Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart

Thomas Riegler

Im Schatten von Kim Philby

Litzi Friedmann und das „Kapitel“ aus ihrem Leben
Forschungsartikel (peer-reviewed)
Veröffentlicht am: 05.12.2025

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Wiener Digitale Revue 7 (2025)

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Abstract

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In seiner Nachverfolgung der Lebens- und Geheimdienstgeschichte von Alice ‚Litzi‘ Friedmann, die Mutter der Schriftstellerin Barbara Honigmann, arbeitet Thomas Riegler erstmals fünf Dossiers des britischen Inlandgeheimdiensts ein, die erst Anfang des Jahres 2025 freigegeben wurden. Sie bringen neue Einblicke über eine Periode in den 1930er und 1940er Jahren, die Spionagegeschichte geschrieben hat. Als junge kommunistische Aktivistin in Wien heiratete Friedmann 1934 den berühmten späteren britischen Doppelagenten Harold Adrian Russell (‚Kim‘) Philby. Sie hatte maßgeblichen Anteil an dessen politischer Orientierung und war danach noch jahrelang als Kurierin für den sowjetischen Geheimdienst und die Komintern tätig. Trotz ihrer wichtigen Rolle wurde die 1991 verstorbene ‚Litzi‘ bislang als Nebenfigur abgehandelt. Ihre Biografie unterstreicht nun eindrucksvoll, dass Spionage auch eine bisher kaum erzählte Frauengeschichte ist.

In the Shadow of Kim Philby: Litzi Friedmann and the ‘Chapter’ from her Life In his retracing of the life and intelligence story of Alice ‘Litzi’ Friedmann, the mother of the writer Barbara Honigmann, Thomas Riegler for the first time incorporates five dossiers from the British domestic intelligence service that were only declassified at the beginning of 2025. These papers provide new insights into a period in the 1930s and 1940s that made espionage history. As a young communist activist in Vienna, Friedmann married the famous British double agent Harold Adrian Russell (‘Kim’) Philby in 1934. She played a significant role in shaping his political orientation and subsequently worked for years as a courier for the Soviet secret service and the Comintern. Despite her important role, ‘Litzi’, who died in 1991, was previously treated as a minor character. Her biography now impressively underscores that espionage is a rarely told chapter of women’s history.

Volltext

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„Ein Kapitel aus meinem Leben“ – so sprach Alice Friedmann, genannt ‚Litzi‘ (es existieren verschiedene Schreibweisen) über eine Periode in den 1930er und 1940er Jahren, die Spionagegeschichte geschrieben hat: Als junge kommunistische Aktivistin in Wien heiratete sie 1934 den späteren britischen Doppelagenten Harold Adrian Russell (‚Kim‘) Philby. Sie hatte maßgeblichen Anteil an dessen politischer Orientierung und war danach noch jahrelang als Kurierin für den sowjetischen Geheimdienst und die Komintern tätig. Trotz ihrer wichtigen Rolle wurde die 1991 verstorbene ‚Litzi‘ bislang als Nebenfigur abgehandelt. 2004 veröffentlichte ihre Tochter Barbara Honigmann die essayistische Biografie Ein Kapitel aus meinem Leben, die Litzi ins Bewusstsein vor allem der deutschsprachigen Öffentlichkeit zurückführte. Erst seit Anfang 2025 sind fünf Dossiers des britischen Inlandsgeheimdiensts Security Service (MI5) zu „Philby, Lizy [sic!]“ für die Öffentlichkeit freigegeben. Diese Dokumente werden im Rahmen des vorliegenden Artikels erstmals ausgewertet.

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Das neu zugängliche Wissen schließt eine Lücke. Honigmanns Text, gerade einmal 142 Seiten lang, war die erste, sehr persönliche Annäherung an eine schwer fassbare Frau, die sich ihrer Tochter zeitlebens nur ansatzweise offenbart hatte. Honigmann selbst war die Vergangenheit ihrer Mutter in Jugendtagen bewusstgeworden, als „immer mehr westlich wirkende Männer […] mit starkem englischen Akzent nach Mrs. Hannigmänn fragten“: „Meine Mutter hat sie wieder weggeschickt und denen, die sie doch zu einem Gespräch überredeten, jede Aufklärung verweigert […].“ (Honigmann 2004: 10f.) In einer zweibändigen Werkausgabe des britischen Schriftstellers Percy Shelley fand sie neben dem Vorsatzblatt in „sehr kleiner, feiner Schrift die Initialen des früheren Besitzers handschriftlich eingetragen: ‚H.A.R. Philby, Trinity‘.“ Außerdem fiel ihr auf alten Fotos ihrer Mutter, „die sie in wildem Durcheinander in einem Schuhkarton aufbewahrte“, das Bild eines interessanten jungen Mannes auf, der Pfeife rauchend zu sehen war (ebd.: 12f.).

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Über die Hintergründe erfuhr Barbara Honigmann allenfalls Ansatzpunkte:

Wenn meine Mutter mich später über „dieses Kapitel aus meinem Leben“, wie sie es nannte, ein wenig aufklärte, dann war es nicht, um dieses Kapitel in irgendeiner Weise mit mir zu teilen, an dem es ja auch nichts mehr zu teilen gab, da die Zeit der Geheimhaltung nun vorbei war, sondern weil sie meinte, dass ihre Tochter wenigstens up to date sein solle, wenn schon fremde Menschen vor der Tür standen, um Fragen zu stellen. Damit ich so nah wie möglich an der Wahrheit lügen könnte: ich weiß davon nichts.“ (Ebd.: 24f.)
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Litzi bemühte sich, ihren Beitrag herunterzuspielen: „Es stimmt nicht, dass ich es war, die Kim zum sowjetischen Geheimdienst angeworben hat, und dass es überhaupt in Wien geschah, auch wenn das, was er in Wien erlebte, vielleicht für ihn eine politische Initiation dargestellt hat und sehr wichtig für all seine weiteren Lebensentscheidungen gewesen sein mag.“ (Ebd.: 61) Dennoch habe sie ihrer Tochter beides – Stolz und Scham – „wie einen Adelstitel vererbt“, wenn sie über dieses Kapitel in ihrem Leben sprach (ebd.: 27).

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Wegen ihrer Diskretion und Zurückhaltung war es für Litzi sehr unangenehm, dass „ihr immer wieder eine ganz bestimmte Rolle zugeschrieben wurde, die Rolle der Verführerin, der feurigen Jüdin, die den verklemmten College-Absolventen aus Cambridge in die Liebe und den Kommunismus und die Schlachten der Wiener Arbeiterklasse eingeführt hat.“ Ihre Mutter, so Barbara Honigmann, habe es geschmerzt, ihre Liebesgeschichte und die Geschichte ihrer Ehe mit Kim in der Öffentlichkeit „ausgebreitet und ausgewalzt zu sehen, während er selbst nie wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte.“ (Ebd.: 76f.)

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Gerade in den zahlreichen Biografien Philbys, die ab Ende der 1960er Jahre erschienen, dominierte ein sehr männlicher Blick auf Litzi, während gleichzeitig zu ihrem biografischen Hintergrund wenig bekannt war. Dass Informationsvakuum wurde daher mit Anspielungen auf typische Klischees von der jüdischen Verführerin aufgefüllt. Patrick Seale und Maureen McConville, die als eine der ersten intensiv zu Philbys Vergangenheit recherchierten, stellten Litzi so vor: „Sie war eine kleine, dynamische Person mit wuscheligem schwarzen Haar, dunklen, lebendigen Augen und einem warmen, freundlichen, sogar leidenschaftlichen Charakter. Ein Freund der Familie erinnert sich an sie als ‚sehr jung, sehr enthusiastisch und sehr rot‘.“ (Seale/McConville 1978: 81 – alle Übersetzungen aus dem Englischen: TR) Andere Schilderungen charakterisierten Litzi gleich als „gewaltige Sexbombe“ (Brown 1994: 159). Litzis Ansichten über weibliche Emanzipation hätten keinen Grund darin gesehen, „warum eine gesunde, junge Frau nicht denselben Anspruch auf sexuelles Vergnügen haben sollte wie jeder Mann“, so die Autoren Bruce Page, David Leitch und Philip Knightley. Die „Affäre“ mit Litzi sei ein „Höhepunkt“ im Leben Philbys gewesen und seine erste sexuelle Erfahrung überhaupt. Ob nicht Philbys emotionale Bindung an Litzi nicht stärker gewesen sei als jene von ihr an ihn? (Page/Leitch/Knightley 1981: 50) Dieser Unterton schwang bereits in den Verhören des unter Spionage-Verdacht stehenden Philbys mit. Auf die Frage, ob seine Frau nicht eine „lebhafte und attraktive Person“ gewesen sei, meinte er im Jahr 1951: „Ja, ja, in dem Sinne, dass alle diese Wiener lebhaft sind […].“ (TNA: KV2/4723: 28a.)

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So sehr Litzis Rolle bei der politischen Initiation Philby betont wurde, so rasch verschwand sie aus dem Rest seiner Biografie. In den meisten Fällen wird noch kurz erwähnt, dass sie während Philbys Aufenthalt in Spanien noch eine Rolle spielte. Die Ehe sei dann 1946 geschieden worden. Spätestens dann verschwindet Litzi in der Obskurität. Insofern ist die kritische Distanz, die Litzi an den Tag legte, nur allzu verständlich. Gleichzeitig tat sie selbst wenig, um diese Art der Sichtweise gerade zu rücken. Seale und McConville, die Litzi Ende der 1960er Jahre auch in Ost-Berlin aufsuchten, fanden eine „gut aussehende, kultivierte Frau in ihren 50ern“ vor, die in einer ruhigen Straße in einem Vorort lebte. In der geräumigen Wohnung voll mit Bücherregalen machte Litzi den Eindruck, eine gutbezahlte Angestellte der BBC zu sein, nur dass sie „offensichtlich aus mehrerlei Gründen“ nicht mehr nach London kommen könne (Seale/McConville 1978: 110f.).

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Den Zugang, den Barbara Honigmann dann bei der Biografie wählte, ist so außergewöhnlich wie das Leben ihrer Mutter. Sie schöpfte aus ihren Erinnerungen und verzichtete ganz bewusst auf herkömmliche Recherchen. Solche Nachforschungen gleichen der Autorin zufolge „viel zu sehr dem Nachspionieren, einem Aneignen und Spiel mit dem fremden Leben, auch wenn es das Leben meiner Mutter ist und ich ihr einziges Kind bin und vielleicht irgendeinen Anspruch auf diese Geschichte erheben kann.“ Ihre Mutter habe die „Bruchstücke ihres Lebens“ offensichtlich selbst zersplittert. Deshalb sei sie auch „nirgends hingereist, hingefahren, hingegangen“. Sie habe „keine Dokumente gesucht, gefunden, gesehen“ und mit niemanden gesprochen: „Ich hätte es tun können, aber ich habe es nicht getan.“ Nach dem Tod ihrer Mutter habe sie eine Mappe mit Dokumenten und einen Schuhkarton mit ihrer Fotosammlung an sich genommen. Den Karton habe sie dann jahrelang nicht geöffnet, aus der Dokumentenmappe nur ab und zu ein Blatt für Formalitäten entnommen (Honigmann 2004: 140f.).

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Diese Vorgangsweise ähnelt jener, die Eva Horn 2007 in Der geheime Krieg beschrieben hat: „Gerade wenn man nicht wissen kann (oder soll) was ‚wirklich geschehen‘ ist, bleibt nichts anderes, als möglichst plausibel Versionen davon zu konstruieren.“ Die Fiktion, so Horn, gebe den Anspruch von Historikern oder Journalisten auf, „die eine historische Wahrheit über ein Ereignis vortragen zu können“. Deshalb sei diese besser geeignet, von Geheimnissen zu sprechen – „ohne diese Geheimnisse endgültig lüften zu können und zu wollen“. Mögliche Versionen werden exploriert, aber man verfällt nicht der „Illusion einer abschließenden Lösung“ (Horn 2007: 10f.).

