Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Sylvia Sasse

Retroaktive Politik

Über die geheimdienstliche Logik der Erfindung von Ursachen
Forschungsartikel (peer-reviewed)
Veröffentlicht am: 05.12.2025

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Wiener Digitale Revue 7 (2025)

www.univie.ac.at/wdr

Abstract

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Die Geheimdienste bzw. Staatssicherheitsdienste der Parteidiktaturen in Osteuropa haben zur Zeit des Kalten Krieges die Opposition bzw. Kritker:innen des Systems nicht einfach beobachtet, um Gründe für eine Verhaftung zu suchen, sondern sie haben diese Gründe oft selbst produziert. Ich bezeichne eine solche Erfindung von Gründen als eine ‚retroaktive Politik‘. Retroaktivität, Ex-Post-Intentionalität oder auch Metalepse fasst in unterschiedlichen Disziplinen die Verkehrung von Ursache und Wirkung oder von vorher und nachher. Dabei geht es darum, etwas hervorzubringen, was im Nachhinein als Grund vorausgesetzt werden soll. In diesem Artikel zeige ich, wie diese Erfindung von Gründen vonstatten ging und wie eine ganz ähnliche Praxis aktuell Praxis autokratischer Politik ist.

Retroactive Politics: On the Secret Service Logic of Inventing Reasons During the Cold War, the secret services and state security services of the party dictatorships in Eastern Europe did not simply observe the opposition and critics of the system in order to find reasons to arrest them, but often produced these reasons themselves. I refer to such fabrication of reasons as “retroactive politics”. Retroactivity, ex-post intentionality or metalepsis summarises the reversal of cause and effect or of before and after in various disciplines. The aim is to produce something that can be assumed to be the reason in retrospect. In this article, I show how this invention of reasons took place and how a very similar practice is currently the practice of autocratic politics.

Volltext

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Als der russische Philosoph Michail Ryklin 2016 über die politische Praxis von Vladimir Putin sprach, bezeichnete er sie als „Tschekismus“ und „operative Politik“, kurzum als eine „Politisierung von Geheimdienstmethoden“ (Ryklin 05.05.2016). Ryklin spielte dabei vor allem auf die verschwindende oder inszenierte Sichtbarkeit politischer Prozesse an, die auch in Theorien zur Postdemokratie, bezogen auf demokratische Staaten, zu Recht beklagt wird (vgl. Crouch 2008). Ryklin nannte den „öffentlichen Teil der Politik“ – wiederum bezogen auf Russland – eine „Fiktion für Uneingeweihte, für diejenigen, die zum einzig realen geheimen Wissen keinen Zugang haben.“ (Ryklin 05.05.2016)

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Die ehemaligen Staatssicherheitsarchive Osteuropas waren zu dem Zeitpunkt, als Ryklin vom politischen Tschekismus sprach, bereits seit über fünfundzwanzig Jahren geöffnet, zumindest in jenen Staaten Osteuropas, die nicht mehr unter dem politischen Einfluss von Russland standen. In Russland selbst wurde nur um 1990 wenigen Personen Zugang zu den Archiven gewährt, sie konnten vor allem Akten aus der Stalinzeit einsehen.1 Seither wurden nur vereinzelt Akten aus den Geheimdienstarchiven für die Forschung freigegeben. In den anderen ehemaligen Parteidiktaturen aber war die ehemals verborgene Welt geheimdienstlicher Arbeit, der auch Putin angehörte, teilweise einsehbar geworden und hatte die Vorstellung von der ‚Fiktion für Eingeweihte‘ auf eine andere Weise bestätigt. Denn der Blick in die Akten hatte verdeutlicht, wie die sichtbare Inszenierung der Politik und des Politischen, all diese Feste, Demonstrationen, Paraden und scheinbaren Wahlen, durch eine andere, unsichtbare Inszenierung begleitet worden war. Diese unsichtbare Inszenierung funktionierte, wie der französische Künstler Guy Debord das in einem anderen Zusammenhang formulierte, wie ein „internes Spektakel“ (Debord 1988: 23) und wurde von den Geheimdiensten produziert. Die Literaturwissenschaftlerin Cristina Vatulescu hat deshalb vorgeschlagen, Geheimpolizeiakten als „collective literary work“ zu lesen, als „way of doing things with words“ (Vatulescu 2010: 35). Sie wollte mit dieser Formulierung einerseits darauf hinweisen, dass man solche Akten nicht einfach als Quelle lesen kann, andererseits aber darauf, dass die Akten nicht dazu da waren, vorhandene ‚Fakten‘ über den inneren und äußeren politischen Feind zu sammeln, sondern dass es vor allem darum ging, diese ‚Fakten‘ erst zu schaffen – durch Worte, z. B. öffentliche Behauptungen oder in Umlauf gebrachte Gerüchte, aber auch durch fabrizierte Indizien, vermeintliche Zeug:innen oder gestellte Situationen. Geheimdienstliche Arbeit zielte auf die Erzeugung eine Wirkung ab, auf eine kalkulierbare Reaktion, eine steuerbare Antwort. Diese Wirkung konnte sich aber nicht von allein einstellen, für sie mussten Gründe erfunden, Ursachen geschaffen werden.

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Ich bezeichne eine solche Erfindung von Gründen als eine ‚retroaktive Politik‘. Retroaktivität, Ex-Post-Intentionalität oder auch Metalepse fasst in unterschiedlichen Disziplinen die Verkehrung von Ursache und Wirkung oder von vorher und nachher (vgl. Sasse 2025). Dabei geht es darum, etwas hervorzubringen, was im Nachhinein als Grund vorausgesetzt werden soll. D. h. man erfindet eine Ursache, eine Rechtfertigung, ein Motiv für eine Handlung, die man sonst mit argumentativen Mitteln nicht begründen könnte. Die aktive Hervorbringung von Gründen kann eine Sprechhandlung sein, sie kann aber auch durch inszenierte Ereignisse passieren.

