Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Christian Zolles, 

Eva Horn und 

Laura Tezarek

Editorial

Editorial
Veröffentlicht am: 05.12.2025

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Wiener Digitale Revue 7 (2025)

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Abstract

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Die siebente Ausgabe der Wiener Digitalen Revue widmet sich dem Thema Poetologie der Geheimdienste mit der Intention, das Wissen um Spionage auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht zu aktualisieren. Mit der Verschärfung der geopolitischen Lage in den vergangenen Jahren sind schließlich auch geheim- und nachrichtendienstliche Tätigkeiten wieder vermehrt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Der Umstand, dass gerade die österreichischen Nachrichtendienste in Misskredit gekommen sind, wird zum Anlass genommen, auf die ‚gute‘ Tradition literarischer und literaturwissenschaftlicher Aufdeckungsarbeit hinzuweisen.

Editorial The seventh issue of the Wiener Digitale Revue is dedicated to the poetics of intelligence services, aiming to update the understanding of espionage through the lens of literary and cultural studies. Given the recent deterioration of the geopolitical situation, intelligence operations and clandestine activities have regained public attention. This volume takes the particular discredit recently faced by Austria’s intelligence services as a timely occasion to spotlight the enduring and valuable tradition of literary and scholarly work focused on the exposure and critical scrutiny of such affairs.

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Die siebente Ausgabe der Wiener Digitalen Revue widmet sich dem Thema Poetologie der Geheimdienste mit der Intention, das Wissen um Spionage auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht zu aktualisieren. Mit der Verschärfung der geopolitischen Lage in den vergangenen Jahren sind schließlich auch geheim- und nachrichtendienstliche Tätigkeiten wieder vermehrt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Berichte über Desinformationskampagnen, Abhörskandale, Hackerangriffe auf staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen, Sabotageaktionen, Liquidationen von Oppositionellen u. a. m. dominieren die Nachrichten.

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Damit ist auch wieder die Paradoxie vor Augen geführt worden, die sich aus dem Aufeinandertreffen geheimer und öffentlicher Bereiche innerhalb von demokratischen Gesellschaften ergibt: Geheim- und Nachrichtendienste agieren in der Regel in einem staatlichen Arkanbereich, einem tendenziell ‚rechtsfreien Raum‘, dessen Grundsätze auf Verborgenheit, List und Gegnerschaft beruhen. Damit stehen sie den Prinzipien der zivilen Rechtsordnung und der demokratischen Transparenz an sich diametral entgegen.

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Das Phänomen Spionage stellt somit im Grunde ein politisches Geheimnis dar, von dem allerdings jeder weiß und das man sich auf verschiedene Weisen vorzustellen versucht. Das verweist auf die ‚strukturelle Fiktion‘, die der öffentlichen Wahrnehmung von Geheim- oder Nachrichtendiensttätigkeiten und ihren AkteurInnen zugrunde liegt (Horn 2007). Wo Geheimhaltung, Doppelbödigkeit und Rätselhaftigkeit vorherrschen, ist man auf Hypothesen und Fragen der Plausibilität angewiesen. Es liegt in der Natur der Sache, dass das Wissen um Staatsgeheimnisse niemals, und wird ihm auch in investigativer, autobiografischer oder historiografischer Form begegnet, restlos auf Faktuales, eine Wirklichkeit zurückgeführt werden kann. Genau darum werden so viele Geschichten davon erzählt. Stets handelt es sich um das Zeichnen einer alternativen Wirklichkeit, die mögliche Version eines Bildes, aus dem die Logik des Verbergens herausgerechnet wird. Um ‚real‘ zu werden, muss das an sich nicht darstellbare und unabschließbare Feld des Geheimen verlassen, der Dienst am Geheimen aufgegeben und den Regeln konventioneller Darstellung und Identifikation angeglichen werden.