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Wie bereits erwähnt erfolgten am 15. Jänner 2025 Deklassifizierungen von fünf MI5-Dossiers zu Litzi. Davor war kein einziges verfügbar. Somit ist es erstmals möglich, Ein Kapitel aus meinem Leben in einen breiteren Kontext zu stellen. Die neuen Erkenntnisse und die angewachsene Sekundärliteratur lassen sich mit Honigmanns Buch quasi nebeneinander aufbereiten. So können diverse blinde Flecken aufgehellt werden wie insbesondere die ‚geisterhafte‘ Darstellung Philbys und was die Rolle von Litzi im Spionagegeschehen betrifft. Allerdings sind die in russischen Archiven vorhandene Dokumente auf unabsehbare Zeit verschlossen. Nur in den 1990er Jahren wurden bruchstückhafte Erkenntnisse daraus öffentlich. Der historiografische Blick auf Litzi bleibt grundsätzlich eingeengt auf die Perspektive der Geheimdienste, die durch ausgeprägten Antikommunismus, Konservativismus und antisemitische Tendenzen geprägt ist. Der MI5, der erst 1989 gesetzlich anerkannt wurde und davor offiziell nicht existierte (Tate 2024: 18), war seit Beginn des Kalten Krieges auf zwei Ziele ausgerichtet: Spionageabwehr gegen die Sowjetunion und andere Akteure sowie Kampf gegen „kommunistische Unterwanderung“ mit allen sich daraus ergebenden Voreingenommenheiten (Hollingworth/Fielding 1999: 18f.). Von daher ist die subjektive Perspektive Barbara Honigmanns eine wichtige Ergänzung und Korrektur zu den bereits erwähnten einseitigen Erkenntnissen aus den Archiven.

1. Das Treffen in der Latschkagasse und Philbys Wiener Zeit

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Litzi wurde am 2. Mai 1910 als Alice Kohlmann geboren. Ab 1928 war sie als selbständige Sprachlehrerin tätig und ab 1933/34 als Teilzeitbürogehilfin in einer Rechtsanwaltskanzlei. Ihr Vater Israel Kohlmann war Abteilungsleiter in der Israelitischen Kultusgemeinde. Sie selbst war an Religion nicht interessiert, sondern engagierte sich ab 1931 in kommunistischen Vorfeldorganisationen und wurde 1932 Mitglied in der KPÖ (Mugrauer 2017: 148f.). Ihre erste Ehe mit Karl Friedmann war kurzlebig und wurde am 19. September 1932 geschieden. Friedmann emigrierte daraufhin nach Palästina (ebd.: 149).

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Litzi war eine leidenschaftlich politische Frau, die bei der Komintern, der Kommunistischen Internationale, andockte. Laut dem Philby-Biografen Philip Knightley rekrutierte sie der Ungar Gábor Péter, ein Flüchtling vor dem Regime von Admiral Miklós Horty (Knightley 1988: 41). Bei ihr zuhause fanden nach dem Verbot der KPÖ am 26. Mai 1933 Sitzungen führender Parteifunktionäre statt – so etwa im Vorfeld des ‚Internationalen Antikriegstages‘ am 1. August 1933 (Mugrauer 2017: 150). Die Polizei erhielt „eine vertrauliche Mitteilung“, wonach in Litzis Wohnung besprochen worden sei, „schon am Vorabende des 1. August durch Demonstrationsbummel Unruhe zu erzeugen und am 1. August selbst zu demonstrieren“ (ZPA: Landesgericht für Strafsachen Wien I, 15 St 376/33, Vr 5517/33). Deshalb nahm die Polizei am 19. Juli 1933 um „6 Uhr 30 Minuten früh“ eine Hausdurchsuchung in der Latschkagasse vor (ebd.). Litzi stritt alles ab und musste knappe vier Wochen in Polizeihaft und weitere fünf Tage in Untersuchungshaft, ohne dass Anklage erhoben wurde. Sie wurde am 21. August 1933 gegen Gelöbnis entlassen (Mugrauer 2017: 150).

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Wenige Tage später, im September 1933, läutete Kim Philby an ihrer Tür. Dieser war bereits im Verlauf seines Studiums in der kommunistisch dominierten Cambridge University Socialist Society (CUSS) aktiv gewesen (Borovik 1994: 21f.). Um seine Deutschkenntnisse aufzubessern, aber auch um die politisch angespannte Situation in Österreich zu erleben, hatte er sich zu dem Trip nach Wien entschlossen. Das von der Sozialdemokratie mit absoluter Mehrheit regierte Rote Wien befand sich in Konflikt mit der immer autoritärer agierenden Bundesregierung von Engelbert Dollfuß und den konservativ-katholisch dominierten anderen Bundesländern. Das erregte damals viel Aufmerksamkeit innerhalb der britischen Linken. So war innerhalb der Bloomsbury-Gruppe, einem einflussreichen Londoner Intellektuellenzirkel, davon die Rede, dass sich in Wien der „wahre“ antifaschistische Kampf abzeichne („the real anti-fascist fight“) (Koch 1995: 193). Der Schriftsteller John Strachey klärte den Poeten John Lehmann auf, dass Wien der Ort sei, wo man diesen Sommer sein müsse und schlug vor, dass er als „geheimer Korrespondent“ dorthin reisen solle (ebd.). Lehmann wurde dann in Wien von einem „kommunistischen Agenten“ angesprochen. Dreimal versuchte der Agent, ihn zur Zusammenarbeit zu überreden. Er wollte, dass Lehmann regelmäßig politische Informationen liefern sollte – weil, im Kampf gegen den Faschismus jeder seinen Beitrag leisten müsse. Lehmann bekam es mit der Angst zu tun und weihte Strachey ein. Dessen Rat war, sich wegen der Angelegenheit nicht mehr länger den Kopf zu zerbrechen. Tatsächlich wurde Lehmann von da an in Ruhe gelassen (Seale/McConville 1978: 91).

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In seinem erst 2025 freigegebenen ‚Geständnis‘ schilderte Philby den Hergang seiner Reise so:

Bevor ich nach Wien ging, im September 1933, sprach ich bei Maurice Dobb, dem Cambridge-Ökonomen vor und fragte ihn nach Empfehlungen in Österreich. Stattdessen gab er mir einen Brief an den Leiter der Internationalen Arbeiterhilfe in Paris, einem Italiener, dessen Namen ich vergessen habe. Dieser wiederum hat mir ein Schreiben an den Leiter des Österreichischen Hilfskomitees für deutsche Flüchtlinge gegeben, einen gewissen Georg Knepler. Ich fragte Knepler, ob er mir helfen könnte, eine billige Unterkunft zu finden und er hat mich mit Litzi Friedmann in Kontakt gebracht, die Gästezimmer frei hatte. Ich bin schnell eingezogen. Wir haben bald zusammengelebt und haben anschließend geheiratet. Litzi war der Kopf einer Zelle der Internationalen Arbeiterhilfe im 9. Bezirk. Sie hat mich in diese Arbeit eingeführt, die natürlich zu dieser Zeit in Österreich illegal war. Zunächst haben meine begrenzten Deutschkenntnisse meine Nützlichkeit eingeschränkt, aber als diese besser wurden, habe ich begonnen einen vollen Beitrag in der Zelle zu leisten – am Ende war ich Schatzmeister, ein Echo meiner Tage in Cambridge. (TNA: KV 2/4737)
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Der Name des Pariser Aktivisten, der Philby entfallen war, lautete Ladislas Dobos alias Louis Giberati. Er war ein Agent der Komintern, die Frontorganisationen wie die Internationale Arbeiterhilfe gebildet hatte (Zarew/Costello 1993: 200f.). Knepler wiederum war ein Pianist, Dirigent und Musikwissenschaftler, dessen 1933 gegründetes Hilfskomitee seinen Sitz in der Elisabethstraße Nr. 24 im 1. Bezirk hatte. Knepler leistete all jenen Unterstützung, die vor den Nationalsozialsten aus Deutschland geflohen waren (Oberkofler 2006). Als Philby ihn traf, soll er Knepler gefragt haben, wie er sich nützlich machen könne. Knepler empfahl das Sammeln von Geld und Kleidung sowie das Verfassen und Verteilen von Flugblättern. Dafür war allerdings eine Unterkunft bei einem vertrauenswürdigen Vermieter notwendig, der einen nicht bespitzeln würde. Knepler wusste auch hier Rat. Philby möge sie sich bei „einer ihm sehr nahestehenden Genossin“ nehmen: Alice ‚Litzi‘ Friedmann (Zarew/Costello 1993: 202).

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Wann diese Begegnung genau stattfand, ist unklar. Den Meldezettel als Unterpartei in der Latschkagasse unterschrieb Philby am 19. September 1933 (DÖW: 50120/X048). Barbara Honigmann zufolge war nicht Knepler der Vermittler, sondern der Kontakt Philbys im Wiener Komitee der Internationalen Arbeiterhilfe, Marie „Mizzi“ Frischauf-Pappenheim. Diese war Sozialistin, Schriftstellerin, Librettistin und Ärztin. Laut Honigmann sagte ihre Mutter:

Ich hatte eine Dreizimmerwohnung im 9. Bezirk und in einem der Zimmer logiert immer jemand, der illegal untergebracht werden musste. Manchmal fanden bei mir auch die ZK-Sitzungen oder andere Versammlungen der KPÖ statt. Und eines Tages hat mir Mitzi also Kim geschickt. Er war natürlich nicht illegal, er kam ja aus Großbritannien […]. Kim überbrachte Geld, das er und seine Freunde in Cambridge gesammelt hatten, um den Kampf der Arbeiter in Wien zu unterstützen. Sie dachten, in Wien sei Revolution, und in Wien war Revolution. (Honigmann 2004: 60)
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Zwischen Litzi und dem naiven Upperclass-Sprössling Philby funkte es sofort:

Er war zwei Jahre jünger als ich, und ich war schon von meinem ersten Mann geschieden und Mitglied der Partei. Er kam aus Cambridge, hatte gerade sein Studium dort abgeschlossen, war ein sehr gut aussehender Mann, benahm sich gentlemanlike und war dazu Marxist, eine seltene Erscheinung. Er stotterte, manchmal mehr und manchmal weniger, und wie viele Menschen mit einem Handikap war er sehr charmant. Wir haben uns schnell ineinander verliebt. (Ebd.: 59)
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Philby hat in verschiedenen Zeitzeugenberichten Spuren hinterlassen. So wurde einmal die Schriftstellerin Hilde Spiel von einem Freund in die Wohnung in der Latschkagasse mitgenommen. Einen Abend lang sang die Runde von Gleichgesinnten die „verbotenen Kampflieder von Brecht und Eisler“ – „irgendwann einmal kam aus einem Zimmer ein schlanker junger Engländer hervor“, der als Litzis Untermieter vorgestellt wurde: „Er hieß Kim Philby“. Später sollte Spiel das Paar in London wiedersehen (Spiel 1993: 104).

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Eines Tages ging Philby ins Café Louvre, das von den angloamerikanischen Korrespondenten frequentiert wurde. Es gab einen Art „Stammtisch“, an dem der Brite Eric Gedye das Sagen hatte. Er war seit 1926 in Österreich, zuerst für die Times, dann für den Daily Telegraph und die New York Times. Als der scheue, aber höfliche Engländer auftauchte und angab, am Trinity College studiert und nun für eine Londoner Nachrichtenagentur zu arbeiten, wurde er in diesem Kreis freundlich aufgenommen. Philby nahm kaum aktiv an den Unterhaltungen teil, obgleich die Journalisten einhellig das Dollfuss-Regime ablehnten. Er hörte aber viel mehr aufmerksam zu und schien sich jedes Wort einzuprägen. Einige Male brachte er auch Litzi mit und stellte sie als seine Verlobte vor (Cookridge 1968: 28f.).

