modeblogs, die auch in Jeff Zentners Jugendroman eine zentrale Funktion einnehmen, dominiert meist die visuelle Dimension. Die Fotografie hält ein individuelles, modisches Idealbild fest, das im virtuellen Raum fixiert und somit von einem realen Körper losgelöst ist. Im analogen Raum erweist sich die individuelle Auseinandersetzung mit modischen textilen Umhüllungen hingegen als überaus intime Praxis, da Mode an den Körper gebunden ist, mitunter die Körperhaltung, die Bewegungsfreiheit, ja sogar Mimik und Gestik beeinflusst, weshalb sie als Körpersprache aufgefasst werden kann.

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Gertrud Lehnert geht davon aus, dass Mode auf einer „Wechselwirkung von Kleidern und Körpern“ (Lehnert 2015: 37) beruht, wobei sich Menschen und Textilien wechselseitig inszenieren, beeinflussen und verändern. Denn im Verlaufe dieses Prozesses entstehe „immer ein drittes, der Modekörper,“ (ebd.) der mit einem Geschlechtskörper zusammenfalle und lesbar wird. Der Modekörper ist ebenso wie der Geschlechtskörper als diskursives Konstrukt zu verstehen, das performativ erzeugt wird und dementsprechend von spezifischen Inszenierungspraktiken, Lesarten und Bedeutungszuweisungen abhängig ist. Modekörper sind demnach nicht per se vorhanden; sie werden hergestellt und bedürfen der Wahrnehmung und Deutung, um ihre Wirkmacht zu entfalten. So sei die Mode „zwar an materielle Objekte gebunden, aber sie entfaltet sich als Mode vor allem als Idee oder besser noch: als Diskurs.“ (Ebd.: 18) Aus diesem Grund scheint ein diskursanalytischer Zugriff für die Analyse erzählter Mode(n) naheliegend, was im weiteren Verlauf am Beispiel von Jeff Zentners Debutroman The Serpent King (2016; dt. Zusammen sind wir Helden, 2020) exemplifiziert wird.

1. Erzählte Mode und Diskursanalyse

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Modische Trends können im Sinne Foucaults als „diskursive Formationen“ (Foucault 2022: 156) verstanden werden, d.h. als Serie von über am Körper getragene kommunizierte Aussagen, denen bestimmte Existenzmodalitäten zugrunde liegen und die spezifischen Verbreitungs- und Verteilungsprinzip folgen (vgl. ebd.). Ähnlich wie der medizinische Diskurs, den Foucault in Die Geburt der Klinik (1963) beschreibt, artikuliert sich der Diskurs der Mode über Praktiken, „die ihm äußerlich und selbst nicht diskursiver Natur sind“ (Foucault 2022: 234; vgl. Bogdal 2006: 20). Als Nichtdiskursiv kann diese Formation daher aufgefasst werden, weil sie Diskurse betrifft, die nicht in Sprache aufgehen wie etwa die Körpersprache. Denn wie der von einer sichtbaren Krankheit gezeichnete Körper, kann auch der modisch geschmückte Körper zu einem lesbaren Zeichen werden. Mit Blick auf die Modegeschichte und Modetheorie wird dieser Umstand schon von Thomas Carlyle in Sartor Resartus: Die Körperschaft der Dandys (1833/1834) oder Charles Baudelaire in Der Maler des modernen Lebens: Der Dandy (1863) ausformuliert.

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Sofern Mode als diskursive Formation begriffen wird, überlagern sich – ähnlich wie im Fall des medizinischen Diskurses – unterschiedliche Wissenssysteme, wobei das Archiv der zur Verfügung stehenden Begriffe, mit denen das Phänomen sprachlich fixiert werden könnte, einem stetigen Wandel unterliegt, besteht doch eine prägnante Charakteristik der Mode in ihrer Kurzlebigkeit, worauf schon Giacomo Leopardi in seiner Satire Die Mode und der Tod (1824) eingeht. Wer also den Regeln der historischen Diskursanalyse im Sinne Foucaults folgt, wird sogleich an Grenzen stoßen, setzt diese Forschungsperspektive doch eine zeitliche Distanz zum Archiv (vgl. Foucault 2022: 189) voraus, um eine kritische Deutung vornehmen zu können. Allenfalls mit Blick auf mittlerweile aus der Mode geratene Kleidungsstücke, wie etwa das Mieder, ist die erforderliche zeitliche Distanz gegeben. Was die Mode als Phänomen betrifft, werden wir uns nie außerhalb der Regeln des Diskurses bewegen, denn obgleich modische Trends äußerst kurzlebig sind, erweist sich die Mode selbst als ebenso beständig wie die Krankheit oder der Tod (vgl. Leopardi 1824). Unabhängig hiervon ist es durchaus möglich, Aussagen über die Existenzbedingungen und die Auswirkungen vergangener und gegenwärtiger modischer Diskursthemen und -stränge, diskursiver Verschränkungen und Diskurspositionen (vgl. Jäger 2015: 80f.) zu treffen, was im Folgenden demonstriert wird.

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Im Zuge der Analyse von Zentners Jugendroman werden auch die Fragen danach beantwortet, wie die erzählte Mode für die Figurenkonstruktion nutzbar gemacht wird, auf welche Weise sie als strukturierendes Prinzip dem Spannungsaufbau dient und als Motiv über sich hinaus weist, um auf semantischer Ebene die hier verhandelten zentralen Fragen zu perspektivieren, etwa nach der Vergänglichkeit der Jugend, der Macht der Vorhersehung und der Wirkmacht der individuellen Existenz.

