
Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart
Michaela Lindinger
Lebensreformerisch und frauenbewegt
Der Büstenhalter „Lada“, 1911Lizenz:
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Wiener Digitale Revue 6 (2025)
www.univie.ac.at/wdrAbstract
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Top of pageIn den Jahren um 1900 tauschten viele fortschrittliche Frauen das jahrzehntelang die Modelinie dominierende Korsett gegen ein heute ganz alltägliches Wäschestück: den BH. Die ersten Büstenhalter waren wohl wenig elegant und „verführerisch“, dafür zweckmäßig und vor allem für sportliche Aktivitäten geeignet. Der Übergang vom Korsett zum BH gilt als wichtiger Meilenstein weiblicher Emanzipationsbestrebungen um 1900.
Bürgerliche Frauen des 19. Jahrhunderts hatten vor allem repräsentative Aufgaben zu übernehmen: Gäste empfangen, mehrgängige Diners organisieren, die Karriere des Hausherrn und Ehemanns befördern. Ein Korsett war aus modischen Gründen sowie zur Unterstützung der kerzengeraden Haltung und zur Formung der Figur fixer Bestandteil des Frauenalltags. Wer sich maßangefertigte, perfekt verarbeitete Korsetts leisten konnte, riskierte zumindest keine Schnürfurchen oder andere unangenehme Begleiterscheinungen dieses Unterwäschestücks, das wie kaum ein anderes als Mittel zur Unterdrückung der Frauen angesehen wird.
Um 1900 forderten viele Frauen mehr Bewegungsfreiheit ein. Lebensreformerinnen verlangten Möglichkeiten zur Verbesserung des alltäglichen (Frauen-)Lebens: Neue Kleider ohne viele Bordüren und Schärpen sollten korsett-freie Bequemlichkeit garantieren. Für den Modesport Radfahren benötigte man einen beweglichen Körper: Hosen machten bald das Rennen, zumindest bei den ganz jungen Frauen. Besonders Wagemutige trugen dazu den 1909 in Paris vorgestellten Bubikopf zur Schau. Ab mit den alten Zöpfen!
Und für darunter? Ein von Medizinern empfohlener, vielleicht nicht sehr schicker, aber auf jeden Fall moderner BH! Beispielsweise wies der deutsche Gynäkologe Carl Heinrich Stratz in einem seiner Hauptwerke, der im Jahr 1900 erschienenen Studie Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung, eindringlich und unterstützt von zahlreichen Abbildungen auf die Verformung der Körper und Verlagerung der inneren Organe durch qualitativ schlechte Korsette hin.
Das elastische und verstellbare Stück namens „Lada“ stammt aus dem Jahr 1911 und könnte als früher Sport-BH bezeichnet werden. Laut einem Inserat in der führenden Wiener Modezeitschrift Wiener Mode konnte diese neue Unterwäsche im Geschäft Pohl & Rosenthal in der Valeriestraße (heute Böcklinstraße) im zweiten Wiener Gemeindebezirk erworben werden (vgl. Wiener Mode 1911: 1289).
Das Korsett kam deswegen noch lange nicht aus der Mode. Ältere Damen trugen es noch weit bis in die 1920er Jahre hinein. Sie waren es so gewohnt und konnten sich die modischen Seidenfähnchen ohne Halt, die die Anhängerinnen der „Girl Culture“ favorisierten, nicht als Unterwäsche vorstellen. In den späten 1940ern fanden modebewusste Frauen vieler Altersklassen den Weg zurück zum Korsett. Christian Diors New Look-Kostüme (ab 1947) waren ohne formendes „Darunter“ mehr oder weniger untragbar.
Ob mit oder ohne Korsett, ob mit Spitzen-BH, Push-Up oder Sport-BH – oder gleich „braless“: Heute gibt es ausreichend Möglichkeiten, dass jede/r ihre/seine Unterwäsche frei, ganz ohne Zwang wählen kann.
Literaturverzeichnis
Top of page- Wiener Mode, 1.9.1911, S. 1289.
Abbildungen
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| Titel | Büstenhalter „Lada“, 1911 (Dauerausstellung des Wien Museums) |
| URL | media/wdr06_04-01_Abb_01.jpg |