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Die Verkehrung von Ursache und Wirkung ist neben der Täter-Opfer-Umkehr, der Verkehrung von Fiktion und Wirklichkeit, von Aktion und Reaktion ein typisches Verfahren von populistischen und autokratischen politischen Systemen (vgl. Sasse 2023). Sie ermöglicht es, Kritiker:innen zu kriminalisieren, Zensur unsichtbar zu machen und Kriege zu rechtfertigen. Mit Beispielen, aus der Zeit des Kalten Krieges und des gegenwärtigen Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, möchte ich die Bandbreite der Erfindung von Gründen für politische Zwecke kurz vor Augen führen.

Erfindung von Gründen, um Kritiker:innen auszuschalten

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Wie Gründe und Ursachen erfunden wurden, um politische Gegner:innen zu kriminalisieren und auszuschalten, konnte man im großen Stil zur Zeit des Terrors unter Stalin beobachten. Stalin begründete Säuberungen und den Mord an Millionen von Menschen mit der Erfindung einer rechten, trotzkistischen oder faschistischen Verschwörung gegen ihn, die er durch unter Folter erzwungene Geständnisse in aufwändig inszenierten öffentlichen Schauprozessen ‚verifizieren‘ ließ. Die Erfindung von Gründen war eine wesentliche Praxis seiner Politik, sie sollte den eigenen Terror als Schutz vor Sabotage, Hochverrat und Mord erscheinen lassen.

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Aber nicht nur in Schauprozessen konnte man diese Praxis zur Zeit der Parteidiktaturen in Osteuropa vorfinden, sondern auch in der öffentlich nicht sichtbaren ‚Zersetzung‘ der kritischen Kunstszene (vgl. dazu Krasznahorkai/Sasse 2019). Die über Künstler:innen angelegten Akten in Osteuropa zeigen, dass die Staatsicherheit versucht hat, eine ‚feindliche‘ Tätigkeit nicht einfach nachzuweisen, sondern zu provozieren und zu fabrizieren. Die Fabrikation von ‚feindlicher‘ Tätigkeit diente nicht nur der Zerstörung der Kunstszene und einzelner Künstler:innen, sondern auch der Ermittlungstätigkeit der Staatssicherheit selbst, sie musste ihre Arbeit ständig selbst legitimieren.

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Gut erforschbar ist diese Praxis im Stasi-Unterlagen-Archiv (BStU) der ehemaligen DDR. 1978 sollte z.B. der Galerist und Kurator Jürgen Schweinebraden ,zersetzt‘ werden. Für die ‚Gründe‘ zeichnete die Stasi selbst verantwortlich. Am 13. Oktober 1978 verschickte die Staatssicherheit ein Gedicht an insgesamt acht Empfänger:innen, darunter, Robert Rehfeld und Dr. Klaus Werner.2 Von allen erhoffte sich die Stasi, wie man heute sagen würde, eine multiplikatorische Verbreitung des Gedichtes.

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Das Gedicht „Nachdenken über Jürgen S.“ sollte Jürgen Schweinebraden als Stasispitzel denunzieren und dadurch in der Szene isolieren, das war die erste geplante Wirkung. Oppositionelle als Stasi-Spitzel zu diffamieren war eine der beliebtesten und effektivsten Strategien der sogenannten ‚Zersetzung‘ der Opposition. Das Gedicht formulierte den Vorwurf nicht plakativ, sondern, wie gerade in oppositionellen Kreisen üblich, allusorisch. Es deutete an, dass Schweinebraden die Kunstszene an die Staatssicherheit ausgeliefert und selbst persönlich davon profitiert habe, er habe den „Judaslohn“ eingestrichen, heißt es. Angedeutet wird darüber hinaus, dass Schweinebraden Auftraggeber habe, dass der „Rausschmiß“ aus dem Job ihm nur Vorteile bescherte, mit anderen Worten, dass es nur die Staatssicherheit selbst sein könne, die sein Chef sei. Auf diese Weise legt die anonyme Absenderin, die Staatssicherheit, nahe, der bzw. die anonyme Autor:in des Gedichts komme vermutlich selbst aus der Kunstszene und genieße jene Vorteile, die Schweinebraden habe, offensichtlich nicht.3 Die Suggestion eines solchen Absenders soll für die zweite geplante Wirkung sorgen, und zwar einen Verdacht über den angeblichen Verrat in die Szene hineintragen.