2. Ein erzählter Modeblog als diskursiver Knotenpunkt

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Jeff Zentners multiperspektivischer Jugendroman Zusammen sind wir Helden kreist um drei 17-jährige Figuren aus einer fiktiven Kleinstadt in Tennessee, die an der Schwelle zum letzten Highschooljahr stehen und sich im Angesicht der finalen Sommerferien mit existenziellen Fragen befassen. Während die aktive, erfolgreiche Modebloggerin Lydia ihrer Zukunft an einer New Yorker Universität mit Freude und Spannung entgegensieht, hadern ihre besten Freunde Dill und Travis mit ihrem künftigen Erwachsenenleben. Dill ist ein introvertierter Pastorensohn, dessen Vater wegen des Besitzes von Kinderpornografie im Gefängnis sitzt. Travis unternimmt den Versuch, mit eskapistischer Lektüre von Fantasyromanen seinem gewalttätigen und alkoholsüchtigen Vater zu entkommen und den Verlust seines großen Bruders zu kompensieren. Die beiden Hauptfiguren Lydia und Dill sind kreative Außenseiter. Er schreibt Songs und sie kreiert einen höchst eigenen modischen Stil, mit dem sie im konservativ-christlich-homophob und rassistisch geprägten Milieu der fiktiven, nach dem Ku-Klux-Klan Mitbegründer Nathan Bedford Forrest benannten Stadt Forrestville aneckt. Sich in diesem Setting modisch, d.h. nicht dem Mainstream entsprechend zu kleiden, wird als waghalsiges und womöglich lebensbedrohliches Unterfangen geschildert. Denn obgleich die allwissende Erzählinstanz bemerkt: „Lydia ging ohne perfektes Outfit nirgendwohin.“ (Zentner 2020: 107), geht sie ebenso niemals ohne Taser und Pfefferspray aus dem Haus, denn: „Ich bin eine selbstbewusste, lautstarke Frau im Licht der Öffentlichkeit. Ich treffe Vorsichtsmaßnahmen“ (ebd.: 111). Die Auseinandersetzung mit individuellen Lesarten modischer Trends birgt – das wird hier deutlich – gewisse Risiken. Während Lydia durch ihre Peer Group aufgrund ihres ungewöhnlichen modischen Stils Ablehnung und verbale Anfeindung erfährt, wird Travis bei einem Raubüberfall ermordet, da sein mittelalterlich anmutender Eichenstab, den er stets mit sich trägt, als Waffe missinterpretiert wird. Dass gerade diese Figur, die kein Interesse an der stetigen Auseinandersetzung mit wechselnden modischen Trends zeigt, sondern die unauffällige schwarze Alltagskleidung mit zwei geliebten Objekten im Sinne Habermas’ (vgl. Habermas 1999) kombiniert (einem Drachenanhänger und dem erwähnten Stab), einer solchen Fehllektüre zum Opfer fällt, lenkt den Fokus auf die Willkürlichkeit des Lebens – und damit auch der Mode. Deutlich wird ebenso, dass Mode als diskursive Formation nicht auf einen bestimmten Inhalt ausgerichtet ist, sondern viel eher als Container für höchst individuelle Lesarten und Projektionen fungiert. Da sie stets gelesen und interpretiert werden muss, um ihre Wirkmacht zu entfalten, kann sie „niemals bedeutungsneutral sein“ (Lehnert 2015: 18).

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Bezüglich der Semantik der erzählten Mode hebt sich Zentners Jugendroman von jenen rezenten Romanen aus dem Bereich der englischsprachigen Erwachsenenliteratur ab, die aus der Retrospektive auf textile Erinnerungen fokussieren.1 Selbst in der neueren Jugendliteratur wird häufig die Bedeutsamkeit modischer Artefakte betont, wie etwa die titelgebenden Second-Hand-Jeans in Ann Brashares’ The Sisterhood of the Travelling Pants (2004).2 Am Beispiel des erzählten Modeblogs bringt Zentner nicht nur die Schnelllebigkeit und Aktualität der Mode zur Darstellung, sondern auch die (populär-)kulturelle Praxis der unmittelbaren Teilhabe an sowie der Etablierung von individuellen modischen Diskursen. Diese Charakteristiken der (erzählten) Mode werden zudem mit der Adoleszenz als ambivalenter, schnelllebiger und überaus wirkmächtiger Lebensphase enggeführt. Als Motiv erweist sich die erzählte Mode insbesondere für die Schilderung adoleszenter Gefühlszustände und Weltanschauungsweisen als effektvoll. Zunächst findet sie jedoch als Erzählanlass auf der konzeptionellen Ebene des Romans Anwendung: Die Handlung beginnt damit, dass die drei Hauptfiguren ein letztes Mal gemeinsam nach Nashville fahren, der nächstgelegenen Großstadt, um „Schulklamotten“ zu kaufen. Da Lydia im Unterschied zu Dill und Travis mobil und finanziell liquide ist, erfolgt dieser Ausflug unter ihrer Regie. Sie fährt, kleidet Dill nach einer konzisen Vorstellung ein und verhandelt so lange mit der Verkäuferin, bis er sich die von ihr zusammengestellte Garderobe auch leisten kann. Durch ihren Modeblog Dollywould, den sie mit 13 Jahren entwickelt hat, genießt sie im virtuellen Raum einen Status, der sich diametral zu ihrer fiktiven analogen Realität verhält. Auf ihrem Blog sowie zahlreichen anderen Social Media-Kanälen nimmt sie nicht nur am modischen Diskurs teil, sondern kann, Dank großer Followerschaft und somit Reichweite, eine gewisse Diskurshoheit für sich in Anspruch nehmen. Beispielsweise erhält sie regelmäßig kostenlose Produkte von namenhaften Modemarken wie Miu Miu (vgl. Zentner 2020: 148), um diese in ihre virtuelle Selbstdarstellungsroutine zu integrieren. Diese modisch-textilen Schenkungen sind keine Freundschaftsdienste, sondern viel eher Tauschgeschäfte, die dem Prinzip: Produkt gegen Content d.h. Werbung bzw. Vermarktung folgen. Während Blogs auch als virtuelle Tagebücher aufgefasst werden können und dementsprechend als Ego-Dokumente höchst individuelle Ideale erfüllen, nutzt die Figur während des Shoppingausflugs den im virtuellen Raum erlangten Einfluss, um ihrem besten Freund die Teilhabe an modischen Diskursen – wenn auch nach ihren Vorstellungen – zu ermöglichen.