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Barbara Honigmann schreibt, dass Philby mit einer Empfehlung an Gedye in der Tasche nach Wien gekommen war (Honigmann 2004: 60). Dieser wiederum erkannte sofort, dass er es nicht mit einem „gewöhnlichen Salonsozialisten“ zu tun hatte und sagte zu seinem österreichischen Assistenten: „Ich werde ihn [Philby] im Auge behalten.“ (Boyle 1979: 122) Gedye will gar herausgefunden haben, dass Philby enger mit dem kommunistischen Untergrund verstrickt war, als es nach außen schien. Einmal habe ihn Philby einen Tipp-off für eine mögliche Exklusivgeschichte gegeben. Ohne viel Erklärung stellte ihm Philby ein Mädchen vor, das den Journalisten eines Sonntagsmorgens wieder an einer Straßenbahnstation traf und danach auf eine ‚Schnitzeljagd‘ schickte. Sie hatte Gedye eingetrichtert, wie er eine Reihe von Führern erkennen würde, die ihn einer nach dem anderen zu einem diskreten und abgeschiedenen Treffpunkt geleiteten: einer abgeschiedenen Lichtung im Wienerwald. Es waren bereits rund 40 junge Leute versammelt, die sich unter einer gehissten roten Fahne sammelten, die aus roten Stoffstreifen zusammengefügt war und die Aufschrift ‚Kirow-Kader‘ trug. Dann stellten sich die Anwesenden wie in Paradeformation auf und ihr Anführer hielt eine kurze Rede mit antifaschistischen Parolen. Anschließend wurde die Internationale angestimmt und ein Foto geschossen – freilich mit dem Rücken zur Kamera. Gedye nahm an, dass es sich um ein Treffen des Autonomen Schutzbunds handelte, in dem sich Kommunisten und revolutionäre Sozialisten sammelten. Erst später habe er „eins und zwei zusammengezählt“ und verstanden, dass das „Kims Freunde“ waren (Seale/McConville 1978: 89f.).

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Philby selbst gab später an, es sei seine Hauptaufgabe gewesen, den seit 1933 in den Untergrund gedrängten österreichischen Kommunistinnen und Kommunisten zu helfen – was ihm dank seines britischen Passes leichtgefallen sei. Kuriermissionen führten ihn nach Budapest, Prag und Paris (Beer 1997: 17). Philby organisierte auch Unterstützung in der angloamerikanischen Community. Eine Anlaufstelle war Muriel Gardiner, eine geschiedene US-Amerikanerin, die 1926 nach Wien gekommen war, um sich von Sigmund Freud analysieren zu lassen. Sie nahm dann eine Lehranalyse auf, um selbst Psychoanalytikerin zu werden, und begann 1932 ein Medizinstudium an der Universität Wien. Gardiner war wohlhabend und lebte in einer Villa im Wienerwald sowie in zwei Stadt-Wohnungen. Gardiner, die von allen ‚Mary‘ genannt wurde, war eine überzeugte Sozialistin (Cookridge 1968: 32). Anfang 1934 gab sie einem Unbekannten telefonisch einen Termin, nachdem sich eine vertraute Person für diesen verbürgt hatte (Isenberg 2010: 74). An einem Sonntagsmorgen kam der Besucher – es war Philby – pünktlich in die Frankgasse Nr. 1. Die dortige Wohnung Gardiners auf Tür Nr. 10 war 1907 von Adolf Loos für den Industriellen Friedrich Boskovits und seine Frau Charlotte gestaltet worden. Nach deren Auszug wurden die Räumlichkeiten vom Loos-Schüler Felix Augenfeld für Gardiner adaptiert (Gardiner 2021: 63).

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Was ihren Besucher anging, so erinnerte sich Gardiner später an einen „extrem gutaussehenden, schwarzhaarigen Mann, wahrscheinlich jünger als ich, in Wanderkleidung und Stiefeln und einen Rucksack auf den Schultern“. Er habe „makelloses Englisch“ gesprochen und faszinierte sie mit Intelligenz und Charme. Die beiden diskutierten den ganzen Nachmittag über Politik, Geschichte, Soziologie und Philosophie. Erst als er dann zum Gehen aufstand, kam Philby zur eigentlichen Sache: Er fragte Gardiner, ob sie bereit wäre, Untergrundarbeit zu leisten. Konkret ging es darum, einen Umschlag mit Geld um 14 Uhr des Folgetags an einer Straßenbahnhaltestelle „einem Genossen“ auszuhändigen. Dessen Erscheinungsbild beschrieb Philby genau. Dann ging er und sagte zum Abschied ein „freundliches Auf Wiedersehen“. Kaum war Philby weg, war sich Gardiner der Sache nicht mehr so sicher. Sie schaute in das Kuvert hinein. Es enthielt mehrere Tausend österreichische Schilling und kommunistische Propagandaliteratur. Sie fühlte sich ausgenutzt und ärgerte sich, dem Charme eines Mannes verfallen zu sein, den sie kaum kannte. Gleichwohl tat Gardiner wie geheißen und übergab den in eine Zeitung gesteckten Brief. Von Philby hörte sie nie wieder. Dreißig Jahre später sah sie eine Fotografie von Philby als jungen Mann und erkannte in ihm jenen vertrauenerweckenden Gast wieder (Gardiner 2021: 63–66).

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Ebenfalls Bekanntschaft mit Philby machte die britische Schriftstellerin und radikale Feministin Naomi Mitchison. Nach einem Aufenthalt in der Sowjetunion 1932 war sie nach Wien gekommen und half mit, politisch Verfolgte aus Österreich zu schmuggeln. Am 2. März 1934 vertraute Mitchison ihrem Tagebuch an, dass sie bei der Rückkehr ins Hotel mehrere Anrufe und eine dringliche Nachricht eines Unbekannten erhalten hatte. Eben dieser tauchte nach dem Mittagessen auf. Es war Philby, der darauf drängte, dass jemand wie Mitchison umgehend nach Berlin fliegen sollte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Es ging um das Schicksal des nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1934 an Ort und Stelle verhafteten niederländischen Arbeiters Marinus von der Lubbe. 1967 dazu von der Sunday Times interviewt, bestätigte Mitchison, dass der „nette, aber über den Maßen aufgeregte junge Kommunist aus Cambridge“ Philby gewesen sei (Knightley 1988: 43). Sie fragte sich aber, ob Philby nicht vielleicht von „Agenten von Dollfuss“ manipuliert wurde, die damals die kommunistische Bewegung unterwanderten. An Litzi erinnerte sich Mitchison wenig schmeichelhaft als eine „dunkelhaarige, ungepflegte Genossin“. Philby wiederum überraschte sie als jemand, der viel zu sanft war, um etwa ein guter Politiker zu sein: „Wahrscheinlich sind die besten Politiker von allen die wirklich harten Frauen.“ (Boyle 1979: 125)

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Am 12. Februar 1934 brachen zunächst in Linz und dann in den Wiener Arbeiterbezirken und in den Industrieregionen der Steiermark und Oberösterreichs die Februarkämpfe aus. Philby erfuhr davon, als er in der Latschkagasse im Radio von der Verhängung des Standrechts erfuhr (Knightley 1988: 42). In seinem ‚Geständnis‘ von 1963 gibt er an, dass er sich freiwillig zum Dienst im Schutzbund meldete: „Aber es war alles vorbei, bevor etwas daraus werden hätte können“ (TNA: KV 2/4737). Nach drei Tagen, am 15. Februar 1934, brach der chaotische Widerstand zusammen. Fast 200 Tote und mehr als 300 Verwundete waren auf Seiten des Schutzbundes und 128 Tote und 409 Verwundete auf Seiten der Regierung zu beklagen. Die Niederlage des Roten Wien war besiegelt. Philby soll insgesamt zehn Tage lang mitgeholfen haben, Kleidung, medizinisches Material und Essen für Schutzbündler zu besorgen, die sich in Heiligenstadt in die Kanalisation geflüchtet hatten (Borovik 1994: 20). Die Hilfsgüter bekam Philby unter anderem bei der Angloamerikanischen-Quäker-Mission in der Singerstraße 16 im 1. Bezirk. Dort befand sich die Zentrale des American Friends Service Commitee (AFSC), einer Quäkermission unter Leitung der US-Amerikanerin Emma Cadbury. Philby kam mehrmals bei Cadbury im Büro vorbei und soll dort Bekannte aus seiner Zeit in Cambridge getroffen haben (Cookridge 1968: 27f.). Für Philby waren die Februarkämpfe insgesamt eine Erfahrung, „die stark genug war, seinen weiteren Lebensweg zu bestimmen“, sind sich seine Biografen Seale und McConville sicher (Seale/McConville 1978: 78). Er selbst soll dem KGB gegenüber 1985 gesagt haben: „Als ich Österreich verließ, war ich ein überzeugterer Kommunist als bei meiner Ankunft.“ (Zarew/Costello 1993: 204f.)

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Zusätzlich zur misslichen Lage und der allgegenwärtigen Repression plagten Philby Geldsorgen. Es reichte gerade einmal noch für einen Aufenthalt bis April 1934. (Borovik 1994: 22) Gegenüber dem russischen Journalisten Genrikh Borovik bekundete Philby später, wie wichtig ihm Litzis Sicherheit war:

Obwohl die Basis unserer Beziehung zu einem gewissen Grad politisch war, habe ich sie wirklich geliebt und sie mich. Ich wollte sie nicht verlassen. Dollfuß hatte die Sozialdemokratie im Keim erstickt, die einzige Kraft, die gegen die Nazis in Österreich aufgestanden wäre. Viele Menschen waren sich sicher, dass sie bald an die Macht kommen würden. Das bedeutete, dass Litzi abgestempelt werden würde: Eine Kommunistin, die zwei Wochen für kommunistische Aktivitäten im Gefängnis und halbjüdisch [hier irrte Philby, Anm. TR] war. Ich entschied, dass ich ihr offiziell einen britischen Pass verschaffen würde, sie nach England bringen würde und wir die Parteiarbeit dort gemeinsam fortführen würden. (Ebd.: 22)
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Die Zeremonie selbst fand am 24. Februar 1934 um 10.30 Uhr im Trauungszimmer des Wiener Rathauses statt. (WStLA: MAbt 116 A79 124 1934) Es war eine ruhige, aber hastige Zeremonie gewesen, erinnerte sich Litzi:

Die Polizei war dabei, Jagd auf aktive Kommunisten zu machen, und ich fand heraus, dass sie hinter mir her waren. Ein Ausweg, wie ich der Verhaftung entgehen konnte, war Kim zu heiraten, einen britischen Pass zu bekommen und das Land zu verlassen. Das war es, was ich tat. Ich würde eigentlich nicht von einer Zweckehe sprechen. Ich denke, teilweise war es das und zum Teil aus Liebe. (Page/Leitch/Knightley 1981: 64)
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Ein Hochzeitsgast stach im Nachhinein hervor: Teddy Kollek, langjähriger Bürgermeister von Jerusalem. Kollek erinnerte sich später, Philby während dessen Wiener Zeit getroffen zu haben: „Kim bewegte sich in kommunistischen Zirkeln und Leute, die ich als überzeugte Kommunisten kannte, waren seine engsten Gefährten.“ (Knightley 1988: 43)

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Kims Eltern waren von den Neuigkeiten seiner Eheschließung „entsetzt“. Er hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Über Litzi schrieb Kim, dass sie am Kommunismus „interessiert“ sei, „sie von der praktischen Seite und ich von der theoretischen“. Dieses Interesse am ‚praktischen Kommunismus‘ habe die österreichischen Behörden auf Litzi aufmerksam gemacht. Er sei über ihre Sicherheit besorgt gewesen, nachdem man ihr auferlegt hatte, sich in regelmäßigen Abständen auf einer Polizeistation zu melden. Im Falle des Zuwiderhandelns drohte Litzi die Verhaftung. Kim machte seinen Eltern deutlich, dass er Litzi liebte und ihr nichts zustoßen lassen würde: „Kurz gesagt, wir haben letzten Samstag geheiratet und [Litzi] hat den britischen Pass erhalten, was das Ziel dieses Schrittes war.“ (Brown 1994: 160) Er fügte hinzu, dass die Heirat eine vorübergehende Sache und aufgelöst werden könne, sobald der Notfall vorbei wäre. Was Philby offenbar nicht bedacht hatte, war, dass sich hinter der passausgebenden Stelle, dem Passport Control Office an der britischen Botschaft in Wien um eine Station des Secret Intelligence Service (besser bekannt als MI6) verbarg. Aber von dort gab es keine nachweisbare Warnung in Sachen Philby (ebd.)