Gedicht „Nachdenken über Jürgen S.“. Quelle: BArch, MfS, BV Bln AOP 7030 82 Bd. 7, S. 175, S. 121: Versand anonymer Materialien zur Diffamierung des Galeristen Schweinebraden, Operative Information 25.10.1978; OV Arkade, Zersetzungsmaßnahmen gemäß Punkt 4i. der Ergänzung des 5. Operativplans. Abbildung1: Gedicht „Nachdenken über Jürgen S.“. Quelle: BArch, MfS, BV Bln AOP 7030 82 Bd. 7, S. 175, S. 121: „Versand anonymer Materialien zur Diffamierung des Galeristen Schweinebraden“, Operative Information 25.10.1978; OV Arkade, Zersetzungsmaßnahmen gemäß Punkt 4i. der Ergänzung des 5. Operativplans.
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Wie Sandra Pingel-Schliemann in ihrem Buch Zersetzen. Strategie einer Diktatur geschrieben hat, waren z. B. Gerüchte über Ehebruch, pornografische Interessen, Alkoholmissbrauch, Verführung Minderjähriger, Geldgier, Verrat, Vernachlässigung elterlicher Pflichten bis hin zur schon erwähnten Zusammenarbeit mit dem MfS gang und gäbe (vgl. Pingel-Schliemann 2003: 2). Das Ziel solcher ‚Zersetzungen‘ war umfassender als das eines Verbots. In erster Linie sollte, wie es ein Hauptmann der Staatssicherheit in einer Diplomarbeit im Bereich der operativen Psychologie formulierte, das „Selbstvertrauen untergraben“ werden, um Kritiker:innen „von der Verwirklichung feindlich-negativer Pläne und Absichten abzulenken und sie zu verunsichern“ (Wagner 1986: 7). Sie sollten gezwungen werden, „sich mit sich selbst beschäftigen“ (ebd.) zu müssen. Die Stasi liefert hier nicht nur Gründe für die politische Verfolgung, sondern auch für die Zerstörung der Psyche, sie führt sie selbst herbei (vgl. zum „Lernziel Zersetzung“ aus psychologischer Sicht auch Behnke 1995: 42). Denn mit dem Zwang zur Beschäftigung mit sich selbst war keine Selbstsorge gemeint, wie wir sie etwa aus den späten Schriften von Michel Foucault kennen. Foucault hatte Selbstsorge im Sinne der antiken Ethik als eine Möglichkeit beschrieben, sich gerade in erzwungenen Situationen und unter disziplinierenden Mechanismen eine Möglichkeit der inneren Freiheit zu bewahren (vgl. Foucault 2009). Diese war als Schutz gegenüber der Institution oder der strukturellen Macht gedacht, als eine Praxis, wie sie gerade Künstler:innen der inoffiziellen Szene in der DDR praktiziert haben. In dieser Ethik des Selbst lag, so könnte man mit Foucault denken, auch ihre Fähigkeit zum Widerstand. Wird diese jedoch manipuliert, wie hier von der Staatssicherheit, hat das auch Folgen für die Fähigkeit zu Widerstand und Kritik (vgl. ebd.: 313). Künstler:innen damit zu beschäftigen, die über sie verbreiteten Lügen wieder aus dem Weg zu räumen zu müssen, ihr Umfeld durch Misstrauen zu zerstören oder ganz konkret, die „systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens“ (Engelmann et al. 2021) sollten gerade dazu führen, (Selbst-)Vertrauen und (Selbst-)Sorge zu zerstören.

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Als die Künstlergruppe Clara Mosch ‚zersetzt‘ werden sollte, dachte man sich für alle vier Mitglieder unterschiedliche Maßnahmen aus und streute unterschiedliche Gerüchte. Über ein Mitglied wurde ebenfalls das Gerücht gestreut, er sei Stasispitzel: „In den Freundes- und Bekanntenkreis ist der Verdacht hineinzutragen, dass xxxxxxxxx ständig die Partei- und Staatsorgane des Bezirkes über vertrauliche Sachverhalte aus seinem Bekanntenkreis informiert.“ (BArch, MfS, BV, KMSt AKG 3485, Bd. 1, S. 22)4 Über ein zweites Mitglied sollten Gerüchte über Alkoholmissbrauch verbreitet werden, über „wechselnde intime Beziehungen zu teilweise moralisch verkommenen Personen, sexuelle Triebhaftigkeit und Interesse für Pornographie“ (ebd.: S. 23). Beim dritten Mitglied sollten Gerüchte darüber gestreut werden, dass er „ein wachsendes Bekenntnis zur Kulturpolitik unseres Landes öffentlich“ (ebd.: S. 24) bekräftige und sich von anderen Gruppenmitgliedern distanziere. Beim vierten Mitglied sollte die Ehe durch gezielte Gerüchte zerstört werden, z.B. durch „Anrufe u. ä., die geeignet sind, eheliche Zerwürfnisse herbeizuführen.“ (Ebd.: S. 22).

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Es sollen also sowohl die einzelnen Personen als auch die Gruppe in ihrem Zusammenhalt zerstört werden. Im Fall der Künstlergruppe Clara Mosch blieb es nicht bei Gerüchten, diese wurden durch inszenierte Ereignisse ergänzt bzw. ‚verifiziert‘. Derjenige, über den das Gerücht verbreitet wurde, er sei Stasispitzel, wurde zu „legendierten Aussprachen“ (ebd.: S. 23) vorgeladen, die den Verdacht erhärten sollten, der Künstler arbeite ständig mit den Staatsorganen zusammen. Der dritte Künstler, über den das Gerücht verbreitet wurde, er habe seinen Standpunkt gefestigt, wurde so offensiv gefördert, dass auch das verdächtig erscheinen soll. Ihm wurde angeboten, seine Arbeiten gezielt auch im westlichen Ausland zu zeigen und „bislang mehrfach abgelehnte Reisen in das kapitalistische Ausland zum Besuch von Ausstellungen“ (ebd.: S. 25) wurden genehmigt. Die intrigante Förderung ist hier Teil der Repression der gesamten Gruppe. Während einem Mitglied bislang unerreichbare Chancen offeriert werden, werden die Ausstellungsmöglichkeiten der anderen strikt begrenzt.