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Der Road Trip lässt sich als erster diskursiver Knotenpunkt identifizieren, da die virtuellen modischen Selbstinszenierungspraktiken der weiblichen Hauptfigur, das rhetorische System der Mode (vgl. Barthes und Kraß 11) und die Eigenheiten des Internets verschränkt werden. Deutlich wird dies, als sich die Preisverhandlungen zunächst als zäh erweisen und Lydia der Verkäuferin einen „Vorgeschmack“ auf die Wirkmacht des angekündigten Blogeintrags über den Laden gewährt. Sie setzt einen Tweet ab und erhält in Kürze „fünfundsiebzig Likes und dreiundfünfzig Retweets.“ (Zentner 2020, 23) Darüber hinaus einige Antworten, von denen sie u.a. die folgende vorliest:

Ah, hier ist eine schöne Antwort. Die ist von Sandra Chen-Liebowitz. Der Name sagt dir wahrscheinlich nichts, aber sie ist Kulturredakteurin bei der Cosmopolitan. Mal sehen, was sie sagt: Supertipp, arbeite nämlich grade am Nashville-Feature. Danke! Also, vielleicht kommt dein Laden in die Cosmopolitan. Überzeugt? (Ebd.)
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Lydia wird als modische Influencerin inszeniert, die ihre Diskurshoheit im virtuellen Raum in der erzählten analogen Realität nutzbringend einsetzt. Durch diese Verwendung des erzählten Modeblogs gelangt das rhetorische System der Mode im Sinne Barthes’ besonders gut zur Darstellung, da Imaginäres (die virtuelle Sphäre des Blogs) und Reales (der unmittelbare finanzielle Nutzen) sich überlagern (vgl. Barthes 1985: 61f.). Der Modeblog könnte dementsprechend als konnotative Ebene der modischen Rhetorik betrachtet werden, auf der verbale und piktorale Idealbilder im virtuellen Raum kommuniziert werden, während in der hier geschilderten analogen Auseinandersetzung mit modischen Textilien die denotative Ebene zu verorten wäre (vgl. ebd.). Eine strukturelle Analogie des Phänomens der Mode und Internetforen wie Blogs besteht indessen darin, dass sie nur dann zum Gegenstand des Diskurses werden und eine Wirkmacht entfalten, wenn sie wahrgenommen, gelesen und ihre Inhalte weiterkommuniziert werden. Abgesehen von dieser systematischen Ebene, erweist sich der erzählte Modeblog auf einer persönlichen Ebene, d.h. die Figurenzeichnung betreffend, als überaus relevant. Da Lydia bereits zweimal zur New York Fashion Week eingeladen und von der New York Times interviewt wurde (vgl. Zentner 2020: 96), reagiert sie selbstbewusst und schlagfertig auf die abwertenden Reaktionen ihrer Peer Group. Das positive Feedback auf das in ihrem ästhetisierten, öffentlichen Tagebuch kommunizierte Persönlichkeitsideal nimmt demnach Einfluss auf ihre Individuation. Positive Bestärkung erfährt sie jedoch nicht nur im Internet, sondern auch durch ihre Eltern, insbesondere ihren Vater, der zeitweise auch für Lydias Freunde als verständnisvoller Mentor fungiert. Als ambivalent erweist sich Lydia, da sie einerseits spielerisch, ausgelassen und kreativ (z.B. im Umgang mit modischen Trends), andererseits wiederum strukturiert und strategisch agiert, etwa wenn sie die Beziehungen, die sie über ihren Modeblog etabliert, für ihre universitäre Laufbahn nutzt, oder ihrer Followerschaft die Existenz ihrer besten Freunde vorenthält, da sie ,unmodisch‘ sind. Der mit ihrer Persönlichkeit verknüpfte Blog-Name wird so zu einer Marke, die Einfluss auf ihre analoge Individuation nimmt.

3. Zur Macht von Namen – von Marken und Brandmarkungen

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Schon im Verlauf des geschilderten Ausflugs nach Nashville wird deutlich, dass Lydia sich mit Hilfe ihres Modeblogs eine Marke etablieren konnte, die auch ihr analoges Leben beeinflusst. Am Beispiel der männlichen Hauptfigur wird hingegen der negative Effekt eines bedeutsamen Namens veranschaulicht. Denn während Lydia den Einfluss ihrer Marke genießt, empfindet Dill seinen Geburtsnamen als Brandmarkung, da er denselben Namen trägt wie sein Vater und Großvater. Sein Großvater wurde „Schlangenkönig“ genannt, nachdem er den Verstand verloren hatte, als seine geliebte Tochter im Kindesalter einem Schlangenbiss zum Opfer fiel und auf ihrem Grab Suizid beging. Im Verlauf einer Anekdote über den im amerikanischen Original titelgebenden „Schlangenkönig“ erweist sich die Lektüre eines Modekörpers im Sinne Lehnerts als bedeutsam. Travis wird von einem Freund seines Vaters berichtet, dass sich Dills kummervoller Großvater mit den Häuten und Köpfen zahlreicher getöteter Giftschlangen schmückte:

Er steckt sich immer mehr Schlangenhäute an die Sachen, je mehr Schlangen er tötet. Er wäscht und rasiert sich nicht mehr und schneidet sich nicht mehr die Haare und bald riecht er wie ein Kadaver. Er wird immer magerer. Sieht schon selbst aus wie eine Schlange (ebd. 76).
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In dieser Phase seines Leidensprozesses wird ihm der Name „Schlangenkönig“ verliehen, der auch seine Nachkommen stigmatisiert. Durch die verbale Brandmarkung wird ein Kompensationswunsch ausgedrückt, denn: „Die Leute haben Angst vor Kummer und Schmerz. Sie glauben, das ist ansteckend, wie eine Krankheit“ (ebd.). Der Name Schlangenkönig soll demnach vor diesem personifizierten und bedrohlichen, da potenziell ansteckend wirkenden Schmerz warnen und zugleich der Abgrenzung dienen. So erweist sich nicht nur das Phänomen der Mode, sondern auch der Marke bzw. Brandmarkung als Container für individuelle und kollektive Zuschreibungen und Projektionen, die sich in dem hier geschilderten Fall als sehr langlebig erweisen. So resümiert Travis’ Vater:

Du stehst doch auf Könige und Prinzen und solchen Scheiß? Trotzdem solltest du vielleicht lieber nicht in der Nähe sein, wenn dein Kumpel durchdreht und versucht, den Thron seines Vaters und Opas zu besteigen. Der Name, den er trägt, bringt jedenfalls kein Glück. Das ist mal sicher. (Ebd. 78)
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Nachdem Travis ermordet wird, leidet Dill an Angstzuständen und Selbstzweifeln, da er fürchtet, mit seinem Namen auch das Schicksal seines Großvaters zu teilen. Mit Lydias Unterstützung überwindet er diese in einen Suizidversuch mündende Phase. In der unmittelbaren Interaktion zeigt Lydia Verständnis für ihren besten Freund. Was jedoch ihre virtuellen modischen Selbstinszenierungspraktiken anbelangt, ist sie bis zu Travis’ Tod darauf bedacht, ihr Image nicht durch die Erwähnung ihrer ,unmodischen‘ Freunde zu verderben. Denn es wird mehrfach darauf Bezug genommen, dass die Medien über Dills Vaters berichteten, der mit Schlangen und Gift predigte, jedoch wegen des Besitzes von Kinderpornografie inhaftiert ist, weshalb Dills Name dank der Onlinemedien stets mit diesem Vorfall und dieser Person verbunden wird. Aus diesem Grund scheut Lydia sich davor, ihn auf ihrem Blog zu erwähnen (vgl. ebd.: 58). In der deutschsprachigen Übersetzung reflektiert sie zudem darüber, ob sie ihre Freunde als „stylish“ genug erachtet, um sie auf ihrem Blog zu erwähnen. Im amerikanischen Original wird die Wendung „off Brand“ gebraucht. Dieser Begriff scheint treffender, um die Engführung von Marke und Name zu veranschaulichen. Travis und Dill haben kein Interesse an Marken, weshalb auch ihre Namen nicht von Bedeutung sind. Die Doppeldeutigkeit der im amerikanischen Original häufig verwendeten Begriffe („brand“, „branding“, „off brand“) geht mit der Übersetzung verloren. Erst nachdem Travis ermordet wurde und Dill dank Lydias Beeinflussung auf dem besten Weg ist, ein erfolgreicher Musiker zu werden, bindet sie ihre besten Freunde in ihre virtuelle Selbstinszenierung ein. Der Makel und die Makellosigkeit eines Images sind für modische Diskurse ausschlaggebend. In diesem Zusammenhang ist jedoch zwischen visueller und textueller Inszenierungspraxis zu differenzieren. Denn im Schriftlichen erweisen sich die Freunde als Bezugspunkte durchaus geeignet, zumindest in Bezug auf Lydias College-Bewerbungsschreiben:

Dill und Travis passten zwar nicht zu ihrem Blog-Image, aber für die Selfmade-Girl-Erzählung ihres Bewerbungsessays waren sie genau die richtige Staffage. Sie brauchte einen gewissen Hintergrund, von dem sie sich abheben konnte; einen Kontrast. (Ebd. 97)
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Hinsichtlich der virtuellen Ebene des Modeblogs lässt sich auf Roland Barthes’ Ausführungen zur Modefotografie verweisen. In seiner Studie Die Sprache der Mode führt Barthes die Erörterung der Frage, was geschehe, „wenn ein Objekt und eine Sprache (langage) zusammentreffen“ (Barthes 1985: 22), unter anderem zu der Beobachtung, dass eine Modefotografie auf unendlich viele Arten gedeutet werden könne, während die verschriftlichte Beschreibung dieses Bildes eine ganz bestimmte Deutung fixiere und damit der Leserschaft von Modezeitschriften die individuelle Sichtweise des Autors, bzw. der Autorin aufgezwungen werde (vgl. ebd.: 23).

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Da der multiperspektivische Roman Zentners keine Bilder enthält, wird lediglich auf der Textebene ausgeführt, mit welchem Content Lydia ihre Onlineplattformen und -kanäle versorgt. Was die verbale Ebene ihrer Blogeinträge betrifft, werden nur vereinzelte Kommentare zu geposteten Fotos wiedergegeben, die meist lediglich auf Marken verweisen:

Ich trage ein Top von Missoni über einem Kleid, dass [sic] ich bei Attic in West Nashville gefunden habe. Meine Tasche ist von Goodwill, die Wedgies von Owl und die Halskette von Miu Miu. (Zentner 2020: 148)
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Zentner beschreibt demnach keine konkreten Farben, Schnitte oder Texturen, sondern setzt bewusst Leerstellen, deren Ausfüllung der Fantasie der Leserschaft überlassen wird. Nur in Ausnahmefällen wird ein Outfit näher beschrieben wie beispielsweise Lydias experimentelles Kleid für den Abschlussball. Wie in obigem Ausschnitt vorgeführt, wird der Blick auf die Bedeutsamkeit von Modemarken gelenkt. Bemerkenswert ist, dass Zentner zwar einige real existierende Marken wie beispielsweise Miu Miu nennt – ebenso wie Modedesignerinnen wie Vivienne Westwood (vgl. ebd.: 93) –, aber die Namen von mit der Modebranche assoziierten Individuen verfremdet, sodass beispielsweise Anna Wintour zu „Vivian Winter“ (ebd.: 57; 95) wird. Hier ist also zwischen erzählter Mode und erzählten Modemarken zu differenzieren. Mode entsteht in Texten ohne Referenzialität auf in der Realität existierende Kleidung auf einer rein sprachlichen Ebene (vgl. Barthes 1985: 22f.), real existierende Modemarken sind von dieser Referenzialität naturgemäß nicht befreit (vgl. Kraß 2006: 1). Aus modesemiologischer Perspektive kann die erzählte Mode als „eine Technik des Zugangs zum Unsichtbaren“ (Barthes 1985: 23) aufgefasst werden. Erzählte Modemarken sind hingegen untrennbar mit der Realität verbunden und müssten demnach aus soziologischer Perspektive analysiert werden.

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Aus diskursanalytischer Perspektive ist es auffällig, dass in Zentners Roman die Erwähnung von Modemarken eine Diskurshoheit zum Ausdruck bringt. Sobald der Name einer Modemarke oder eines/r Designer:in in ein Gespräch eingebunden wird, kommt das Gespräch zum Erliegen, da hiermit die Deutungshoheit unmissverständlich klargestellt wird. Deutlich wird dies etwa, als Lydia in der Schule eine Strumpfhose trägt, „die absichtlich chaotisch gewebt war und gewollte Laufmaschen hatte“ (Zentner 2020: 62f.) und von einer Mitschülerin verspottet wird. Auf die Frage: „Hast du die aus dem Müll gezogen?“ (ebd.: 66) antwortet sie: „Nein, die haben mir die Rodarte-Schwestern geschenkt. Sind aus der letzten Saison, aber ich habe gehofft, dass es niemandem an der Forrestville High auffällt.“ (Ebd.) Nach diesem Hinweis verlässt die Gesprächspartnerin den Schauplatz ihrer Demütigung mit erhobenem Mittelfinger. Die erwähnte (real existierende) Modemarke beendet jegliche spielerische Assoziation der Diskursteilnehmenden. Was Barthes an der Mode als „Initiationsphänomen“ und wie er das Sprechen der Eingeweihten darüber als „autoritatives Sprechen“ sieht (Barthes 1985: 24), lässt sich bei Zentners Text auf die Verwendung von Modemarken – und das Insiderwissen darüber – übertragen. Unabhängig davon, ob dieses im Sinne Barthes’ als „kleinste sinnproduzierende Parzelle“ des „vestimentären codes“ (ebd.: 63) oder mit Foucault als „Atom des Diskurses“ (Foucault 1991: 117) aufgefasst wird: Die Verwendung von Modemarken macht die erzählten modischen Diskursstränge als Machtdiskurse lesbar (vgl. Foucault: 10f.).

4. Die erzählte Mode und die Erhabenheit des Seins

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Eine der zentralen existenzphilosophischen Fragen, die Zentners Roman stellt, ist jene nach der Wirkmacht individueller Existenz. Die adoleszenten Hauptfiguren sehnen sich danach, Spuren zu hinterlassen, und unternehmen verschiedene Versuche, sich der Welt einzuschreiben. So nutzen sie den letzten gemeinsamen Sommer auch dafür, um in einem Brückenpfeiler persönliche Nachrichten zu hinterlassen. Travis zitiert aus seinem Lieblingsbuch: „Dein Name möge jenen, die Dich liebten, ewig leuchten.“ (Zentner 2020: 116) Lydia möchte ihren „Namen in die Welt ritzen“ (ebd.), wohingegen Dill darunter leidet, dass er mit einem Namen, den er sich nicht ausgesucht hat, leben muss. Dem hier entworfenen Ideal eines introvertierten, leidenden Musikers entsprechend möchte er für ihn Relevantes für andere unsichtbar in seinem Herzen markieren. Da er den letzten gemeinsamen Shoppingausflug als „Tod eines kleinen Abschnitts eines Lebens“ (ebd.: 34, Kursivierung im Text) empfindet, ermahnt er sich: „Vergiss das hier nicht. Schreib es auf ein selbst gemachtes Kreuz und steck es dir ins Herz, um dieses Ende zu markieren“ (ebd.: 35). Positiv besetzte Gedanken, die in Form von Liedtexten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, entwickelt er erst allmählich.

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Am Beispiel von Dills Vater bringt Zentner noch eine weitere Variante von ,Einschreibungspraktiken‘ ins Spiel: Als Dill widerwillig seinen Vater im Gefängnis besucht, bemerkt er, dass dieser sich Glaubensinhalte in Form von Tätowierungen in die Haut einschreibt: „Sie lassen mich hier drinnen nicht predigen und die Zeichen zeigen, darum trage ich meinen Glauben auf der Haut. Das können sie mir nicht wegnehmen“ (ebd.: 29). Im Verlauf der Besuche wird eine sukzessive Zunahme dieser Selbsteinschreibung religiöser Ideale geschildert. Bedenklich erscheint Dill der Umstand, dass die auf beiden Armen tätowierten Giftschlangen lebendig wirken, wenn sich sein Vater bewegt, sodass er diesen ideologischen Körperschmuck performativ ausagiert: „Dills Vater knickte in rascher Folge alle Finger ein und streckte sie wieder, sodass die Schlangen an seinem Unterarm sich wanden und schlängelten.“ (Ebd.: 204) So führt Dills Vater die als pathogen markierte körperliche Auseinandersetzung mit Giftschlangen auf einer anderen Ebene als Dills Großvater fort, der die getöteten Schlangen als zweite Haut am Körper trägt, da er Abbilder von Giftschlangen seiner (ersten) Haut einschreibt, wo sie die „Narben von Schlangenbissen an seinen Armen [...] überdeckten und umwanden“ (ebd.). Die etwa von Vinken und Lehnert artikulierte literaturwissenschaftliche Perspektive auf die erzählte Mode als mit dem Körper enggeführte sprachliche Äußerung, die öffentlich ausagiert wird und der Lektüre bedarf, wird hier – wenngleich auf einer höchst unmodischen, eher als pathogen markierten Ebene – transparent.