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Das lenkt die Aufmerksamkeit auf zweierlei: einerseits auf die Darstellungsstrategien, über die vom Geheimen erzählt wird, die Poetologie, und andererseits auf die Art des darüber Wissen-Könnens, die Epistemologie. Wie wird berichtet und welcher Typus von Wissen spiegelt sich darin? Das sind die Bereiche, in denen in der literartur- und kulturwissenschaftlichen Forschung hohe Reflexionsstandards angelegt wurden, und hier kann angesetzt werden, um dem aufgeblühten Feld der Intelligence Studies (u. v. a. Schliefsteiner u.a. 2007ff., Moran/Murphy 2013, Johnson/Wirtz 2023) komplementäre Blickwinkel hinzuzufügen.

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In einem Land, das in jüngster Vergangenheit von zahlreichen Nachrichtendienstskandalen erschüttert wurde, ist diese Frage von besonderer Dringlichkeit. In Österreich haben die Aufarbeitungen der 2018 vom Innenministerium unter Innenminister Herbert Kickl veranlassten Hausdurchsuchung im ehem. Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT, heute Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst; Riegler 2022), der möglichen Versäumnisse im Vorfeld des Wien-Attentats vom 2. November 2020 (Zerbes 2021) oder des geheimdienstlichen Kontaktgeflechts rund um Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek (Taub 2023) erst begonnen. Noch weitreichender sind die seit Jahren offensichtlich vermehrten Aktivitäten von Auslandgeheimdiensten in der Hauptstadt, die Österreichs Ruf als einer „Brutstätte der Spionage“ (Kallioniemi 2023) erneut in Erinnerung gebracht haben. Wie jüngste Nachrichten rund um die Aushebung von ‚Sächsischen Separatisten‘, die Hausdurchsuchungen auch in Österreich zur Folge hatte und Kontakte in die Innenpolitik offenlegte, zeigen, ist das Vertrauen internationaler Nachrichtendienste in die heimischen Institutionen nicht eben groß („Deutsche Behörden weihten Österreich ‚so lange wie möglich‘ nicht in Neonazi-Causa ein“, Schmidt/Schmitt 2025).

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Demgegenüber möchte diese Ausgabe eine andere Genealogie in Erinnerung rufen: die Geschichte der Erzählungen und Diskurse über das politische Geheime seit dem Ende der Habsburger-Monarchie und des k. u. k. Evidenzbüros. Sie entfaltet sich in der Spannung zwischen einem reaktionären und republikanischen Verständnis von Geheimdienstaktivitäten: Einerseits wird hier über die ‚vielen Gesichter‘ Maximilian Ronges (Moritz/Jagschitz/Leidinger 2007) spekuliert, den letzten Chef des Evidenzbüros und bis in den Ständestaat hinein aktiv. Auf der anderen Seite steht das politische Engagement Egon Erwin Kischs (Der Fall des Generalstabschef Redl, 1924). Vor allem aber gibt es literarische Reflexionen und Verarbeitungen von Spionage-Sujets, in denen sich die historischen Konstellationen jeweils einzigartig spiegeln. Diese Entwicklung kann skizziert werden ausgehend von Robert Musils Vorstufe von Der Mann ohne Eigenschaften mit dem Titel Der Spion (1918–1920) über Joseph Roths Das Spinnennetz (1923) und Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht (1936) über die Literarisierung spezieller Diskurse des Kalten Krieges (Maurer/Neumann-Rieser/Stocker 2017) bis hin zu Elfriede Jelineks Eine Partie Dame (1980), Werner Koflers Traum und Wirklichkeit (1985) oder Peter Waterhouses (Krieg und Welt) (2006).

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Diese Überlegungen gaben aber nur die Ansatzpunkte vor, um international weiter auszuholen. In Bezug auf die Gegenwart wäre zu fragen, wie die Konfliktmuster des Kalten Kriegs im Verborgenen weiterwirken oder sogar medial propagiert werden. Hierbei ist nicht zu übersehen, dass die gegenwärtigen Konstellationen, in der uns Geheimdiensttätigkeiten begegnen, auf weitgehend neuen medialen Grundbedingungen beruhen. Heute sind Cyberkriminalität und -warfare sowie Meinungslenkung über Social media unumstritten zu zentralen Fragen der Staatssicherheit geworden. Des Weiteren laufen Aufklärungsarbeiten über vernetzten investigativen Journalismus nicht nur über Online-Zeitschriften, sondern über Blogs, Threads und Podcasts.