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Beim anfangs zitierten Gedicht-Gerücht über Schweinebraden allerdings wird noch eine dritte Funktion des Gerüchteverbreitens in der Arbeit der Geheimpolizei offensichtlich. Es geht nicht nur um Denunziation und Verleumdung, sondern das Streuen von Gerüchten ermöglichte es der Staatssicherheit, die eigene Ermittlungsarbeit zu erweitern und sie letztlich aus dem Bereich der Unsichtbarkeit in den Bereich der sichtbaren Polizeiarbeit zu transformieren. Die Stasi musste nur versuchen, die Wege des Geredes zu verfolgen, um das Netzwerk oppositioneller Gruppen zu sichten. Das Gerücht als Genre war eine Art Hilfsinstrument für ‚Wer-ist-wer-Aufklärungen‘. Die Stasi hoffte, so geht es aus dem Dossier über Jürgen Schweinebraden hervor, dass das Umfeld sich gegenseitig verdächtigt und ‚zersetzt‘ hat. Und schließlich sollte durch das von der Stasi in die Welt gesetzte Gerücht die Schaffung eines berechtigten Ermittlungsgrundes zur Klärung der Autorschaft des Gedichts, also eine Ermittlung aller bei Schweinebraden verkehrenden Personen eingeleitet werden. Die Volkspolizei kümmerte sich in der Folge um die Tätersuche, bei der „ein junger, verdienter Galerist“ durch „anonyme Briefe diffamiert werde“ (BArch, MfS, BV Bln AOP 7030 82, Bd. 7, S. 132):5 Auf diese Weise wurde die Polizei als Helferin der Kunstszene etabliert, obwohl das Gerücht von der Stasi selbst stammte.

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Diese Schaffung von Ermittlungsgründen ist typisch, man findet sie in zahlreichen Akten. In der allgeheimen Richtlinie 1/76, auf die in den Akten immer wieder Bezug genommen wird, wird das Vorgehen als Schaffung von „Ausgangsmaterialien“ zur „Verwirklichung“ der Aufgaben bezeichnet (Wagner 1986: 6).

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Ich könnte hier noch viele weitere Beispiele anführen, eines dürfte aber bereits sehr deutlich geworden sein. Bei den ehemaligen Geheimdienstarchiven in Osteuropa haben wir es nicht mit Archiven zu tun, die wie Michel de Certeau es in Der Raum des Archivs oder die Perversion der Zeit formuliert, etwas beiseitelegen, etwas schon Vorhandenes aussortieren, etwas als Quelle festlegen (vgl. de Certeau 2009: 113), sondern mit Archiven, die archivieren, was durch eine Behörde, hier die Staatssicherheit, überhaupt erst produziert worden ist. Es gibt kein vorgängiges archivierbares Material, es gibt einen Auftrag zur Produktion dieses Materials, und zwar von Material über jene, die als potenzielle Feinde der Gesellschaft registriert und archiviert werden sollen. Das Machen, das Produzieren, auch das Produzieren von Personen als Feinden, geht dem Archivieren voraus. Die von Derrida in seinem Artikel „Dem Archiv verschrieben“ ins Spiel gebrachte „erhaltende und errichtende“ (Derrida 2009: 36) Funktion des Archivs ist im Fall der Geheimdienstarchive ganz zu Gunsten der errichtenden Funktion verschoben. Erhalten wird, was errichtet, was selbst produziert worden ist. Mit Produzieren sind aber nicht, wie in der kulturwissenschaftlichen Archivologie üblich, die archivarischen Vorgänge des Kopierens, des Druckens, Bindens und Klassifizierens gemeint, sondern eben die grundsätzliche Erschaffung des zu archivierenden Materials: das Erstellen der Quelle und des Ermittlungsgrundes (vgl. dazu auch Sasse 2022).

Erfindung von Gründen, um Zensur zu rechtfertigen

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Ein Teilbereich der ‚Zersetzung‘ konzentrierte sich im Kunstbereich nicht auf die Künstler:innen, sondern auf die Kunst selbst, ich nenne diesen Bereich ‚operative Zensur‘. Auch hier ging es darum, Gründe bzw. Ursachen zu erzeugen, die etwas verdecken sollten, und zwar die Zensur selbst. Auf diese Weise hatte man im sichtbaren Bereich der Kultur nicht den Eindruck, Zensur erfolge aus politischen Gründen, sondern Ausstellungen oder Aufführungen kämen aus zufälligen Gründen nicht zustande. Manchmal war es ein Wasserrohrbruch, eine Brandschutzmaßnahme oder ein Stromausfall.

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Bis heute kann man in Russland solche ‚Maßnahmen‘ operativer Zensur beobachten. In den letzten Jahren konnten z.B. Filmvorführungen oder Konzerte in Russland nicht stattfinden, wenn es sich um ukrainische Regisseure oder Komponistinnen gehandelt hat. Besonders bekannt ist ein Ereignis vom Dezember 2016 in Moskau. Da kam es im 2002 gegründeten teatr.doc, dem damals bekanntesten Off-Theater Russlands, zu einer Evakuierung des Kinosaals. Gezeigt werden sollte in den Kellerräumlichkeiten der Dokumentarfilm Stärker als Waffen (Syl’niše, niž zbor’ja, 2014) vom ukrainischen Künstlerkollektiv Vavylon’ 13. Es handelte sich um einen Film über den Widerstand auf dem Majdan und den Krieg in der Ostukraine. Die Aufführung wurde nicht vorab verboten, vielmehr platzten kurz vor Beginn der Vorführung etwa 20 Polizisten gemeinsam mit Beamten des Kulturministeriums in den Keller und riefen, im Gebäude befinde sich eine Bombe. Die Zuschauer wurden auf die Straße getrieben und dort registriert. Anschließend verbarrikadierten sich die Bombensucher ungefähr zwei Stunden lang im Theater. Aus der ‚Bombensuche‘ wurde schnell eine Suche nach ‚extremistischem‘ Material, das den Interessen des russischen Staates zuwiderlaufen könnte. Fast beiläufig demontierten die Polizisten das Vorführgerät, beschlagnahmten den Film, verwüsteten die Räumlichkeiten und zerstörten Requisiten. Die Filmvorführung konnte nicht mehr stattfinden (vgl. u. a. Slobodčikova 19.05.2019).6