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Die ambivalente Natur der Mode, die einem stetigen Wandel unterliegt und sich dennoch als ebenso beständig wie die Krankheit und der Tod erweist, wird auf der Ebene der histoire durch die zentralen, existenzialphilosophischen Fragen zur Darstellung gebracht, die sich die Hauptfiguren stellen und auf der Ebene des discours mittels einer virtuosen Überlagerung und Verschränkung verschiedener Diskursstränge, die ihrerseits durch die Haupt- aber insbesondere die Nebenfiguren je individuell akzentuiert werden, sodass sich verschiedene Diskurspositionen identifizieren lassen. So ist auf der Makroebene klar zwischen der spielerisch-kreativen und die Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflussenden modischen Selbstinszenierungspraxis Lydias und der negativ besetzten und als Zeichen eines psychischen Verfalls markierten Schmückung des Körpers bzw. der Haut mit Schlangenkörpern zu differenzieren. Auf der Mikroebene wird der Fokus hingegen auf die höchst individuelle und mitunter diametrale Lesart von Modekörpern gerichtet. Deutlich wird dies etwa im Gespräch zwischen Dill und seiner Mutter nach seiner Rückkehr aus Nashville:

„Wie war es in Nashville?“, fragte seine Mutter schließlich. „Gut. Lydia hat mir geholfen, sehr günstig gute Sachen zu kriegen.“ Seine Mutter tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. „Ich wünschte, du hättest mehr Freunde aus der Gemeinde. Christliche Freunde.“ „Travis ist doch aus der Kirchengemeinde.“ „Über den mache ich mir auch so meine Gedanken. Immer schwarz angezogen und dann dieses Dämonen-Halsband.“ „Es ist ein Drache.“ „Das ist das Gleiche. Lies mal wieder die Offenbarung.“ (Ebd.: 50)
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Mit de Saussure ließe sich in diesem Zusammenhang auf die Arbitrarität von Zeichen verweisen, die in den Reaktionen auf Lydias modische Selbstinszenierung deutlich wird. Denn während ihre Followerschaft positiv reagiert, fallen die Reaktionen der provinziellen Peer Group negativ aus. Kontrastreich aufeinander bezogen werden hier die Prinzipien des Grotesken und des Erhabenen, das Baudelaire der Mode schon 1863 in seiner Lobrede auf das Schminken attestiert. Baudelaire rekurriert darin auf eine Frage, die auch in Zentners Text von zentraler Bedeutung ist: die Frage danach, was Bestand hat und welche Spuren die individuelle Existenz hinterlassen wird. Wenn Baudelaire auf die „hohe Spiritualität der Toilette“ (Baudelaire 2016: 98) eingeht und das sich Zurechtmachen als Praxis beschreibt, mit der das sich modisch inszenierende weibliche Individuum sich den Fängen des Alltags und der Wirklichkeit entzieht, um zu einer allseits bewunderten und angebeteten Göttin zu werden, führt er das Modische und das Erhabene eng (ebd.: 99). Interessanterweise schließen sich in diesem Zusammenhang die Erhabenheit und die Frivolität nicht aus.3

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Auch in dieser Hinsicht eröffnet sich eine Analogie zur Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur. So erklärt Lydia ihren Abschlussball-Look gegenüber Dill wie folgt: „Es sollte so eine Mischung aus Misswahl-Kandidatin und Rastplatz-Prostituierter werden.“ (Zentner 2020: 325) Die Kontraste, die sich nicht nur in der Wahl des leuchtenden, mit Pailletten bestickten 1980er-Jahre-Kleides, sondern auch in der bewusst nur halbseitigen Spraytann-Färbung ihres Körpers zeigen, veranschaulichen den grundlegenden Widerspruch, den Barthes der geschriebenen und beschriebenen Mode zuschreibt: Der Rhetorik der Mode liege ein bedeutsames Nebeneinander von übertriebenem Ernst und übertriebenem Belanglosen zugrunde. In diesem Spannungsfeld komme zudem „die mythische Situation der Frau in der abendländischen Zivilisation [zur Darstellung]: sublim und kindisch zugleich.“ (Barthes 1985: 248)

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Baudelaire schreibt unter anderem, dass „der Wilde“ sowie das Baby „durch ihr unwillkürliches Verlangen nach allem Glänzenden, nach buntem Federschmuck, schillernden Stoffen, [...] ihren Abscheu vor dem Wirklichen [bezeugen], und beweisen damit, absichtslos, die Immaterialität ihrer Seele.“ (Baudelaire 2016: 98) Das glitzernde Paillettenkleid, mit dem Lydia auf dem Abschlussball alle Blicke auf sich zieht und in dem sie nach dem Ball im Garten unter einer künstlichen Wasserfontäne ausgelassen tanzt, bringt diese den mutmaßlich einfachen Gemütern zugeschriebene Faszination an Irrealem und Ewigem zur Darstellung. Aus diskursanalytischer Perspektive erscheint es daher durchaus naheliegend, dass Zentner erzählte Mode verwendet, um die auch in anderen Adoleszenzromanen fokussierten existenzphilosophischen Fragestellungen zu verhandeln. Wie Barthes ausführt, ist es nicht die Sprache, die als Referenzebene des von ihm am Beispiel der Modezeitschrift analysierten vestimentären Codes fungiert, „sondern die Äquivalenz zwischen Kleidung, Welt und Mode.“ (Barthes 1985: 59) Die Semantik der erzählten Mode resultiert aus einer Verbindung mit dem Körper und der Beziehung zur Welt, so ließe sich hieraus schließen.