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Die Geschichte der Spionage führt aber auch unweigerlich in die Geschichte des Totalitarismus und der Staatsparanoia. Unter welchen Bedingungen – man denke beispielsweise an die Erfahrungen Herta Müllers mit der rumänischen Securitate (Herztier, 1994) – konnte die literarische Aufarbeitung repressiver Erfahrungen erfolgen und welche Resonanz rufen diese immer noch hervor? Oder etwa mit Seitenblick auf Marcel Beyers Spione (2000) oder Barbara Honigmanns Ein Kapitel aus meinem Leben (2004): Wie ist die Disposition von Spionage, Medialität und Erinnerung sowie das Verhältnis Staat–Familie generell zu betrachten? Welchen Einfluss hatten Spionagetätigkeiten generell auf die Kulturlandschaft der Nachkriegszeit? Ob Carl Zuckmayers Geheimreport (2002) für den CIA über die Kulturgrößen in der Zeit des Nationalsozialismus oder Giangiacomo Feltrinellis Verlagstätigkeiten in Italien: Aus literaturgeschichtlicher Sicht sind die Geheimtätigkeiten zur Etablierung einer freien Öffentlichkeit und ihre nationaltypischen Spezifika längst noch nicht hinlänglich aufgearbeitet.

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Es freut uns, dass wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zahlreiche BeiträgerInnen für diese Ausgabe gewinnen konnten. Den Anfang macht der Beitrag von Sylvia Sasse, der sich der ‚retroaktiven Politik‘ widmet, die für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit wesentlicher Bestandteil operativer Geheimdiensttätigkeit war. Unter ‚Retroaktivität‘ ist die Verkehrung von Ursache und Wirkung oder von vorher und nachher zu verstehen. Es geht dabei darum, eine Ursache, eine Rechtfertigung, ein Motiv für eine Handlung zu erfinden, die man sonst mit argumentativen Mitteln nicht begründen kann. So war es für die Stasi gängiger Gebrauch insbesondere gegenüber unliebsamen KünstlerInnen, diese über fingierte Gerüchte oder Indizien von anderen zu isolieren und Untersuchungen gegen sie zu rechtfertigen. Im Nachhinein setzte sich dann, so der Plan, das Narrativ des Verrats durch. Diese Geheimdienstlogik ist jedoch alles andere als Vergangenheit: Sie lässt sich nach wie vor in Putins Rhetorik beobachten, wenn es um die Begründung des Kriegs gegen die Ukraine geht oder darum, KünstlerInnen im vermeintlichen Kampf gegen den Terrorismus verhaften zu lassen. Aber auch international ist diese Logik der Verkehrung von Ursache und Wirkung ein Teil des rechtspopulistischen Kulturkampfes geblieben.

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Ebenso aktuell beschäftigt sich der Beitrag von Philipp Sperner mit den Fiktionen des indischen Geheimdienstes. Ausgehend von der zunehmenden globalen Bedeutung des indischen R&AW (Research and Analysis Wing) untersucht er die kulturellen Narrative und spezifischen Poetologien dieses Aufstiegs. Dabei wird besonderes Augenmerk auf den Stellenwert des über 2000 Jahre alten Arthaśāstra für das geostrategische Narrativ Indiens gelegt, eine umfassende Abhandlung über alle Bereiche der Regierungskunst und politischen Strategie des Philosophen Kautilya (vermutlich 4.–3. Jh. vor unserer Zeitrechnung). Anstatt allerdings lediglich zu argumentieren, dass die geheimdienstliche Strategie Indiens tatsächlich kautilyanische Züge aufweist und als durch das Arthaśāstra beeinflusst verstanden werden muss, geht es vielmehr um eine kritische Analyse genau jenes Anspruchs, (außen)politisches Handeln als Konsequenz eines kulturell-spezifischen Welt- und Politikverständnisses zu begreifen und darzustellen. Die Tendenz, das Arthaśāstra als Deutungsgrundlage indischer Außenpolitik heranzuziehen, ließe sich aus dieser Perspektive dann auch als Fortschreibung des nationalen Eigenlogiknarrativs der Modi-Regierung verstehen.