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Das Vorkommen blieb kein Einzelfall, es zeigt die Geheimdienstlogik des Vorgehens aus der Zeit der Sowjetunion. Die Vorführung des Films wird nicht vorgängig verboten, sondern sie wird durch eine Bombendrohung verunmöglicht, ohne dass man nachprüfen kann, ob es eine solche überhaupt gegeben hat. Auf diese Weise wird eine ‚Wer-ist-wer-Aufklärung‘ möglich, d.h. das an einem Film über den Majdan in der Ukraine interessierte Publikum kann registriert werden. Darüber hinaus war das angebliche Auffinden von ‚extremistischem Material‘ ein neuer Grundstein in einer langen Reihe von Schikanen, die die Arbeit des Theaters immer wieder verunmöglichen sollten: Brandschutzmaßnahmen, gekündigte Mietverträge etc. Ähnliche Maßnahmen findet man auch aus der Zeit des Kalten Krieges. Dem schon erwähnten Galeristen Schweinebraden wollte man zur Eröffnung einer Ausstellung mal das Licht abstellen, „totale Stromabschaltung“, aber dann traute man sich doch nicht, den gesamten Straßenzug „zwischen Raumerstr. und Stargarder Str. elektrotechnisch lahmzulegen“. (BArch, MfS, BV Bln AOP 7030 82, Bd. 7: BStU 000031)7

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Der Aufwand für diese verdeckte Zensur war zeitweise enorm. Künstler:innen berichten aus der Zeit des Kalten Krieges von Einbrüchen in Ateliers und Privatwohnungen bis hin zu Brandstiftung, die Kunstwerke zerstörte (vgl. Kratkie soobščenija 1976). Verhinderung einer öffentlichen Ausstellung in Moskau. Da wurden ‚Arbeiter:innen‘ angeheuert, die sich gegen die Präsentation von „höchst seltsamen Bildern“ auf einem freien Feld am Stadtrand beschwerten. Da wurde ein paar Tage später ein Beschwerdeartikel der angeblichen Arbeiter über die Künstler:innen in der Zeitung Sowjetskaja kultur’a publiziert. Darin beklagten sich die Arbeiter, dass „nachlässig gekleidete Leute“ sie daran gehindert hätten, „herbstliche Grünflächen anzulegen“ (zit. n. Glezer 1982: 305f.). Der Brief beinhaltete alle Elemente des sowjetischen Kulturkampfes, „formalistische“, „dekadente“ „Künstler“ vs. „Arbeiter“, wobei Künstler stets in Anführungszeichen geschrieben wurde, wie das auch in Geheimdienstakten üblich war. In die Geschichte eingegangen ist diese Ausstellung schließlich als ‚Bulldozerausstellung‘, weil zwei ebenfalls angeheuerte Bulldozerfahrer über die Bilder fuhren und diese zerstörten.

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Auch hier kann man sich fragen, wozu das Theater, warum eine solch aufwändig verdeckte Zensur, die erst im Nachhinein stattfindet? Und auch hier erschließt sich die Antwort nur durch die Geheimdienstlogik. Die Ausstellung nicht im Vorhinein ausdrücklich zu verbieten, ermöglichte die schon mehrfach erwähnte Praxis der ‚Wer-ist-wer-Aufklärung‘. Es ging um die Sichtung des potenziell subversiven Feldes nonkonformistischer Künstler in Moskau. Das zeigen auch die Fotoaufnahmen, die ein Spitzel, Michail Abrosimov, von dieser und einer anderen Ausstellung machte und privat aufbewahrte: Auf den Fotos sieht man vor allem Gesichter und nicht Kunst (abgedr. i. Krasznahorkai/Sasse 2019: 283–293).

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Das Beispiel zeigt aber auch das Zusammenspiel von öffentlicher und verborgener Inszenierung, auf die Michail Ryklin aufmerksam machte. Die verborgene Inszenierung, die Teil der Desinformation des sowjetischen Inlandsgeheimdienstes ist, führte etwas anderes auf als die sichtbare Propaganda. Sichtbar war eine Auseinandersetzung zwischen engagierten ‚Arbeitern‘ und merkwürdigen Künstler:innen, wobei die ‚Arbeiter‘ zusätzlich über die mediale Macht verfügten, die Künstler:innen öffentlich zu diskreditieren. Verborgen wurde u.a. der Kampf des Staates gegen seine eigenen Gesetze. Denn auch die Verfassung der UdSSR beinhaltete Rechte wie Redefreiheit, Pressefreiheit, Kundgebungs- und Versammlungsfreiheit, darunter auch die Freiheit der Durchführung von Straßenumzügen und -demonstrationen. Die operative Zensur verschleierte, dass der Staat mit einem direkten Verbot gegen die eigene Verfassung verstoßen hätte. So erfanden die Behörden lieber im Nachhinein Ursachen, um Folgen zu rechtfertigen. Das war der Sinn der propagandistischen Inszenierung. Die gedungenen Arbeiter führten das Spektakel auf, es seien Arbeiter gewesen, die sich an den Werken der Künstler störten, und nicht etwa der Staat, der Kunst zensiert.