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Die Neuigkeit von der Heirat schlug Wellen. Hugh Gaitskell, zwischen 1955 und 1963 Vorsitzender der Labour Party und Schatzkanzler, war 1934 seit einem halben Jahr in Wien, um an dem privaten Seminar des Nationalökonomen Ludwig von Mises teilzunehmen. (Spiel 1993: 104f.) Gaitskell wurde auch Zeuge der Februarkämpfe und organisierte Geldmittel für die bedrängten Wiener Genossinnen und Genossen. (Seidl 2006: 177) Gaitskell kannte Philbys Familie und war entweder Gast bei der Hochzeit oder erfuhr aus zweiter Hand davon. (Brown 1994: 160) Jedenfalls war er gar nicht erfreut über die Hochzeit zwischen Philby „und diesem jungen, kommunistischen Mädchen, Alice Friedman“. Er glaubte in Philby einen „altruistischen“ Linken zu sehen, der sich einer Sache verschrieben hatte, ohne ganz dem Kommunismus zu verfallen. (Page/Leitch/Knightley 1981: 56) Philby und Gaitskell sollten einander später wiederbegegnen, als Letzterer Privatsekretär von Hugh Dalton, dem Minister for Economic Warfare im 2. Weltkrieg, war. Philby war zu diesem Zeitpunkt – im Jahr 1941 – gerade erst frisch im Geheimdienst angekommen und nutzte seinen alten Kontakt, um Zugang zu Dalton zu bekommen. (Knightley 1988: 83)

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Am 26. Februar 1934 bekam Litzi ihren britischen Pass mit der Nummer 2518 ausgestellt (TNA: KV 2/4663, 17a.). Sie nutzte diesen gleich, um zwischen 6. März und 15. März 1934 dreimal von Wien aus in die Tschechoslowakei zu reisen. Das konnte Philby später nicht erklären, als er am 12. Dezember 1951 bereits unter Spionageverdacht stehend von MI5 vernommen wurde. Er und seine Frau hätten sich „genau genommen“ nicht im „Honeymoon“ befunden (TNA: KV 4727, 220a.).

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Als das Paar Mitte Mai 1934 in London ankam, war Philbys Mutter Dora gerade auf einer Schifffahrt unterwegs und sein Vater Harry St. John in Saudi-Arabien. Also bat St. John seine eigene Mutter May nach dem Rechten zu sehen. Überraschenderweise traf sie Kim und Litzi nicht in Doras Haus in der Acol Road an, sondern bei einem „Genossen“, wo sie „wie in einem Schweinestall lebten“. Der Raum war nur mit einer Matratze ausgestattet, es gab keine Toilette oder Waschmöglichkeit. Außerdem soll noch eine dritte Person mit dem Paar gehaust haben, angeblich der Komintern-Agent Gabor (Brown 1994: 162). Zumindest machte Litzi einen guten Eindruck auf May. Dafür lehnte Dora, sobald selbst vor Ort, ihre Schwiegertochter von Beginn ab. Litzis Umgang mit ihrem Sohn erschien ihr hart, schnippisch und dominant (Harrison 2012: 31). Die Spannungen spielten wohl eine Hauptrolle dabei, dass das Paar zwischen 1936 und 1937 in 22 Glenross, Belsize Road wohnte. Das lag nahe an der Acol Road, aber wie der MI5 nachvollzog, soll es zu keinerlei Kontakt zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter gekommen sein (TNA: KV 2/4663, 50a.).

2. Philbys Rekrutierung und die Cambridge Five

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Viel entscheidender aber war, dass Philby bereits wenige Wochen nach seiner Rückkehr vom sowjetischen Geheimdienst OGPU angeworben wurde. Anthony Brown datiert das auf den oder kurz nach dem 14. Juli 1934 (Brown 1994: 167). Dabei spielte ein kleines Netzwerk von jüdischen Emigrantinnen und Emigranten, alles gebürtige Wienerinnen und Wiener, eine Schlüsselrolle: Edith Tudor-Hart (geborene Suschitzky) war bereits in Wien mit Litzi eng befreundet gewesen und hatte 1933 Philby kennengelernt (Jungk 2017: 71f.). Sie war eine sogenannte ‚Talentsucherin‘ und erkannte sein Potential. Darüber informierte sie jenen Mann, der sie selbst für den sowjetischen Geheimdienst angeworben hatte: Arnold Deutsch. Dieser wurde sogar ziviler Bediensteter der OGPU und gilt als einer der erfolgreichsten Agentenführer aller Zeiten. Insgesamt gelang ihm zwischen 1934–1936 die Anwerbung von 20 Agenten, darunter der Cambridge Five, deren Rekrutierung mit jener Philbys begann (Riegler 2024: 7). Laut dem Historiker Siegfried Beer könne daher in Bezug auf Philby mit „großer Sicherheit angenommen werden, dass es in erster Linie Österreich-Verbindungen waren, durch die der spätere Starspion für das System der sowjetischen Spionage gewonnen werden konnte.“ (Beer 1997: 19)

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Eine wichtige Rolle im Hintergrund spielte zudem Peter Smolka, der mit einer Kindheitsfreundin von Tudor-Hart verheiratet war. Der Journalist Smolka gründete im Herbst 1934 gemeinsam mit Philby eine kurzlebige Nachrichtenagentur namens London Continental News. 1939 wurde Smolka dann von Philby unter dem Decknamen ABO angeworben (Andrew/Mitrochin 2001: 127). Im 2. Weltkrieg machte Smolka Karriere im Ministry of Information und wurde dort der einflussreiche Leiter der Russian Section. 1945 kehrte Smolka nach Wien zurück und es stellte sich heraus, dass er die ganze Zeit über in Großbritannien seine kommunistische Überzeugung verheimlicht hatte (Glees 1987: 150). Die Schriftstellerin Spiel schrieb über ihn: „Mit all seinen Widersprüchen war Peter Smolka einer der bemerkenswertesten Menschen dieses Jahrhunderts, denen ich je begegnet bin.“ (Spiel 1993: 165)

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Eine weitere wichtige Figur in diesem Netzwerk aus Wien stammender Emigrantinnen und Emigranten war Engelbert Broda, der als Mitarbeiter am anglo-amerikanischen Atomwaffenprojekt in Cambridge forschte. Brodas Anwerbung durch den sowjetischen Geheimdienst im Jahr 1942 geschah auf Empfehlung von Tudor-Hart, aber auch Litzi spielte in diesem Zusammenhang eine Rolle (Riegler 2024: 7). Während Deutsch 1942 wahrscheinlich bei einem Schiffsuntergang im Atlantik umkam, sollten Broda, Smolka und Tudor-Hart später noch als Mitwisser von Bedeutung sein, als der MI5 Litzi nachspürte.

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Was nun die Cambridge Five betrifft, so hatte Deutsch von Philby zunächst eine Liste mit passenden Kandidaten bekommen. Darunter waren Donald Maclean und Guy Burgess, deren Anwerbung Deutsch vollzog. Ihnen war gemeinsam, dass sie Absolventen einer Eliteuniversität waren, was es ihnen ermöglichen würde, das Establishment zu unterwandern. Als erster gelangte Maclean im Oktober 1935 zu einer einflussreichen Position im Außenministerium. Burgess wiederum arbeitete zwischen 1936 und 1944 für die BBC und dann ebenfalls für das Außenministerium, wo er in der Nachrichtenabteilung arbeitete. Dritter ‚Rekrut‘ der Cambridge Five war Anfang 1937 der Kunsthistoriker und Dozent am Trinity College, Anthony Blunt. Burgess hatte ihn mit Deutsch zusammengebracht. Blunt diente ab 1940 im MI5 und rückte zum Mitglied im Joint Intelligence Committee der Regierung auf, das die Arbeit der Nachrichtendienste koordinierte. Ab 1945 gehörte Blunt in seiner Eigenschaft als Direktor der königlichen Gemäldesammlung formal zum königlichen Haushalt (Andrew/Mitrochin 2001: 96f.). Der fünfte Mann im Ring der Cambridge Five war John Cairncross. Er durchlief im Laufe seines Werdegangs das Außenministerium, das Finanzministerium und das Cabinet Office. 1942/43 diente er in der Government Code and Cypher School und hatte so Zugang zu den im Rahmen des Ultra-Programms entschlüsselten deutschen Funksprüchen. 1944 wechselte Cairncross zum Auslandsgeheimdienst MI6 (Walton 2023: 88–90).

3. Kuriertätigkeit für Philby in Spanien

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Philbys Karriere hatte im Vergleich zu den anderen am langsamsten Fahrt aufgenommen. Im Herbst 1934 schaffte er es in die Redaktion der liberalen Monatszeitschrift Review of Reviews, was ihm ein bescheidenes Einkommen von vier Pfund in der Woche sicherte. Aber er konnte nichts von Bedeutung für seinen sowjetischen Führungsoffizier sammeln (Penrose/Freeman 1986: 171). Dieser soll Philby deshalb gesagt haben, dass es „absolut essentiell“ sei, dass er sich einen Namen im Journalismus mache. Zu diesem Zweck solle er als Korrespondent in den Spanischen Bürgerkrieg gehen. Das würde außerdem die Möglichkeit bieten, Informationen im Lager der Nationalisten zu sammeln. Philby konnte die notwendigen Empfehlungsschreiben von Herausgebern in der Fleet Street organisieren. Der sowjetische Geheimdienst kümmerte sich um Visum und Geldmittel. Über Lissabon reiste Philby dann im Februar 1937 nach Spanien und blieb zunächst nur drei Monate bis April 1937. Der zweite Aufenthalt begann im Mai 1937, als er bei der Times angestellt wurde, und dauerte bis August 1939 (TNA: KV 2/4737).

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Litzi war mit von der Partie. Viele Jahrzehnte später stellte es Philby so dar, als wäre sie nicht bereit gewesen, alle Beziehungen zur kommunistischen Bewegung abzubrechen. Um ihn nicht zu kompromittieren, hätten sie gemeinsam entschieden, dass sie sich trennen würden (Borovik 1994: 115). Doch anders als es viele Philby-Biografien suggerieren, hatte Litzi weiter großen Anteil an seiner Geschichte. 1935 war sie von ihren beiden Bekannten aus Wiener Tagen – Deutsch und Tudor-Hart – unter dem Decknamen MARY angeworben worden (Volodarsky 2014: 494).