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Im Anschluss an die beiden höchst aktuellen Untersuchungen widmet sich Wolfgang Brylla den polnischen Geheimdienstfiktionen nach 1945 und geht der Vermutung nach, dass es ohne den Spionagefilm und Spionageroman gar keine polnische Populärkultur gegeben hätte. Mit der Straßenfeger-Fernsehserie Stawka większa niż życie etablierte sich in der TV-Landschaft der späten 1960er Jahre einerseits ein schwarz-weißes Unterhaltungsformat, andererseits ein durchaus durchpolitisiertes und national geschichtsträchtiges fernsehästhetisches Narrativ. Schon bald folgten andere Agentenfilme, die den Kampf der polnischen Gegenspionage gegen feindliche Nachrichtendienste aus dem kapitalistischen Westen aufgriffen. Gleichzeitig feierte in Heftromanreihen der Spionageroman große Lesererfolge, der nach ähnlichem poetologisch-propagandistischem Muster geschnitten war. Nach der Wende 1989/90 ist ein starker Cut mit Blick auf die Weiterentwicklung und (entpolitisierte) Neuprogrammierung des Storytellings zu verzeichnen und erst in den letzten Jahren lässt es sich von einem Gattungsrevival sprechen.

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Thomas Riegler hat für die Wiener Digitale Revue Einsicht in fünf kürzlich geöffnete Dossiers des britischen Security Service MI5 zum Fall Alice Friedmann, genannt ‚Litzi‘, genommen, die als Vertraute des berühmten britischen Doppelagenten Kim Philby in die Spionagegeschichte eingegangen ist. Sie hatte im Wien der 1930er maßgeblichen Anteil an dessen politischer Orientierung und war danach noch jahrelang als Kurierin für den sowjetischen Geheimdienst und die Komintern tätig. Trotz ihrer maßgeblichen Rolle wurde die 1991 verstorbene Litzi bislang als Nebenfigur abgehandelt. 2004 veröffentlichte ihre Tochter Barbara Honigmann die essayistische Biografie Ein Kapitel aus meinem Leben, die Litzi ins Bewusstsein vor allem der deutschsprachigen Öffentlichkeit zurückführte. Durch die neuen Erkenntnisse aus den Akten lassen sich diese subjektiven literarischen Erinnerungen nun in einen größeren Kontext stellen.

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Der Beitrag von Eva Horn folgt dieser Spur weiter bis zu Graham Greens Klassiker Der Dritte Mann (1950), für den Philby gern retrospektiv als eine mögliche Vorlage gehandelt wurde. Horn zeigt aber, dass es hier weniger um Spionage als um eine düstere Allegorie auf das zerstörte Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geht. Das von den Alliierten besetzte Wien wird zum Schauplatz einer Gesellschaft in moralischer und sozialer Auflösung. Der Text analysiert zunächst die Inkonsistenzen des Plots, um dann auf die eigentlichen ethischen und politischen Dilemmata hinzuweisen, die im Kern von Greenes Werk stehen. Im Zentrum der Lektüre steht darum nicht die Detektivgeschichte, sondern die Darstellung eines ökonomischen und rechtlichen Vakuums, das Schwarzmarkt, Profitsucht und Gesetzlosigkeit hervorbringt. Die ‚Figur des Dritten‘ erweist sich dabei als zentrale politischen Phantasie des Kalten Kriegs, die eine Position der Neutralität ermöglichen würde. Von hier aus lassen sich spätere Szenarien und Protagonisten in Greenes Werk als Versuche lesen, in einem Feld der ausweglosen Feindschaft die Tragik einer dritten, nur dem persönlichen Ethos verpflichtete Haltung auszuleuchten.