Erfindung von Gründen, um einen Krieg zu rechtfertigen

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In der Gegenwart ist die Verkehrung von Ursache und Wirkung weiterhin politische Realität, sie gehört zu dem, was Michail Ryklin als „Politisierung von Geheimdienstmethoden“ beschrieb. Man kann sich darüber streiten, inwiefern sich die gegenwärtige ‚operative Macht‘ in Russland von der sowjetischen unterscheidet. Ryklin stellte 2016 noch fest, dass „der aktuelle ‚Tschekismus‘ den Stalinismus fortsetze“, aber in „manchen Punkten“ anders vorgehe, weil Putin keine einheitliche Ideologie verfolge (Ryklin 05.05.2016). Aber auch diese Beobachtung ist inzwischen hinfällig geworden, weil die nationalistische Ideologie der ‚Russischen Welt‘ inzwischen zum unverkennbaren Dekor der Durchsetzung der eigenen Macht geworden ist und Teil des globalen rechtspopulistischen Kulturkampfes.

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Die Geheimdienstlogik, die sich in der Rhetorik Putins tagtäglich beobachten lässt und die ebenfalls Teil des rechtspopulistischen Kulturkampfes ist, ist die der retroaktiven Politik. Wir finden sie in der Begründung des Krieges gegen die Ukraine: Russland habe die Ukraine überfallen, um die Ukraine zu denazifizieren. Putin verwendet die retroaktive Rhetorik aber auch bei der Verfolgung von Künstler:innen und Kritiker:innen in Inland. Er lässt Künstler:innen verhaften und begründet dies mit ‚Kampf gegen Terrorismus‘. In beiden Fällen ist der Grund weder ursächlich noch vorgängig, er ist erfunden. Aber nicht nur in Russland findet eine solche retroaktive Politik statt, auch Donald Trump regiert nach der Logik der Verkehrung von Ursache und Wirkung: Er legt Zölle fest – und rechtfertigt diese mit Reziprozität. Er streicht Harvard Milliardenzuschüsse – und rechtfertigt dies mit einem Kampf gegen Antisemitismus. Vance hegt den Wunsch, Grönland zu besitzen – und rechtfertigt dies mit der Behauptung, dass Grönland unter Dänemark nicht mehr sicher sei. Trump lässt Tausende Mitarbeiter:innen entlassen – und rechtfertigt dies mit Entbürokratisierung.

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Die Situationen sind ziemlich unterschiedlich, und doch in einem Punkt gleich: Behauptet oder geschaffen wird jeweils eine Ursache, die ein aggressives, ein kriegerisches, ein erpresserisches Handeln begründen soll. Ein Handeln, dessen Gründe, nicht in den behaupteten Gründen zu finden ist, das vielmehr auf Repression und Aggression, auf Machtzuwachs und Erpressbarkeit ausgerichtet ist. Trump, dem es entweder schwerfällt, seine Strategie zu verheimlichen, oder der mir ihr prahlen möchte, formulierte es bezüglich der Zölle so: „Wenn wir diese Länder gebeten hätten, uns einen Gefallen zu tun, hätten sie nein gesagt. Jetzt werden sie alles für uns tun.“ (Financial Express 04.04.2025; Übers. v. Verf.) Das Wort „reziprok“, die Zahlen, die Schautafel, all das Theater diente nur dazu, Gründe zu präsentieren, um die eigenen Wünsche und Ziele zu erreichen, die auf andere Weise nicht zu erlangen gewesen wären. Trump formulierte sogar, dass die Zölle eine Reaktion auf die „Plünderung, Brandschatzung und Vergewaltigung“ (Sherman 03.04.2025; Übers. v. Verf.) der USA über 50 Jahre lang „von nahen und fernen Nationen“ gewesen seien, auf die man jetzt reagieren müsse.

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Diese retroaktive Politik ist nicht neu, sie gehört vielmehr zum Repertoire populistischer und autokratischer Politik. Gerade weil es keine direkten Ursachen und auch keine Rechtfertigungen für das eigene zerstörerische Handeln gibt, müssen Gründe entweder ‚fabriziert‘ werden oder es müssen andere Ereignisse als Ursachen präsentiert oder erst geschaffen werden. Als historisches Beispiel hatte ich die Moskauer Schauprozesse bereits genannt, aber auch Adolf Hitler begründete den Beginn des Zweiten Weltkrieges mit einer retroaktiven Logik. Hitler nutze als Vorwand für den Überfall auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs ein gestelltes Foto von einem vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz. Produziert wurde es von einem extra dafür eingerichteten Kommandounternehmen, das unter dem Decknamen ‚Unternehmen Tannenberg‘ Kriegsgründe schaffen sollte.

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Auch Putin beherrscht die Strategie der Ursachenerfindung in Bezug auf den Krieg aus dem Effeff. So rechtfertigte er den Angriffskrieg auf die Ukraine z. B. durch erfundene historische Ursachen. Am 21. April 2021, also knapp ein Jahr vor der Vollinvasion, warnte er in einer Rede vor der russischen Duma vor „unfreundlichen Aktionen gegenüber Russland“ und kündigte „Reaktionen“ an. Mit Formulierungen wie „Sie haben es auf Russland abgesehen – hier und da ohne jeglichen Grund“ (kremlin.ru 21.04.2021; Übers. und Herv. v. Verf.) verwies er auf den Westen, aber auch auf angeblich westliche Akteure in der Ukraine und Belarus. Die Betonung der Grundlosigkeit ist symptomatisch, sie ist schon fast ein Freud’scher Versprecher, der ihm hier bei der Projektion seiner künftigen Handlungen unterläuft. Die Grundlosigkeit des Angriffs auf die Ukraine muss mit allen Mitteln wegerzählt und auf den Westen übertragen werden. In seiner Rede prognostizierte Putin schon damals, dass bald ein Reagieren folgen müsse: „Die Organisatoren jeglicher Provokation, die unsere grundlegenden Sicherheitsinteressen bedrohen, werden bereuen, was sie getan haben, so wie sie schon lange nichts mehr bereut haben.“ (Ebd.)