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Für ihre aktive Rolle in Sachen Spionage spricht auch die emsige Reisetätigkeit, die wie bereits erwähnt unmittelbar nach der Heirat mit Philby begonnen hatte. Litzi habe weit verstreut Freunde in ganz Österreich und in Europa gehabt, aber er habe die genauen Zwecke für diese Reisen nicht gekannt, rechtfertigte sich Philby in dem Verhör von 1951. Sein Gegenüber, der MI5-Beamte Helenus ‚Buster‘ Milmo, konfrontierte Philby damit, dass er zum damaligen Zeitpunkt ungefähr zwei Pfund in der Woche verdient habe. Später seien es dann acht Pfund gewesen. Wie sei es möglich gewesen, solche Reisen zu bezahlen, wo doch Litzi keiner Beschäftigung nachging? Philby konnte sich angeblich nicht erinnern, wie die Finanzierung zustande gekommen war – ungeachtet dessen, dass seine Frau weiterhin viel international unterwegs war: Im Herbst 1934 war sie zwischen 21. September und 24. Oktober 1934 wieder nach Österreich gereist, was angesichts der politischen Entwicklungen ein persönliches Risiko darstellte. Philby selbst gab zu, dass er sich „um alles in der Welt“ nicht vorstellen könne, was sie damals zurückgeführt haben könnte. 1935 folgte eine Reise in die Niederlande und über Frankreich nach Spanien. 1936 war Litzi zurück in Österreich und der Tschechoslowakei sowie in Frankreich. Sie sei also für längere Perioden abwesend gewesen, schloss Milmo. Ein Aufenthalt in Spanien sei ein gemeinsamer Urlaub gewesen, ansonsten habe sich Litzi bemüht, ihre Eltern nach Großbritannien nachzuholen (TNA: KV 4727, 220a.). Das gelang ihr auch: Am 13. März 1939 kamen ihre Eltern an. Auch wenn Litzis Vater bereits am 30. April 1939 verstarb, hatte sie doch beide noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können (TNA: KV 2/4663, 50a.).

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Aber der Verhörbeamte ließ nicht locker, denn ab 1937 häuften sich Litzis Trips: Am 29. März kam sie in der algerischen Hauptstadt Algiers an und war am 14. April zurück in Dieppe für die Kanalüberquerung (TNA: KV 2/4663, 20a.). Dann kam es zwischen Juni und September zu Aufenthalten in Griechenland, Jugoslawien und Italien sowie der Rückreise über Österreich nach Frankreich. Ob es ihm in den Sinn gekommen sei, dass seine Frau nach wie vor eine Komintern-Agentin war und diese Reisen mit ihrer Tätigkeit zusammenhingen. Nein, so Philby, er habe sich vorgestellt, dass sie diese Aktivitäten aufgegeben hatte, als sie nach Großbritannien gekommen war. Philby erklärte, dass es ab Herbst 1935 zu einer wachsenden Entfremdung zwischen ihm und Litzi gekommen sei. Sie hätten aneinander das Interesse verloren. Ab 1937 sei er dann „durchwegs“ untreu gewesen. Warum hätten sich die beiden dann erst 1946 offiziell scheiden lassen, bohrte Milmo nach. Sei es nicht in Wirklichkeit darum gegangen, dass Litzi, so lange sie mit ihm gesetzlich verheiratet war, ihren britischen Pass ausnutzen konnte? Das sei eine „Interpretation“, die er nur zögerlich akzeptieren würde, meinte Philby kleinlaut (TNA: KV 4727, 220a.).

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Ein gewichtiger Teil der Reisetätigkeit hing mit der Aufgabe zusammen, die Litzi im Zusammenhang mit Philbys Spanien-Aufenthalt erfüllte. Sie war sein Kommunikationsrelais zur OGPU in London (Duff 1999: 119f.). Laut Barbara Honigmanns Darstellung reiste Philby einmal im Monat nach Biarritz, Perpignan oder Gibraltar, um dort Litzi zu treffen. Sie stiegen in den schönsten Hotels ab. So schildert es Barbara Honigmann: „Meine Mutter liebte diese heimlichen Rendezvous mit ihrem Mann. Sie war inzwischen nach Paris übersiedelt, fuhr im Auftrag der Sowjets regelmäßig in den Süden, verbrachte jeweils einen Tag und eine Nacht mit Kim, danach kehrte sie nach Paris zurück und überbrachte den Russen seine ausführlichen Reports.“ (Jungk 2017: 92f.) Eine weitere Kurierin war laut dem Philby-Biografen Anthony Brown die Ehefrau von Alexander Orlow, des sowjetischen Geheimdienstchefs in Spanien. Sie habe Nachrichten an Litzi weitergegeben, die dann zwischen Spanien und Lissabon unterwegs war, wo sie das Material an einen gewissen Lukacevic weiterreichte, einen sowjetischen Führungsoffizier, der mit der Moskauer Zentrale in Kontakt stand (Brown 1994: 192).

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Auch der MI5 war in seinen nachträglichen Untersuchungen zum Schluss gekommen, dass Litzi von 1936 bis 1939 der ‚Kanal‘ war, durch den Philbys Berichte aus Spanien die sowjetische Seite erreichten (TNA: KV2/4665, 105b.) Aus den Dokumenten lässt sich nachvollziehen, dass Litzi noch bis September 1937 in Glenross gemeldet blieb, ehe sie ihren Wohnsitz nach Paris verlegte (TNA: KV 2/4663, 50a.). Dort wohnte sie zunächst ab Oktober 1937 an der Adresse 11 bis Rue Victor Schoelcher beim Friedhof Montparnasse, wo später ab 1955 auch die Philosophin Simone de Beauvoir leben sollte. Ab Sommer 1938 begann Litzi Freunde und Bekannte in ein Sommerhaus in Buisson, Grosrouvre außerhalb von Paris einzuladen (TNA: KV 2/4667, 179a.). Es kamen viele alte und neue Freunde zu Besuch, darunter auch die ersten Wienerinnen und Wiener, die nach Großbritannien geflüchtet waren. Man verbrachte gemeinsam die letzten unbeschwerten Monate, erzählte Litzi ihrer Tochter: „Ich glaube, wir waren nie weniger als ein Dutzend Menschen im Haus. Wir sympathisierten mit der spanischen Republik, mit Leon Blum und der Volksfront und hassten natürlich die Nazis. Zum Kriegsausbruch hin wurde die Stimmung immer bedrückter, aber auch aufgeheizter, dennoch waren die Jahre in Paris die schönste Zeit meines Lebens.“ (Honigmann 2004: 83) Zwischen 1937 und 1940 wohnte Litzi dann in einem Mehrfamilienhaus am 67 Quai d’Orsay direkt an der Seine nicht weit vom Hôtel d’Estrées, der Residenz des sowjetischen Botschafters. Litzi kehrte zwischenzeitlich nach Großbritannien zurück und lebte ab 1940 wieder permanent dort (TNA: KV 6/113, 62a.).

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Aus dem ‚Geständnis‘ Philby geht hervor, dass jedes fünfte Wort in den Briefen, die er an Litzi schrieb, einen Teil der geheimen Nachrichten enthielt. Die Kontaktadresse für die Korrespondenz war ihre Anschrift in Paris. Zwar sei die Ehe zu diesem Zeitpunkt aus „rein persönlichen Gründen“ zerbrochen gewesen, aber er habe Litzi ab und zu im Rahmen der Kommunikation mit der OGPU persönlich gesehen. Als er zum zweiten Mal in Spanien war, hatte man ihm eingebläut, Geheimtinte zu verwenden. Die Briefe richtete er an eine Frau, deren Namen er angeblich vergessen hatte (wahrscheinlich um Litzi herauszuhalten). Es habe sich um die Anschrift 71 Rue de Grenelle gehandelt. Später wollte er zu seinem Entsetzen herausgefunden haben, dass es sich dabei um die sowjetische Botschaft handelte (tatsächlich handelt es sich um die bereits erwähnte Residenz mit der richtigen Hausnummer 79). Das könnte ein weiterer Versuch Philbys gewesen sein, die Verbindung zu Litzi zu verwischen, die zu diesem Zeitpunkt an den Quai d’Orsay umgezogen war (TNA: KV 2/4737). Für die Kuriertätigkeit war es jedenfalls eine gute Tarnung, dass Litzi immer noch Philbys angetraute Ehefrau war (Borovik 1994: 125). Auch unterhielten sie noch bis 1944 ein gemeinsames Konto, von dem Litzi zwischen 1937 und 1944 monatlich 40 Pfund behob (Holzman 2021: 46).

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In den Verhören 1951 behauptete Philby, dass ihn Litzi nie um einen Zuschuss gebeten hatte. Er habe ihr ab und zu mit kleineren Summen geholfen. Als sie dann am Quai d’Orsay wohnte, habe er sie einmal auf der Durchreise nach London besucht. Sie habe in Paris einen Job gehabt, an den er sich nicht erinnern konnte. Aber Litzi habe wegen eines einjährigen Aufenthalts an der Universität Grenoble gutes Französisch gesprochen und Paris geliebt (TNA: KV 2/4463, 17z.).

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Gegen den angeblich zerrütteten Zustand der Ehe sprach ein Brief Litzis, der später in der Korrespondenz von Burgess gefunden wurde. Das Schreiben war undatiert und wahrscheinlich von 1937. Litzi teilte darin Burgess mit, dass sie von Kim erfahren habe, dass er, Burgess, bald nach Paris kommen werde. Sie fand das toll und meinte, er solle sich beeilen, weil „wichtige Ausstellungen“ in zehn Tagen schließen würden (wahrscheinlich ein versteckter Hinweis). Litzi schloss, dass sie sehr froh gewesen sei, Kim zu sehen: „Ich vermisse ihn schrecklich.“ (TNA: KV2/4663, 43B.) Philby hatte 1939 auch zugunsten von Litzis Mutter Gisela Kohlmann an den Präsidenten des Aliens Tribunal appelliert. Dieses befand, ob „Ausländer aus Feindländern“ interniert oder davon ausgenommen werden sollten. Philby bürgte für die Loyalität von Frau Kohlmann, die er seit mehr als sechs Jahren kenne und deren Tochter er geheiratet habe. Man könne darauf vertrauen, dass Frau Kohlmann ihre Dankbarkeit und Loyalität zu Großbritannien im Kampf gegen des Deutsche Reich hochhalten werde, so Philby (TNA: KV2/4663, 44b.). Außerdem wandte er sich am 26. September 1939 brieflich an das Passport Office, damit Litzi ein Visum für Frankreich erhielt, weil es darum gehe, eine Wohnung in Paris zu räumen, für die die Miete ablaufe. Weil Philby damals Kriegskorrespondent der Times war, wurde dieser Bitte auch stattgegeben (TNA: KV2/4663, 17a.).

4. Getrennte Wege

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Wieder zurück in London wohnte Litzi von mindestens September 1939 bis Jänner 1941 an der Adresse 26 Downing Court, Brunswick Square. Laut Philby hatten er und Litzi sich im Februar 1937 endgültig getrennt, bevor er nach Spanien gegangen war. Aber der MI5 war vom Gegenteil überzeugt. Er sei im Frühsommer 1940 aus Frankreich heimgekehrt und seine Beziehung mit der späteren zweiten Ehefrau Aileen begann erst 1941. Es sei daher möglich, dass er in Downing Court bei Litzi gelebt habe (TNA: KV2/4664, 81a.).

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Interessanterweise fühlte sich Litzi in dieser Zeit sicher genug, die Aufmerksamkeit des MI5 auf sich zu ziehen. Eine ehemalige deutschstämmige Nachbarin, die zuletzt an der Adresse Glenross gewohnt hatte, wollte wieder mit ihr in Kontakt treten. Es kam dann zu einem Treffen mit dieser Frau Egge, die Litzi erzählte, dass sie und ihr Mann 1938 zurück im Sudetenland gewesen waren. Außerdem habe sie zugegeben, dass fast alle ihrer Verwandten in Deutschland hohe Positionen in der nationalsozialistischen Partei bekleideten. Für die überzeugte Antifaschistin Litzi war das Anlass, MI5 zu informieren. Ihr Bekannter Smolka schrieb einen Brief an seinen Vorgesetzten Lord Hood im Ministry of Information mit der Bitte, dies an den Geheimdienst weiterzuleiten. Smolka schrieb an Hood: „Obgleich Mrs. Philby nicht unbedingt das Gefühlt hat, dass die Egges etwas Zwielichtiges vorhaben, denkt sie, dass es sich sicher auszahlt, die beiden unter Beobachtung zu haben.“ (TNA: KV 2/4663, 1a.) Die Angelegenheit wurde von MI5 dann bearbeitet und Auskünfte über die Egges eingeholt (TNA: KV 2/4663, 6a.). 1951 rollte der Geheimdienst die Angelegenheit wieder auf und war diesmal interessiert, von Frau Egge Auskünfte über ihre ehemaligen Nachbarn einzuholen. Sie konnte sich aber nur erinnern, dass die Philbys einen „etwas bürgerlichen Lebensstil“ pflegten und dass ihre Wohnung voller Bücher war. Trotzdem hätten die Philbys mit ihnen nie über Politik diskutiert (TNA: KV 2/4663, 17c.).