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Ein Beitrag zu Robert Musil schließlich sorgt für einen angemessenen Abschluss des Schwerpunktteils: Im ersten seiner zwei Artikel für die Wiener Digitale Revue, der zugleich seinen Abschied aus der literaturwissenschaftlichen Forschung darstellen soll, legt Walter Fanta dar, was es mit der ersten Vorstufe vom Mann ohne Eigenschaften, Arbeitstitel Der Spion, für eine Bewandtnis hat. Denn von 1918 bis 1921, zu Beginn des Produktionsprozesses am Roman, möchte Musil tatsächlich einen Spionageroman schreiben. Die Tätigkeit als Spion sollte den Hass des desillusionierten Protagonisten auf die väterliche Ordnung der Vorkriegsgesellschaft zum Ausdruck bringen. Sukzessive wird in der weiteren Romanarbeit das Spion-Motiv zurückgedrängt und gewissermaßen sublimiert. In den nie ausgeführten Plänen von 1936 schließlich erscheint Ulrichs Spionieren zu einer Methode der Wahrheitsfindung erhoben oder an andere Figuren delegiert.

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Der thematische WDR-Schwerpunkt wird auch diesmal durch drei Beiträge aus dem Ressort der digitalen Praxis ergänzt: Jakob Kreß führt hier zu Beginn in die digitale Redaktions- und Netzwerkarbeit in der Open Access-Transformation ein, mit der sich das Publikationswesen im Wissenschaftssystem stark veränderte und dabei sowohl neue Möglichkeiten als auch Herausforderungen redaktioneller Arbeit mit sich brachte. Neben einem deutlichen Anstieg an Open Access-Zeitschriften und Dienstleitungsangeboten ist hierbei auch eine vielseitige Organisation von Initiativen zu vermerken, welche auf verschiedenen Ebenen Vernetzungsarbeit leisten und wissenschaftspolitische Forderungen organisieren. Das 2022 gegründete Redaktionsnetzwerk ‚OJSRed‘ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Vernetzung von Redaktionen verlagsunabhängiger und mit Open Journal Systems (OJS) arbeitender Open Access-Zeitschriften im DACH-Raum voranzutreiben.

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In einem digitalen Projektbericht stellen daraufhin Desiree Hebenstreit und Laura Tezarek die Webseite zur kommentierten Edition ausgewählter Werke Vicki Baums vor. Ziel des Projekts war die Erarbeitung einer zuverlässigen, kommentierten und kontextualisierten 6-bändigen Ausgabe ausgewählter Werke Baums. Die Bände präsentieren zentrale Prosatexte, die mit einer Ausnahme nicht mehr lieferbar sind und erstmals die thematische, erzählerische, mehrsprachige Bandbreite der unterschiedlichen Stationen Baums zwischen Wien, Berlin und Hollywood abbilden. Zusätzlich zum Kommentarteil der Printbände wurden weitere Dokumente zur Entstehung, Rezeption und Adaption der jeweiligen Texte in digitaler Form auf einer Internetplattform zugänglich gemacht.

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Es freut uns schließlich, mit dem Beitrag von Floria Fazekas und Daniel Scheuch der Frage nach der besseren Zugänglichkeit von Wissenschaft nachzugehen. In einem gesellschaftlichen Klima wachsender Wissenschaftsskepsis wird aufgezeigt, wie gute Gestaltung und zielgerichtete Kommunikation das Vertrauen in Forschung stärkt. Auf Basis aktueller Studien und Praxiseinblicke wird deutlich, dass visuell und sprachlich verständlich aufbereitete Inhalte nicht nur Akzeptanz fördern, sondern auch die Wirkung wissenschaftlicher Arbeit deutlich erhöhen. Barrierefreie Wissenschaftskommunikation – verstanden als Kombination aus strategischer Planung, Zugänglichkeit und Verständlichkeit – wird dabei zur Voraussetzung für Sichtbarkeit und erhöhte gesellschaftliche Relevanz. Agenturen aus Gestaltung und Kommunikation zeigen, wie sich Wissenschaft sichtbarer, verständlicher und zukunftsfähiger machen lässt – mit konkreten Tipps für WissenschaftlerInnen und KommunikatorInnen.