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Putin interpretierte hier nicht nur die Proteste der Bürger:innen gegen (von Russland gelenkte) autokratische Politik für ein Ereignis in der Zukunft um, sondern legte auch bereits die Voraussetzungen für die Gründe, die er in der Zukunft benutzen will: Die Rede von der potenziellen Reaktion, die im Westen bereut werde, so wie schon lange nichts mehr bereut worden sei, sollte also nicht bloß die Gegenwart, sondern bereits ein künftiges Ereignis rechtfertigen. Liest man Putins Reden aus heutiger Perspektive, also mit dem Wissen darum, dass die Ankündigung tatsächlich so eingetreten ist, zeigt sich, dass die Verkehrung von Ursache und Wirkung nicht nur darauf angelegt ist, die Gegenwart durch die nachträglich neu interpretierte Vergangenheit umzudeuten, sondern es richten sich auch Interpretationen der Gegenwart auf erst noch geplante, zukünftige Ereignisse und rechtfertigen diese bereits, bevor sie überhaupt eingetreten sind.

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Auch Putins Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ von 2021 ist in ebendiesem Sinn nicht nur ein Geschichtstraktat, sondern eine Ankündigung von Zukunft durch die Erfindung eines Grundes in der Vergangenheit. Putin stellt in dem Aufsatz mit einer pseudohistorischen Begründung die Existenz der Ukraine als eigene Nation nicht nur infrage, sondern schätzt sie ab 2014 als „antirussisches“ Projekt des Westens ein (Putin 2021; vgl. Sasse 2023: 70). So wird die eigene spätere Aktion, nämlich der militärische Einmarsch in die Ukraine, bereits als natürliche Folge einer von Putin erfundenen Vergangenheit projiziert. Geschichte ist in diesem Text nur Mittel, nur Teil einer rhetorischen ‚Spezialoperation‘, die einen Grund, eine Ursache, für eine spätere Aktion konstruiert.

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Auch dass das Produzieren von Ursachen nicht nur eine rhetorische Geste ist, nicht nur ein Sprechakt, zeigt sich an unterschiedlichen Beispielen, u. a. in Bezug auf erzwungene Migration. In der russischen Auslandspropaganda des Senders RT wird ständig Missgunst gegenüber ukrainischen Flüchtlingen geschürt oder über diese diskreditierend berichtet, u. a. mit Schlagzeilen im deutschsprachigen RT wie: „Stimmung kippt: Die Ukraine wird ganz Europa lästig“ oder „‚Friss, du Schmarotzer!‘ In der Schweiz wächst Unzufriedenheit über ukrainische Flüchtlinge“. Den Geflüchteten wird von der russischen Propaganda vorgeworfen, für den Preisanstieg auf dem Immobilienmarkt in Europa und für die Verschlechterung des Lebensstandards der einheimischen Bevölkerung verantwortlich zu sein. Dass diese Argumentation von Akteur:innen wie der AfD übernommen wird, um selbst politischen Profit aus dem Krieg gegen die Ukraine zu schlagen, zeigt sich inzwischen auch in den Wahlergebnissen. Hier wird aber gerade nicht nach der Ursache gesucht, sondern bereits eine Folge als Ursache für die eigene politische Argumentation verwendet. Dabei ist es Putin, der versucht, doppelt von dieser von ihm selbst verursachten erzwungenen Migration zu profitieren, indem er Parteien unterstützt, die ihn unterstützen und mit Migration als Ursache für Gewalt und sozialen Abstieg argumentieren. Strategisch ausgeblendet wird von den hiesigen Profiteur:innen, dass Putin politisch von Migrationsangst in Europa profitiert, indem er selbst Migration verursacht: durch den Krieg in der Ukraine, durch die massive Repression im eigenen Land, durch das in Kooperation mit dem belarusischen Diktator Aljaksandr Lukašenka organisierte Schleusen von Geflüchteten über die belarussische Grenze in die EU (instrumentalisierte Migration) oder durch die militärische Unterstützung des Assad-Regimes. Das politische Geschäft von Ursachenerzeugung und Ursachenverschleierung geht also Hand in Hand.

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Schon im Kalten Krieg hatte die Erfindung von Gründen einerseits den Zweck, Menschen, Gruppen und Nationen zu zersetzen und erpressbar zu machen. Beide Elemente retroaktiver Politik werden auch in der Gegenwart miteinander verknüpft. Aktuell ist zu beobachten, dass das russländische Regime versucht, Demokratie bzw. demokratische Länder zu ‚zersetzen‘. Während die Zersetzungspraktiken im Kalten Krieg auf eine ‚Selbstbeschäftigung‘ und ‚Selbstmanipulation‘ der Opposition zielten, sind sie nun auf demokratische Gesellschaften gerichtet. Sie sollen dort kritische Ressourcen binden, umleiten und mit den Mitteln der Demokratie auf die Demokratie selbst lenken und diese dabei zerstören.

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Das kann man besonders deutlich an der Debatte um Zensur in der Gegenwart sehen. Während in Russland und auch in den USA eine massive Zensur existiert, die z.B. LGBTQ+-Themen tangiert, versucht die russische Propaganda und auch die Propagandamaschinerie von Trump das Phantom einer linken bzw. demokratischen Cancel Culture zu nähren. Trump stilisierte sich folglich als derjenige, der die Zensur in den USA beendete, obwohl er sie einführte und nannte seine Aktion: „Restoring Freedom of speech and ending federal censorship.“ (White House 2025) Auch hier dient ein erfundener Grund zur Legitimation der eigenen Zensur.