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Aus Spanien zurück wechselte Philby im Oktober 1939 als Kriegsberichterstatter zum britischen Expeditionskorps nach Frankreich, wo er dann 1940 für die Times über die katastrophal verlaufenden Kämpfe an der Westfront berichtete. Die Beziehungen, die er in dieser Zeitspanne knüpfte, halfen ihm dabei, noch 1940 in den MI6 einzutreten (Modin 1994: 72f.). Dafür geriet Philbys Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst zwischenzeitlich in eine schwere Krise. Infolge der stalinistischen Säuberungen wurde die Residentur in Großbritannien 1937/38 empfindlich geschwächt. 1938 kam es zu einer Störung des Kommunikationsflusses, zeitweise brach die Verbindung gänzlich ab. In den 1960er Jahren gestand Blunt, dass es Burgess und Philby gelungen war, über Litzi den Kontakt zu den Sowjets wiederherzustellen. Er bezeichnete sie als „langjährige europäische Komintern-Agentin“, die Nachrichten wiederum an Tudor-Hart weitergegeben hatte und zwar über den Funktionär der britischen kommunistischen Partei, Bob Stewart, der selbst für die Kontakte mit der sowjetischen Botschaft zuständig war (Costello 1988: 324).

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Ab 1941 lebte Litzi mit Georg Honigmann zusammen. Dieser war ab 1931 als Korrespondent in London tätig gewesen, ehe er nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 entlassen wurde. Bis 1938 war Honigmann dann für verschiedene Zeitungen als freier Autor tätig, ehe er von 1938 bis 1944 als Nachrichtenredakteur für die Auslandsabteilung Exchange Telegraph & Co. Ltd und als Chef des European Service von Reuters arbeitete. Litzi und Honigmann hatten einander durch Smolka kennengelernt, der Honigmann zum Exchange Telegraph geholt hatte (Honigmann 2019: 71).

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1942 wurde Litzi für eine Beschäftigung im Stationary Office, dem Herausgeber und Vertreiber von Regierungs- und Gesetzespublikationen, sicherheitsüberprüft. Man nahm davon Kenntnis, dass ihr Ehemann im SIS diente und dies wurde wohlwollend berücksichtigt (TNA: KV2/4663, 17a.). Von August 1942 bis Oktober 1944 arbeitete Litzi dann für die Firma Multitone Electric in der 9 New Cavendish Street, die Telesonic Receiver und Transmitter für die Streitkräfte produzierte. Litzi war am Fließband als Montagearbeiterin tätig. MI5 stellte nachträglich fest, dass der Gründer der Firma Joseph Poliakoff, ein gebürtiger Russe, samt seinem Sohn Alexander zwischenzeitlich selbst in den Ermittlungen zu sowjetischen Spionen aufgetaucht war. Deswegen war entschieden worden, dass Geräte der Firma nicht mehr in Regierungsabteilungen installiert werden sollten (TNA: KV2/4665, 124a.).

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Über die Erlebnisse in den Kriegsjahren hat Barbara Honigmann in einer weiteren Biografie inhaltlich mehr ausgeholt. Dieses Buch mit dem Titel Georg von 2019 handelt von ihrem Vater und das in stilistisch ganz ähnlicher Art und Weise wie schon zuvor Ein Kapitel aus meinem Leben. So heißt es, dass „Georg und Litzy“ wie viele andere Londoner immer wieder in ihrer Wohnung ausgebombt wurden. Sie zogen dann um, „wurden wieder ausgebombt, zogen wieder um, oft nur provisorisch zu Freunden und Bekannten, flüchteten in die Luftschutzkeller und Tube-Stationen, liefen danach durch die zusammengestürzte Stadt, zwischen Rauch und Flammen und räumten mit allen anderen Scherben und Schutt beiseite.“ Ihre Mutter sei dem „Ruf an die englischen Frauen Fighting fit in the factory!“ gefolgt, „während Georg wieder in der Redaktion in der Fleet Street die sich überschlagenden Nachrichten vom Krieg montierte und die Meldungen bearbeitete und Artikel schrieb.“ (Honigmann 2019: 93)

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Aus Abschriften sowjetischer Dokumente, die 2009 veröffentlicht wurden, geht hervor, dass Litzi jedoch auch noch in einem weiteren Spionagefall assistierte. 1942 entschied sich Broda nach Zureden durch seine damalige Partnerin Tudor-Hart, als Quelle ERIC sein Wissen über das angloamerikanische Atomprogramm an den sowjetischen Geheimdienst zu offenbaren. Wie aus einer Meldung der Londoner Residentur vom Dezember 1942 hervorgeht, wurde das Material von Litzi übermittelt:

Edith [Tudor-Hart] hat uns einen detaillierten Bericht durch MARY [Litzi] über die Resultate und den Status der Arbeit an Enormous [das Atomprojekt] in England und in den USA geschickt. Eric hatte ihr diesen Bericht aus eigener Initiative gegeben, […]. Das Material wird demnächst losgeschickt. (Klehr/Haynes 2010: 66)
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Dafür wurde in einer anderen Angelegenheit ein Schlussstrich gezogen: 1946 ließen sich Litzi und Philby formell scheiden. Vorher hatten sie sich in Wien getroffen und Litzi hatte eingewilligt, die Scheidung wegen seiner Untreue einzureichen. Am 17. September 1946 wurde das Scheidungsdekret erlassen und bereits eine Woche später heiratete Philby zum zweiten Mal und zwar die 35jährige Alieen Furse, die zu diesem Zeitpunkt das vierte gemeinsame Kind erwartete. (Borovik 1994: 250f.)

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In der Zwischenzeit war eine weitere Weichenstellung bereits erfolgt: Im Mai 1946 hatte Georg Honigmann Großbritannien verlassen. Er war von Reuters als Berichterstatter nach Hamburg entsandt worden. Dort tauchte er aber nicht auf, sondern in Berlin, wo er dem Nachrichtenbüro der sowjetischen Militärverwaltung seine Dienste anbot. „Die Partei hat mich zurückgeschickt, denn sie brauchte Kader“, lautete die Erklärung (Honigmann 2019: 116). Litzi folgte ihm Ende August 1946 und soll nach Zwischenstationen in Paris und Prag im November 1946 in Berlin eingetroffen sein (TNA: KV 2/4667). Aus Sicht von Georg Honigmann war die Übersiedlung nicht ganz freiwillig geschehen, sondern eben auf Druck durch die kommunistische Partei und unter Einfluss von Litzi, wie Barbara Honigmann schreibt (Honigmann 2019: 102).

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1947 heirateten Litzi und Georg. Zwei Jahre später wurde die Tochter Barbara geboren. Georg Honigmann wurde Chefredakteur der Berliner Zeitung und kündigte im Editoral der Ausgabe vom 1. Juli 1949 an: „Unser Blatt will eine Zeitung des neuen Menschen werden, der eine neue Zeit erstrebt und sie auch herbeiführen wird, das Zeitalter des Friedens und des Sozialismus.“ Die Familie bezog ein Haus in Karolinenhof, einem Berliner Vorort (ebd.: 106). Laut Barbara Honigmann führten ihre Eltern in dem Villenvorort „ein ganz klassisches Leben der Bourgeoise, jedenfalls äußerlich gesehen, nur dass sie ansonsten eine sozialistische Gesellschaft propagandierten, von der sie nur sehr vage Vorstellungen haben konnten – ‚von neuen Menschen in einer neuen Zeit‘, wie es Georg in seinem Editorial beschworen hatte.“ (Ebd.: 108) Die beiden ließen sich scheiden, als die Tochter sechs Jahre alt war, weshalb Barbara Honigmann ihre Eltern in ihrer Erinnerung „gar nicht als Ehepaar erlebt, sondern als Freundespaar, das sich gegenseitig besuchte, über praktische Angelegenheiten beriet und vorsichtig über die DDR-Politik diskutierte, über das was in den Zeitungen stand, und das was nicht in den Zeitungen stand, über Ärger, den sie selbst hatten oder von dem sie gehört hatten.“ (Ebd.: 76f.)

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Barbara Honigmann konnte nicht herausfinen, ob Litzi in Ost-Berlin Spionin blieb:

Über ihre eigene Rolle und Funktion im sowjetischen Geheimdienst sagte sie weniger. Eigentlich sagte sie darüber gar nichts. Wie lange sie noch für den KGB […] gearbeitet hat, wie diese Arbeit eigentlich aussah, darüber hat sie sich auch während unseres Gesprächs in meinem Atelier nur sehr vage ausgelassen, und erst viel später ist mir klargeworden, dass sie, als sie mir so groß angekündigte ‚Details‘ erzählen wollte, im Grund wenig preisgegeben hat. (Honigmann 2019: 63)
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Von der Mutter gebe es keine Stasi-Akte – der ostdeutsche Dienst sei für Litzi nämlich nicht zuständig gewesen, weil sie direkt vom KGB „geführt wurde“. (Ebd.)

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Im Stasi-Unterlagen-Archiv gibt es tatsächlich einige wenige Dokumente mit Bezug zu Litzi. Aus ihnen geht nichts zu ihrer Spionage-Vergangenheit oder der Verbindung zu Philby hervor. Allerdings interessierte sich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) für Litzi als Person, weil die mondäne und unangepasste Wienerin oft aneckte. So heißt es in einem Ermittlungsbericht von 1952 wenig schmeichelhaft: „Frau H. [Honigmann] ist Mitglied der SED und leistet gesellschaftlich einige aktive Arbeit. Es muss festgestellt werden, dass sie diese Tätigkeit häufig mit ihren persönlichen Interessen verbindet und dazu neigt, zu intrigieren.“ (BArch: MfS, AIM Nr. 9228/64, Teil I, Bl. 62) Laut einer „Charakteristik“ von 1951 würde das Ehepaar Honigmann „bei den Nachbarn nicht sehr beliebt“ sein und „keinen guten Eindruck“ hinterlassen, „da sie sehr arrogant und spießbürgerlich veranlagt sind“ (ebd.).

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Wie tief das Misstrauen war, wird daran deutlich, dass am 14. Oktober 1955 MfS-intern gebeten wurde, über das Ehepaar Honigmann „Postüberwachungen einzuleiten“. Die Korrespondenz sollte „abschriftlich bzw. fotokopiert“ der Hauptabteilung V/7 übersendet werden. Im Visier dieser Abteilung waren zentrale Organe und Einrichtungen des Staatsapparates und der Führungsgremien der Parteien und Massenorganisationen. Litzi wurde also im Verlauf ihres Lebens nicht nur von westlichen Geheimdiensten, sondern auch von den Pendants in Osteuropa nachgespürt (BArch: MfS, AIM Nr. 9228/64 (Teil I), Bl. 82).