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Die hier zentralen Fragen nach der Endlichkeit der individuellen Existenz sowie den Spuren, die vom individuellen Sehnen, Leiden und Hoffen bleiben, lassen sich auf modephilosophische Erwägungen übertragen. So schreibt Baudelaire:

Die Mode muß deshalb als ein Zeichen für das Streben nach dem Ideal gelten, das im menschlichen Gehirn alles überdauert, was das natürliche Leben dort an Grobem, Irdischem und Schmutzigem anhäuft, als eine erhabene Deformation der Natur, oder vielmehr ein dauernder und wiederholter Versuch die Natur zurechtzubringen. (Baudelaire: 2016: 98f.)
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Lydias modische Selbstinszenierungspraxis, die zwischen Spiel und Kalkül rangiert, verweist auf eine für die Adoleszenzliteratur typische Semantik. In Dills Wahrnehmung ist sie eine Göttin, womit sie das von Baudelaire in Lobrede auf das Schminken formulierte Prinzip der sich modisch inszenierenden Frau erfüllt (vgl. Baudelaire 2016). Darüber hinaus wird sie mit einer Muse verglichen, die Dill davon überzeugt, die emotionale Last seiner Herkunft und seines Namens abzulegen, um sich künstlerisch zu verwirklichen und einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Die gemeinsame Zeit mit ihr kommt ihm vor wie ein euphorischer Traum (vgl. Zentner 2020: 48) und für seine Definition von Schönheit ist sie fortan der Maßstab:

Sie ist es. Sie ist alles. Sie ist die Richtschnur, nach der ich für den Rest meines Lebens alle Schönheit beurteilen werde. [...] Jede Stimme an ihrer Stimme. Mein Maß der Vollkommenheit. (Ebd.: 341)
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So ließe sich zwar ebenso gut resümieren, dass die Liebe alle Wunden (Dills) heilt und die Zukunft der beiden Hauptfiguren positiv beeinflusst, doch ist es insbesondere der öffentlichkeitswirksamen modischen Selbstinszenierung der weiblichen Hauptfigur zu verdanken, dass sie auf die gewünschte Universität kommt und Dills Gesangstalent gewürdigt wird, weshalb er seine Bildungschancen (gegen den Willen seiner Eltern) verbessern kann. Was die geschilderte Lebensphase der Hauptfiguren betrifft, werden demnach traditionelle romantische Motive transparent, die jedoch durch die Verwobenheit mit von Gegensätzen geprägten und auch von den Figuren höchst ambivalent bewerteten modischen Diskursen eine innovative Färbung erhalten.

5. Fazit

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Im Angesicht der zahlreichen Veränderungen und Unsicherheiten der Adoleszenz, werden bei den Protagonist:innen Fragen nach der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz laut. Das Modephänomen erweist sich als geeignetes literar-ästhetisches Mittel, um diese ambivalenten Gefühle aus unterschiedlichen Perspektiven zu veranschaulichen. Der diskursanalytische Zugriff lenkt den Fokus auf die dem Modediskurs eingeschriebene Dichotomie von Macht und Ohnmacht. Da Lydia die (mediale) Öffentlichkeit, die Mode braucht, um wahrgenommen zu werden, dank der Onlinemedien selbst generieren kann, ist es ihr möglich, an modischen Diskursen teilzuhaben, eine spezifische Diskursposition zu etablieren und eigene Diskurse zu generieren. Die erzählte Mode fungiert hier ganz im Sinne Lehnerts „als Matrix, die kulturelles und individuelles Handeln hervorbringt“ (Lehnert 2015: 18). Dass es eine jugendliche Figur ist, die diese Deutungshoheit erlangt, ist indessen durchaus bemerkenswert, insbesondere im Kontrast zu den beiden männlichen Hauptfiguren, deren dysfunktionale Familienverhältnisse ihnen keine experimentellen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten einräumen. Im provinziellen Milieu, in dem Zentner seine Erzählung verortet, wird die Möglichkeit, spielerisch und zwanglos an modischen Diskursen teilzuhaben, um einen eigenen Stil zu etablieren, als Privileg geschildert.

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Während Lydia dieses kulturelle und individuelle Handeln im Sinne Lehnerts genießt, empfindet der introvertierte Travis dieses Spiel als zu anstrengend. Er bevorzugt einen monochromen, unauffälligen Kleidungsstil. Die Entscheidungsfreiheit verliert er mit seinem Tod: Der hellblaue Anzug, in dem er aufgebahrt wird, unterscheidet sich in Farbgebung und Stil stark von dem, was er zu Lebzeiten trug. Immerhin legt ihm Lydia eines seiner geliebten Accessoires, den Drachenanhänger, heimlich in den Sarg (vgl. Zentner 2020: 258). Die Dichotomie von Macht und Ohnmacht wird hier mit Altersdiskursen verwoben, da die Entscheidungshoheit über die mehr oder weniger modische Selbstinszenierung bis zu einem gewissen Alter und in Abhängigkeit zur Lebenssituation den Eltern obliegt. Dass Lydia in einem liberalen Elternhaus aufwächst, kommt etwa darin zum Ausdruck, dass sie ihren Modeblog bereits mit 13 Jahren gründen durfte (vgl. ebd.: 96). Diese virtuelle Selbstinszenierung wird als weibliche Ermächtigungsstrategie inszeniert, die der Hauptfigur den Weg aus der Provinz in die Großstadt ebnet.

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Der in einem „billigen blauen Anzug“ aufgebahrte Freund wirkt auf Lydia „unwirklich und künstlich.“ (Ebd.) Dieser unmodisch gekleidete Körper wird der Trauergemeinde gegenüber ausgestellt und demnach ein letztes Mal lesbar, doch erweist sich diese Performanz als nicht authentisch, da sie der Regie von Travis’ Eltern unterliegt.