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Putin ignoriert die eigene Zensur, indem er in der öffentlichen Propaganda eine andauernde westliche Zensur gegenüber russischer Literatur oder Kunst behauptete. Im April 2022, also nur wenige Monate nach dem Angriffskrieg, wurde eine Plakatkampagne lanciert, die auf das Canceln russischer Kultur im Westen verweist (zahlreiche Quellen auf Facebook und Moskau 2022): „Tschechows Stücke werden in Europa nicht mehr gezeigt. Aber wir werden Shakespeare nicht weniger lieben.“ Oder: „Im Westen weigern sie sich, Seminare über Dostojevskij zu geben. Wir bewundern nach wie vor die Helden von Mark Twain.“ Ganz unten auf dem Plakat, quasi als Unterschrift, der Satz: „Kultur kann nicht gecancelt werden.“ Die russische Auslandspropaganda interpretierte zudem strategisch Kritik an der autokratischen Politik als Russophobie. Das Ziel ist es, politische Kritik zu kulturalisieren, d. h. eine Kritik an einem politischen System als Kritik an einer Kultur auszuweisen.

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Ähnliches gilt auch für die Debatte, die die russische Auslandspropaganda über die angeblichen Kriegsgründe in westlichen Demokratien schürt. Da geht es wahlweise um ‚Denazifizierung‘, ‚Entmilitarisierung‘, um Sicherheitsgründe wegen der ‚Erweiterung der Nato‘, aber auch darum, das eigene Imperium zu legitimieren, d.h. um ein berechtigtes imperiales Begehren gegen den ‚westlichen Kolonialismus‘. Der polnische Außenminister Radosław Sikorski hat die Lächerlichkeit des letztgenannten Grundes vor kurzem wie folgt ironisiert: „Habt ihr nicht genug Land? Elf Zeitzonen und immer noch nicht genug?“ (Portal Polskiego Radia SA 23.04.2025; Übers. v. Verf.) Man könnte auch sagen, was wollt ihr mit all den erfundenen Gründen, nicht mal der imperiale Grund ergibt einen Sinn. Vielmehr gibt es kein Argument, keine Rechtfertigung. Der einzige Grund ist, die Ukraine im Zustand der Erpressbarkeit zu halten. Es soll nicht etwas erpresst werden, das Ziel von retroaktiver Politik ist vielmehr die andauernde Erpressung beziehungsweise die Erpressbarkeit selbst.

Literaturverzeichnis

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    Abkürzungen
  • BArch – Bundesarchiv (Deutschland).
    Literatur
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  • Sasse, Sylvia (2023): Verkehrungen ins Gegenteil. Subversion als Machttechnik. Berlin: Matthes & Seitz.
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Anmerkungen

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1

Wie Arsenij Roginskij und Nikita Ochotin 1993 auf einem Symposium zum Thema Staatssicherheitsdienste und Literatur zusammenfassten, wurde im Herbst 1990 eine totale Zerstörung der IM-Akten befohlen, 1991 wurden auch viele der Akten von Opfern, „darunter die von Schriftstellern“, zerstört (Roginski/Ochotin 1993: 135). Deutlich wird bei Roginski und Ochotin auch (Stand 1993), dass zunächst nur eine Person Zugang zu den Dossiers der 1930er Jahre bekommen hat, Vitalij Šentalisnkij, der die Ergebnisse dann in einer eher unwissenschaftlichen Publikation veröffentlichte (Šentalinskij 1995).

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2

Siehe Abb. 1. Robert Rehfeld war ein Künstler, der 1975 die erste Mail Art-Ausstellung der DDR organisierte. Dr. Klaus Werner war Kunsthistoriker, 1975 Gründer der Galerie Arkade, die bis 1981 über 70 Ausstellungen kritischer junger Künstler zeigte und jährlich Pleinairs auf dem Land organisierte, was 1981 zur Kündigung von Werner und der Übernahme der Galerie durch den Staat führte.

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3

Aus den Akten geht nicht klar hervor, woher die Stasi das Gedicht hat, ob sie es selbst formuliert hat oder es ‚abgeschöpft‘ hat.

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4

„Konzeption zur Differenzierung und Zerschlagung des personellen Schwerpunktes ‚Avantgardistischer Kreis‘“.

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5

„Vorschlag zur Durchführung einer Maßnahme im Rahmen des 5. Operativvorgangs ARKADE der Abteilung XX der BV Berlin“.

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6

Ein ähnliches Vorkommnis fand auch im April 2022 bei der Aufführung von Liedern statt, u. a. des ukrainischen Komponisten Valentin Sylvestrov: „Video dnja. Aleksej Ljubimov igraet Šuberta v ‚soprovoždenij‘ policii“. Abgerufen von newizv.ru/news/2022-04-14/video-dnya-aleksey-lyubimov-igraet-shuberta-v-soprovozhdenii-politsii-355132, Zugriff am 05.07.20025 (vgl. Sasse 2019).

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7

„Vermerk, ‚OV Arkade‘“, 13.09.1976.

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Abbildungen

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Titel  Gedicht „Nachdenken über Jürgen S.“. Quelle: BArch, MfS, BV Bln AOP 7030 82 Bd. 7, S. 175, S. 121: „Versand anonymer Materialien zur Diffamierung des Galeristen Schweinebraden“, Operative Information 25.10.1978; OV Arkade, Zersetzungsmaßnahmen gemäß Punkt 4i. der Ergänzung des 5. Operativplans.
URL  media/wdr07_02-01_Abb_01.jpg

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Sylvia Sasse

Universität Zürich - ORCID: 0009-0007-9942-0628