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Litzi war seit dem 1. Oktober 1949 bei der DEFA, dem Filmunternehmen der DDR mit Sitz in Potsdam-Babelsberg als Leiterin der Presseabteilung beschäftigt. Auch hier hatte sie keine gute Nachrede. Der bereits zitierte Ermittlungsbericht führt aus, dass der DEFA-Vorstand „schon seit längerer Zeit“ der Ansicht sei, die Presseabteilung „andererseits“ zu besetzen, „da die Leitung dieser Abteilung nicht den großen Anforderungen, die in ideologischer und künstlerischer Hinsicht […] gestellt werden müssen, gerecht wird.“ (BArch: MfS, AIM Nr. 9228/64 (Teil I), Bl. 62)

5. Philbys Enttarnung

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Währenddessen war Ex-Mann Philby Ende der 1940er Jahre zur Topquelle der Cambridge Five aufgestiegen und stand auf der ‚short list‘ für die Besetzung des neuen ‚C‘ – wie der Chef des MI6 intern genannt wird (Knightley 1988: 150). Doch 1951 gelang es US-amerikanischen Codeknackern, 3.000 abgefangene sowjetische Telegramme, die zwischen 1940 und 1946 verschickt worden waren, zu entschlüsseln. Dieses Venona-Projekt sollte zur größten Quelle an Informationen über sowjetische Spionage werden, die dem Westen im Kalten Krieg zur Verfügung stand. Mehr als 200 US-Amerikaner, die als Quellen für Moskau gearbeitet hatten, konnten so enttarnt werden (Walton 2023: 150f.). Eines der alten Telegramme aus dem 2. Weltkrieg erwähnte eine Quelle namens HOMER, die relativ bald als Maclean identifiziert wurde. Philby warnte diesen noch, indem er Burgess mit der Aufforderung losschickte, sofort in die Sowjetunion zu flüchten. Das tat Maclean auch, aber Burgess schloss sich ihm an und lief ebenfalls über. Das wiederum lenkte die Aufmerksamkeit auf Philby, bei dem Burgess zuletzt in Washington als Untermieter gewohnt hatte. Philby gelang es aber noch einmal, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ohne Geständnis gab es nicht genügend Beweise, um ihm den Prozess zu machen (ebd.: 176–178).

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An dieser Stelle setzten die bereits erwähnten Nachforschungen und Verhöre Philbys durch den MI5 ein. 1953 schloss der Inlandsgeheimdienst, dass man es mit einem Verräter zu tun hatte. Aber es fehlten schlagkräftige Beweise für eine Verurteilung. Dafür sprach unter anderem, dass Philby „mit einer gewissen Alice Friedmann, einer österreichischen Kommunistin“ verheiratet gewesen war. Zusammenfassend warnte der MI5, dass Philby jederzeit Asyl in einem Ostblock-Land suchen könnte und es gebe keine rechtliche Handhabe, um ihn davon abzuhalten. Das war zehn Jahre bevor Philby tatsächlich überlief (TNA: KV2/4730, 390a.).

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Zumindest schickte man ihn mit einem Golden Handshake von 5.000 Pfund in den Ruhestand. 1955 wurde die Presse auf Philby als möglichen ‚dritten Mann‘ nach Burgess und Maclean aufmerksam. Aber er entschärfte die Situation, indem er zu einer Pressekonferenz in die Wohnung seiner Mutter einlud. Unter anderem log er in die Kameras: „Das letzte Mal, dass ich mit einem Kommunisten gesprochen habe und gewusst habe, dass er einer ist, war 1934.“ (Walton 2023: 179) Philby nutzte seine Freundschaft mit dem MI6-Offizier Nicholas Eliott, der ihm im Sommer 1956 eine Korrespondentenstelle für den Observer und den Economist in Beirut verschaffte. Dort sammelte Philby freilich auch Informationen für den MI6 (Macintyre 2015: 14f.).

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Der Verdacht gegen Philby war auch Grund, der rätselhaften Litzi auf den Grund zu gehen. Ende September 1951 wurde festgehalten, es gehe darum, ihre Aktivitäten in Deutschland und soweit wie möglich ihre Handlungen und Kontakte in Großbritannien zwischen 1934 und 1939 nachzuvollziehen (TNA: KV 2/4667). Der MI5 fragte bei den britischen Nachrichtendienststellen im besetzten Österreich nach. Man wäre besonders daran interessiert, Litzis Karriere vor 1934 aufzuklären: „Wir wären dankbar, wenn Sie alle österreichischen Polizei-Berichte heranziehen könnten, die noch existieren könnten, und uns jegliche vorhandene Information über ihre kommunistischen Aktivitäten und ihren persönlichen Hintergrund zur Verfügung stellen.“ (TNA: KV2/4663, 29a.) Ende Dezember 1951 hatte es noch keine Rückmeldung gegeben. Aber wie die Verbindungsstelle anmerkte, bedeutete der Fall „ziemliche Anstrengungen“ für die österreichischen Behörden – „und sie arbeiten derzeit unter Druck“ (TNA: KV 2/4667, 46a.).

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In der Zwischenzeit wurde der Rest der Cambridge Five aufgedeckt: Ein Tipp eines Freundes von Burgess hatte zu Blunt geführt, der sich ebenfalls weigerte, zu gestehen. Er war aber kaltgesellt. Seine Rolle als Spion wurde erst 1979 öffentlich bekannt (Walton 2023: 184). Cairncross geriet in Verdacht, weil in Burgess Wohnung Notizen von einer Regierungsbesprechung aus der Zwischenkriegszeit gefunden worden waren, an der er teilgenommen hatte (ebd.: 179). Aber es dauerte bis 1964, ehe der nunmehr in den USA lebende Cairncross seinen Verrat zugab (ebd.: 184). Schließlich wurde auch Philby von seiner Vergangenheit eingeholt. Den ersten Stein ins Rollen brachte ein Überläufer. Im Jahr 1961 hatte der KGB-Offizier Anatoli Golizin der CIA sein Wissen angeboten. Unter den von ihm übermittelten Informationen waren auch Aufschlüsse über die Cambridge Five. (Andrew 2001: 422)

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Zum wirklichen Verhängnis aber wurde Philby eine alte Bekanntschaft: Flora Solomon kannte Philby seit den 1920er Jahren, als dieser noch ein kleiner Junge gewesen war. Sie hatte ihn mit seiner zweiten Ehefrau Aileen bekannt gemacht und fungierte bei der Hochzeit am 25. September 1946 als Trauzeugin. Solomon, 1898 geborene Benenson, war im vorrevolutionären Russland aufgewachsen, in einer wohlhabenden jüdischen Familie. 1939 wurde sie Welfare Superintendent bei Marks & Spencer (TNA: KV 2/4634, 80a.). Als Philby als Journalist in den Spanischen Bürgerkrieg aufbrach, unternahm er einen Rekrutierungsversuch. Es war im Jahr 1938, kurz nach dem Münchner Abkommen. Sie aßen zusammen zu Mittag in einem Restaurant. Irgendwann meinte der sichtlich aufgewühlte Philby kryptisch, dass er „für die Russen arbeite und dass er in Gefahr und dementsprechend nervös sei“. Sie solle ihm helfen und Informationen über die weißrussische Exilantenszene in Großbritannien beschaffen. Doch Solomon ließ ihn abblitzen (TNA: KV2/4635, 143a.). Dass Philby kurz aus der Deckung kam, sollte sich später gegen ihn wenden. Aber erst nachdem er von Beirut aus mit antizionistischen Artikeln den Argwohn von Solomon auf sich zog. Das führte dazu, dass sie sich im Juli 1962 bei einem Empfang im Weizmann Institute of Science an den früheren MI5-Offizier Victor Rothschild wandte. Dieser leitete ein erstes ausführliches Verhör am 1. August 1962 in die Wege (ebd.).

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Solomons Aussagen waren das fehlende Beweisstück gegen Philby. Eliott bat darum, seinen Freund, vom dem er sich persönlich verraten fühlte, in Beirut zu konfrontieren. Zum Ärger von MI5 wurde es den Konkurrenten vom Auslandsgeheimdienst erlaubt, diesen Fall quasi intern abzuwickeln. Am 12. Jänner 1963 stand Eliott um vier Uhr nachmittags vor Philbys Tür. Dieser hatte sofort eine Ahnung, warum Eliott gekommen war: „Ich dachte mir schon, dass Du es sein würdest.“ (Macintyre 2015: 246–249) Philby stellte ein mehrseitiges Geständnis zusammen, in dem er – wie von Eliott angeregt – zugab, von 1936 bis 1949 für die Sowjetunion spioniert zu haben. Das war als Beschwichtigung gegenüber den USA wichtig, wo Philby ab 1949 Verbindungsbeamter gewesen war (Andrew 2001: 424). Damit hatte Eliott offenbar erreicht, was er wollte. Er sagte Philby, dass er am nächsten Tag in den Kongo fliegen werde und sein Kollege Peter Lunn den Debriefing-Prozess übernehmen würde. Dann ließ er Philby unbewacht zurück – angeblich, weil er nicht daran gedacht hatte, dass Philby versuchen könnte, überzulaufen. Genau das aber geschah. Am 23. Jänner 1963 verschwand Philby aus Beirut und setzte sich an Bord eines Frachters in die Sowjetunion ab (Macintyre 2025). Im Endeffekt hatte er den Ausweg gewählt, dem ihm Eliott offenbar bewusst offengelassen hatte – wohl deswegen, damit Großbritannien – und dem MI6 – ein peinlicher Spionageprozess erspart blieb. Jahre später schrieb Philby an Eliott: „Ich kann nicht anders, als zum Schluss zu kommen, dass Du vielleicht wolltest, dass ich verschwinde.“ (Ebd.)

6. Auf der Spur von Litzi

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Ende der 1960er Jahre wurden die Ermittlungen gegen Litzi nochmals verstärkt. Der MI5 durchlief während dieser Zeit selbst eine schwierige Phase. Der Geheimdienstoffizier Peter Wright, der wesentlich an der ‚Maulwurfjagd‘ nach den Cambridge Five beteiligt gewesen war und weitere Verräter im Dienst vermutete, äußerte sich später kritisch über den Zustand der Behörde. Bereits in den 1950er Jahren schien der MI5 „mit einer dicken Staubschicht aus den Kriegsjahren bedeckt zu sein“, so Wright. Er hielt fest: „Die gesamte Organisation ähnelte Dickens' Mrs. Haversham. War sie im Kriege von der intellektuellen Elite angebetet worden, so wurde sie 1945 prompt sitzengelassen. Die Elite hatte sich neuen Beschäftigungen in der Welt da draußen und sich neuen Beschäftigungen zugewandt und den MI5 in seinen dunklen Räumen zurückgelassen – allein mit den Erinnerungen an das, was hätte sein können.“ (Wright/Greengrass 1988: 43) Stella Rimington, zwischen 1991 und 1996 die erste weibliche Generaldirektorin des MI5, trat 1969 in die Behörde ein. Das MI5-Hauptquartier Leconfield House war damals in einem heruntergekommenen Zustand. Im Inneren waren die Räume seit einem Jahrzehnt nicht mehr ausgemalt worden, die Fenster waren dreckig und alles machte einen dunklen und düsteren Eindruck. Die Dame, die in der Kantine im obersten Stockwerk das Essen ausgab, klatschte alles einem großen Schöpflöffel auf den Teller, wodurch alles noch unappetitlicher aussah (Riminigton 2001: 92).

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Ende April 1968 ersuchte der MI5 um die Erteilung einer Genehmigung, jede Briefsendung Litzis an Adressen in Großbritannien bzw. von dort an sie abzufangen und öffnen zu lassen. Man habe Anhaltspunkte von mehreren Quellen, darunter aus Philbys ‚Geständnis‘, dass Litzi weiter als ‚russische Agentin‘ und in Ost-Berlin nun als Vermittlerin für russische Spione im Vereinigten Königreich tätig sei: „Wir betrachten sie als eine Schlüsselfigur in dem Zirkel zentraleuropäischer Kommunisten jüdischer Herkunft, die laut KAGO [Golizin] für die Rekrutierung des ‚Fünfer-Rings‘ russischer Spione im Vereinigten Königreich in den 1930er Jahren verantwortlich war“ (Andrew 2011: 422). Die gegenwärtigen Untersuchungen hätten bereits ergeben, dass Litzi sich in regelmäßigem Kontakt mit einigen ihrer früheren Freunde befinde. Der MI5 hatte es insbesondere auf das Ehepaar Edward und Gerda Newmark abgesehen, das Litzi auch in Ost-Berlin besuchte und selbst unter Spionageverdacht stand. Außerdem konzentrierte man sich auf nach Wien zurückgekehrte Exilanten – das Ehepaar Löw-Beer und Smolka sowie auf die in London ansässige Ilona Donat, die Schwägerin von Litzi. Der Geheimdienst hoffte, Recherchen könnten dazu beitragen, noch unentdeckte Spione zu identifizieren, indem man Litzis Kontaktnetz durchleuchtete (TNA: KV2/4665, Minute 110). Kurz vor der Überprüfung der Genehmigung für die Postüberwachung wurde Ende Mai 1968 gemeldet, dass man bereits mehrere Briefe an Litzi abgefangen habe und es daher wichtig sei, die Genehmigung zu verlängern (TNA: KV2/4665, Minute 123).