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Bemerkenswert erscheint zudem der Umstand, dass die Ebenen des Realen und Irrealen mehrfach ineinander geblendet werden, ein Aspekt, den auch Kraß der erzählten Mode attestiert: „Der Reiz der Mode liegt in ihrer Fähigkeit, beide Welten ineinander zu blenden und dem realen Leben eine mythische Qualität, und zugleich dem imaginierten Leben ein Realitätsprädikat zu verleihen.“ (Kraß 2006: 11) Dieser Reiz wird neben der Mode auch der Musik, der Liebe und nicht zuletzt der (Fantasy-)Literatur zugeschrieben, die Travis ständig konsumiert, um der Realität zu entkommen. Die Blendung zweier Welten macht sich auch in der Interaktion zwischen den Freunden bemerkbar, so stellt Lydia folgende Frage an Travis: „Wie kommt das bloß? Immer wenn wir uns über die wirkliche Welt unterhalten, kommst du mit Fantasy, und immer wenn wir über unsere Fantasien reden, kommst du mit der nackten Wirklichkeit.“ (Zentner 2020: 114)

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Die hier etablierten Diskursstränge rekurrieren auf unterschiedliche Wissenssysteme sowie auf höchst individuell gefärbten Diskurspositionen, womit Zentner die Ambivalenz des Phänomens der erzählten Mode betont. Mittels der Verknüpfung von Alters-, Gender- und Klassendiskursen wird der Modediskurs zudem als individueller, kulturell und mitunter ideologisch-religiös geprägter Aushandlungs- und Zuschreibungsprozess lesbar, in dessen Verlauf Bedeutung und Wertigkeit generiert werden. Der erzählte Modeblog fungiert als diskursiver Knotenpunkt, der Fragen nach der Diskurshoheit in diesem von Machtdemonstrationen und Wertigkeitszuschreibungspraktiken geprägten Feld perspektiviert. So erweist sich die erzählte Mode in diesem Text als facettenreiches Phänomen, das einem stetigen Wandel unterliegt und dessen Wirkmacht von einer Performanz abhängig ist, die zwar als kulturelle Praxis aufgefasst werden kann, jedoch insbesondere von individuellen Projektionen zeugt.

Literaturverzeichnis

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    Primärliteratur
  • Zentner, Jeff (2020 [2016]): Zusammen sind wir Helden. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Hamburg: Carlsen.
    Sekundärliteratur
  • Barthes, Roland (1985 [1967]): Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Baudelaire, Charles (2016 [1863]): Der Maler des modernen Lebens: Lobrede auf das Schminken, in: Vinken, Barbara (Hg.): Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 97–100.
  • Baudelaire, Charles (2016 [1863]): Der Maler des modernen Lebens: Der Dandy, in: Vinken, Barbara (Hg.): Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 103–106.
  • Bogdal, Klaus-Michael (2006): Das Geheimnis des Nichtdiskursiven, In: Ders./Geisenhanslüke, Achim (Hg.): Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault. Heidelberg: Synchron, Wissenschaftsverlag der Autoren, S. 13–24.
  • Carlyle, Thomas (2016 [1833/1834]): Sartor Resartus: Die Körperschaft der Dandys, in: Vinken, Barbara (Hg.): Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 73–84.
  • Foucault, Michel (2022 [1969]): Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Foucault, Michel (1988 [1963]): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Fischer.
  • Foucault, Michel (1991 [1970]): Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Fischer.
  • Habermas, Tilmann (1999): Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Jäger, Siegfried (2015): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 7. Aufl. Münster: Unrast.
  • Kraß, Andreas (2006): Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen/Basel: A. Francke.
  • Lehnert, Gertud (2015 [2013]): Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. 2. Aufl. Bielefeld: transcript.
  • Leopardi, Giacomo (2016 [1824]): Die Mode und der Tod, in: Vinken, Barbara (Hg.): Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 40–145.
  • Vinken, Barbara (2016a): Vorrede: Georg Simmel 1905, in: Dies. (Hg.): Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 157-161.
  • Vinken, Barbara (2016b): Vorrede: Charles Baudelaire 1863, in: Dies. (Hg.): Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 95-97.

Anmerkungen

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So wird etwa auf den Zweiten Weltkrieg fokussiert (wie in Natasha Lesters The Paris Seamstress, 2018, oder Fiona Valpys The Dressmaker’s Gift, 2019), Biografien von Modedesigner:innen (z.B. Pamela Binnings Ewens The Queen of Paris: A novel of Coco Chanel, 2020), oder es werden Erzählungen um das Hochzeitskleid historischer Figuren wie Grace Kelly (in Brenda Janowitz’ The Grace Kelly Dress, 2020) oder Queen Elisabeth II. (in Jennifer Robsons The Town: A novel of the Royal Wedding, 2018) gesponnen.

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Auch in historischer Kinder- und Jugendliteratur wird häufig solche Kleidung bedeutsam, die bereits eine Geschichte aufweist, wie etwa The Children of Arden (1908) von Edith Nesbit, wo es den beiden Waisen Edred und Elfrida durch das Anlegen historischer Kleidung gelingt, in die Entstehungszeit ihrer textilen Umhüllungen zu reisen.

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Barbara Vinken verweist darauf, dass Baudelaire Begriffe verwendet, die zur Entstehungszeit des Textes mit Prostitution verknüpft waren: „Im Zweiten Kaiserreich, während dessen Baudelaires Text entsteht, schminkten sich nur Schauspielerinnen, nicht aber anständige Frauen. ,Reispuder‘ galt noch Zola als Kurzformel für leichte Mädchen. Sich zu schminken war der Halbwelt und Prostituierten vorbehalten“ (Vinken 2016b: 96).

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Autor·in

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Iris Schäfer

Goethe Universität Frankfurt am Main