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Im Sprung auf das Wiener Digitale Revue-Ressort des Schwarzen Brettes, greift nun der zweite Beitragsteil von Walter Fanta die Spionage-Handlung in Musils Roman auf und stellt seine Aktualität unter Beweis. Die reine Intelligenz von Musils Spion-Figur wird aktualisiert: 2003 in einer Hörspielproduktion, 2004 in einer Spielfilmhandlung, 2023 in einem Romanprojekt des Herausgebers, der sich damit selbst als Autor ins Spiel bringt. In einem Diskurs über die Dummheit in Anlehnung an Musils Rede ‚Über die Dummheit‘ zeigt sich die Brisanz der Verwandlung von Intelligent Service in Artificial Intelligence.

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Es folgt ein Sprung von Robert Musil zu Elfriede Jelinek, wenn Wolfgang Jacobsen in ein von Jelinek 1980 verfasstes Drehbuch einführt: Wien – im Schnittpunkt der politischen Blöcke in Ost und West. Hier begegnen sich Andzrej, polnischer Jude und Kommunist, der Kopf eines Agentenrings, und die Studentin Lisa. Sie erliegt einer obsessiven Leidenschaft. Er nutzt Sex als Glück für einen Augenblick. Die dritte Protagonistin ist die Stadt Wien, das ‚Blinddarmende von Westeuropa‘: Babylon der Sprachen, Milieu der EmigrantInnen, alter Spanienkämpfer, und der Agenten für den Osten. Der Rhythmus des Ganzen, so Jelinek, sei eine sanft schwingende Sinuskurve, cool und plötzlich von jähen Action-Zacken gestört. Serge Gainsbourg und Tilda Swinton waren als Hauptdarsteller ins Auge gefasst. Doch strauchelte das Projekt im Dschungel der bundesdeutschen Filmförderung.

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Mit dem ersten der beiden studentischen Beiträge, von Katrin Grimm, erreichen wir erneut ein höchstaktuelles Thema, nämlich den Spionage-Diskurs rund um die ‚Ibiza-Affäre‘, die die österreichische Innenpolitik 2019 nachhaltig erschütterte. Sie wird vor dem Hintergrund der Geschichte weiblicher Spionage beleuchtet, die ein vielfach unterschätztes Faszinosum ist: umwoben von Mythen, reduziert durch stereotype Narrative, marginalisiert in der historischen Aufarbeitung. In der besagten Affäre wurde nun eine vermeintliche ‚Oligarchennichte‘ zur medienwirksam inszenierten Figur weiblicher Spionage stilisiert, und das häufig unter Rückgriff auf altbekannte Klischees.

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Im Anschluss daran zeigt Laura Nespor auf, wie sehr Österreich im Kalten Krieg von gesellschaftlicher und politischer Unsicherheit, der Besatzung der Alliierten sowie der Spionage seitens mehrerer Geheimdienstorganisationen geprägt war. Mit absichtlich überzeichneter und satirischer Erzählweise entwarfen Milo Dor und Reinhard Federmann in ihren Romanen Und einer folgt dem anderen (1953) und Die Abenteuer des Herrn Rafaeljan (1963) ein realistisches Bild des Landes während der Nachkriegszeit und stellten gleichzeitig die herrschende Ordnung infrage. Es wird untersucht, inwiefern sich die in den beiden Werken dargestellten Ereignisse in den realgeschichtlichen Kontext einbetteten und wie es mithilfe von Humor in der Literatur gelingen kann, unterschwellig Kritik zu üben, den Fokus auf gesellschaftspolitische Missstände zu lenken und gleichzeitig ein Ventil zu bieten, diese Erfahrungen zu verarbeiten.

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Es folgt ein literarischer Textauszug von Thomas Ballhausen, in dem ein verdeckter Ermittler für einen letzten Auftrag reaktiviert wird: Er soll die Brandstifterin, eine gefährlich gewordene Agentin, ausfindig machen und zur Strecke bringen. Angesiedelt in einer düsteren Zukunft macht sich der Ermittler auf, die Brandstifterin, mit der ihn auch eine romantische Vergangenheit verbindet, zu suchen. Es entspinnt sich eine Agenten-Geschichte, in der Jäger und Gejagte öfter die Rollen tauschen, als ihnen lieb ist, in ihren Verkleidungen täuschen sie einander. Immer mehr muss der Ermittler schließlich erkennen, welche Irrwege er beschritten hat, und es höchste Zeit ist, sich neu zu entscheiden.

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Unsere nächste Ausgabe, die Wiener Digitale Revue Nr. 8, wird unter dem Titel Die Maus stehen. Im Call for Papers legen die HerausgeberInnen Kira Kaufmann und Stephan Brändle dar, wie die spannungsreiche Nachbarschaft von Mensch und Maus zahlreiche Spuren in Kunst, Literatur und Sprache hinterlassen hat und bitten um Einreichungen u.a. zur Maus in der Literatur, als Denkfigur der Skalierung von Macht, zur Maus als intermedialem Phänomen oder als Modell des Menschen in Wissenschaft und Technik.

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Schließlich wird auch diese Ausgabe der Wiener Digitalen Revue von Stefan Sonntagbauer per Podcast begleitet. Den Anfang machen Sylvia Sasse und Philipp Sperner im Interview.

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Viel Vergnügen beim online Blättern oder Hören der Beiträge wünschen die HerausgeberInnen

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Christian Zolles, Eva Horn und Laura Tezarek

Literaturverzeichnis

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  • Horn, Eva (2007): Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion. Frankfurt a. M.: Fischer.
  • Johnson, Loch K./Wirtz, James J. (2023): Intelligence: The Secret World of Spies: An Anthology. Oxford: Oxford University Press.
  • Kallioniemi, Pekka (2023): „Österreich ist eine Brutstätte der Spionage“. Interview, in: derstandard.at, 29. Oktober 2023. Abgerufen von www.derstandard.at/story/3000000192968/214sterreich-ist-eine-brutst228tte-der-spionage, Zugriff am 30.04.2025.
  • Maurer, Stefan/Neumann-Rieser, Doris/Stocker, Günther (2017): Diskurse des Kalten Krieges. Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur. Wien/Köln/Weimar: Böhlau.
  • Moran, Christopher R./Murphy, Christopher J. (2013): Intelligence Studies in Britain and the US. Historiography since 1945. Edinburgh: Edinburgh University Press.
  • Moritz, Verena/Jagschitz, Gerhard/Leidinger, Hannes (2007): Im Zentrum der Macht. Die vielen Gesichter des Geheimdienstchefs Maximilian Ronge. Salzburg: Residenz.
  • Riegler, Thomas (2022): Österreichs Geheime Dienste. Eine neue Geschichte. Wien: Klever.
  • Schliefsteiner, Paul et al. (2007ff.): Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies.
  • Schmidt, Colette M./Schmid, Fabian (2025): Deutsche Behörden weihten Österreich „so lange wie möglich“ nicht in Neonazi-Causa ein, in: derstandard.at, 25. Februar 2025. Abgerufen von www.derstandard.at/story/3000000258747/deutsche-behoerden-weihten-oesterreich-so-lange-wie-moeglich-nicht-in-neonazi-causa-ein, Zugriff am 30.04.2025.
  • Taub, Ben: How the Biggest Fraud in German History Unravelled, in: The New Yorker, 6. März 2023. Abgerufen von www.newyorker.com/magazine/2023/03/06/how-the-biggest-fraud-in-german-history-unravelled, Zugriff am 30.07.2024.
  • Zerbes, Ingeborg/Anderl, Herbert/Andrä, Hubertus/Merli, Franz/Pleischl, Werner (2021): Abschlussbericht der Untersuchungskommission zur Analyse der Ereignisse im Vorfeld des Terroranschlags vom 2. November 2020. Abgerufen von www.bmi.gv.at/downloads/Endbericht.pdf Zugriff am 30.07.2024.

Autor·innen

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Christian Zolles

Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Kunstuniversität Linz in Wien - ORCID: 0000-0002-0434-2206

Eva Horn

Universität Wien - ORCID: 0000-0001-6190-1038

Laura Tezarek

Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek - ORCID: 0000-0002-0407-8812