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Zuständig für die Genehmigungen von Telefon-Anzapfungen und Brieföffnungen war der stellvertretende Generaldirektor des MI5. Er schrieb darüber einen kurzen Bericht, der an den zuständigen Staatssekretär im Innenministerium ging. Dieser entschied dann, ob mit Problemen zu rechnen war oder nicht. Einmal im Monat wurden die Anträge geprüft (Wright/Greengrass 1988: 53). Worüber niemand nachdachte, waren die Mechanismen, die notwendig waren, damit die Spione ihre verdeckten Operationen überhaupt durchführen konnten – wie das Eindringen in die Räumlichkeiten einer Zielperson. Zum Zeitpunkt der Ermittlungen gegen Litzi gab es laut Wright überhaupt nur ein – ungeschriebenes – Gesetz, auf dessen Basis der Geheimdienst agierte: „Lass Dich nicht erwischen.“ (Ebd.: 19) Das Resultat war laut Wright, dass er und seine Kollegen „auf Geheiß des Staates“ fünf Jahre lang in London in Häuser einbrachen und Telefone abhörten, „während die Beamten in Whitehall vorgaben, unter ihren Melonen wegzusehen“ (ebd.: 61).

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Dabei erbrachte die Telefonüberwachung oder die Ausbeute durch in Wohnungen angebrachte Wanzen oftmals keine konkreten Resultate, wie sich auch anhand von in den MI5-Dossiers zu Litzi enthaltenen Transkripten abgefangener Gesprächen der Newmarks ergibt. Was die aufwendige Prozedur des Transkribierens angeht, so erinnerte sich Wright, dass bei seinem Eintreten in den MI5 die Anzapfungen noch auf Acetatplatten aufgenommen wurden. Diese seien dann stichprobenartig an einzelnen Stellen der Platte überprüft worden, um das Gespräch zu ‚sondieren‘: „Falls etwas Relevantes gefunden wurde, machten die Schreibkräfte eine Kreidemarkierung auf der entsprechenden Stelle und begannen mit ihrer Schreibarbeit.“ Laut Wright war es eine ineffiziente und zeitraubende Methode. Die eingesetzten Schreibkräfte seien mehrheitlich weißrussische Exilanten gewesen, die sich im siebenten Stock des MI5-Hauptquartiers ein „Stück zaristisches Russland“ eingerichtet hatten. Ihre exzentrische Art erklärte sich laut Wright dadurch, dass sie ihr Leben damit verbrachten, „Bruchstücke von Informationen unter abertausend Stunden nutzlosen Geschwafels zu suchen“ (Wright/Greengrass 1988: 54f.).

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Einmal, am 12. April 1968, ergab die Überwachung der Newmarks in ihrem Zuhause, dass er ihr zu Ostern ausgerechnet eine Ausgabe von Philbys Memoiren The Spy Who Betrayed a Generation geschenkt hatte. Die freudig-überraschte Gerda reagierte mit einem „Du lieber Gott!“ und blätterte offenbar als erstes die im Buch enthaltenen Fotografien durch. Darunter war ein Jugendbild von Litzi und Gerda fragte ihren Ehemann: „Kannst Du Dich an Litzi erinnern, als sie so ausgesehen hat?“ Dieser entgegnete: „Ja, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe.“ Aber er wisse nicht, woher die Buchautoren das Foto bekommen hatten (TNA: KV2/4665, 109c.).

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Gerda Newmark wurde am 18. und 24. Juni 1968 auch persönlich vernommen. Man kam zum Schluss, dass sie an einigen Punkten gelogen und versucht hatte, Informationen zurückzuhalten. Newmark bestätigte unter anderem, dass sie Litzi in deren Haus in Ost-Berlin besuche. Sie bleibe in der Regel eine Nacht oder zwei sowie meistens noch drei weitere Nächte im Hotel. Die Polizei erledige die Buchungen für sie. Über Politik spreche sie mit Litzi nicht, weil sie sich sonst streiten würden. Philby sei kaum ein Thema. Allerdings habe Litzi gesagt, dass sie von ihm nie gehört habe (TNA: KV2/4666, 136b.). Der MI5 fand auch heraus, dass sich Litzi von Gerda Ausgaben der Vogue schicken ließ. Es gebe zwar keinen Grund anzunehmen, dass darin Nachrichten versteckt seien, aber das sei „immer möglich“. Die dafür benützte Adresse gehörte dem ehemaligen Reuters-Journalisten John Peet, der 1950 in die DDR gezogen war und später von einem sowjetischen Überläufer als angeblicher sowjetischer Agent entlarvt wurde (TNA: KV2/4665, 122b.).

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Der MI5 klapperte aber auch andere alte Bekannte Litzis ab, die eng mit ihren Spionageaktivitäten verbunden waren. So wurde am 27. März 1968 Blunt von Wright verhört, der ihn auch nach Litzi fragte: „Er sagte, dass er in den 30ern ganz gut mit ihr befreundet gewesen sei und sie gemocht habe, obwohl er ihre österreichische Art etwas irritierend fand. Er war sicher, dass Kims Ehe mit ihr keine ‚Scheinehe‘ gewesen sei, sondern dass Kim sehr in sie verliebt gewesen sei, als er aus Österreich zurückkehrte.“ Blunt erinnerte sich auch daran, dass er Litzi in London mit ins Kino genommen habe, um sich The Grapes of Wrath anzuschauen. Der Film von John Ford aus dem Jahr 1940 handelt von einer Bauernfamilie in Oklahoma, die im Elend der Depressionszeit ihre Farm verliert und nach Kalifornien ziehen muss. Litzi sei angesichts des Films „sehr emotional“ geworden und habe ihm anvertraut, dass sie in Wien unter dem Einfluss von Tudor-Hart zum Kommunismus gefunden habe (TNA: KV2/4665, 106z.).

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Als nächster war Smolka an der Reihe, der schon während eines London-Aufenthalts 1967 von MI5 vorgeladen worden war. Nun trafen ihn zwei Geheimdienstoffiziere in Wien zwischen 14. und 16. Mai 1968. Die MI5-Beamten fragten ihn nach seiner Reaktion darauf, dass Philby und Litzi nun als sowjetische Spione enttarnt seien. Er sei verblüfft gewesen, so Smolka und er gab sich überzeugt, dass Philby Litzi rekrutiert habe und nicht umgekehrt. Er habe Litzi als Kommunistin nämlich nie ernstnehmen können. Nun sei sie eine alte Frau und habe einen Herzanfall gehabt. Aber sie hege eine große Nostalgie für Wien und komme immer wieder auf Besuch. Sie sei nicht zufrieden mit ihrem gegenwärtigen Leben und sie hege mittlerweile keine Begeisterung mehr für die kommunistische Sache. Das letzte Mal sei sie 1967 in Wien gewesen und habe bei den Smolkas gewohnt. Da fassten die MI5-Beamten nach, ob es möglich wäre, dass er mit ihr über die 1930er Jahre sprechen und sie wissen lassen könnte, wie sie dazu eingestellt sei. Smolka erzählte den Beamten, dass er Litzi vier oder fünf Mal getroffen habe, als beide noch für die Internationale Arbeiterhilfe tätig waren. Man kam überein, dass Smolka Bescheid geben würde, falls Litzi nach Wien kommen würde. Aber als es darum ging, ob er mitwirken könne, ein Verhör in die Wege zu leiten, winkte Smoka ab. Er könne nicht im Namen des MI5 mit Litzi sprechen – überhaupt seitdem er ihre Stellung mit dem Geheimdienst besprochen habe, würde er sie lieber nicht wiedersehen.

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Die MI5-Verhörer nahmen an, dass Smolka in Wirklichkeit vor hatte, Litzi zu warnen, nicht mehr nach Wien zu kommen (TNA: KV2/4665, 125b.). Als festgestellt wurde, dass es kurz nach den Verhören Ende Mai 1968 zu einem dreitägigen Treffen zwischen Litzi und dem befreundeten Paar Paul und Ala Löw-Beer in Budapest kam und für Juli 1968 kurzfristig ein gemeinsamer Urlaub der Newmarks mit den Löw-Beers in Champex in der Schweiz arrangiert wurde, spekulierte MI5, diese Aktivitäten könnten durch Smolkas Verhör ausgelöst worden sein. Nun gehe es den Beteiligten darum, das ‚Interesse‘ des Geheimdiensts an Litzi und den Kreis an Vertrauten zu kommunizieren. Dazu passte auch, dass Broda am 16. Mai 1968, dem Tag, an dem das dritte Gespräch mit Smolka stattfand, eine Postkarte an die Newmarks gesandt hatte, in der kryptisch stand: „Paul und Ala [Löw-Beer] werden Euch den Rest erzählen, wenn ihr euch trefft. Wendet Euch nur an sie.“ (TNA: V2/4665, 128z.)

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Kitty Schmidt, die Tochter der Löw-Beers, erinnerte sich 2025 im Gespräch mit dem Autor an diese Zeitspanne:

Litzi war einmal einige Zeit in Wien und kam oft zu uns auf Besuch. Ich habe sie als sehr warmherzig, lebenslustig und nett empfunden. Den Namen Philby hat sie nie erwähnt. Erst sehr viel später hat mein Vater Andeutungen in diese Richtung fallen lassen. Er selbst hat angedeutet, dass er ein ‚Schläfer‘ für den sowjetischen Geheimdienst war, dass sich aber nie jemand bei ihm gemeldet habe, um ihn so zu aktivieren. (Interview Autor: 13.03.2025)
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In Großbritannien wiederum wurde am 23. Mai 1968 Tudor-Hart von zwei MI5-Beamten zu einem „rein privaten Gespräch“ empfangen. In den Jahren davor war sie bereits mehrmals verhört worden und der Geheimdienst hatte über sie ein Berufsverbot verhängt. Das bedeutete, dass sie nicht mehr als Fotografin arbeiten konnte. Trotzdem hatte Tudor-Hart nie jemanden aus ihrem Netzwerk belastet und hatte „zu lange in dem Spiel mitgespielt, um gebrochen werden zu können“, wie Wright in seinen Memoiren anerkannte. (Wright/Greengrass 1988: 257)

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Bei diesem letzten Verhör – fünf Jahre vor Tudor-Harts Tod im Jahr 1973 – wollten die zwei MI5-Beamten gar nicht erst die Atmosphäre einer Vernehmung aufkommen lassen. Ein Kommunist zu sein, sei dem Dienst egal, versicherte einer. Worum es gehe, sei festzustellen, ob jemand unter dem „Einfluss einer fremden Macht“ stehe, was wiederum die innere Sicherheit des Landes betreffe. Es sei jedenfalls „kein Verbrechen, ein Kommunist zu sein“. Außerdem könne sich Tudor-Hart in einem Punkt sicher sein: „Dass wir nicht die Gestapo sind und nicht das FBI“. Dann kamen die Beamten zum eigentlichen Anliegen: Ihre Beziehung zu Litzi und zwar gleich von Beginn an weg in Österreich. Doch Tudor-Hart zerstörte gleich alle Illusionen, sie würde dazu nun reinen Tisch machen. Sie warnte, die Beamten mögen sich darauf einstellen, enttäuscht zu werden, „weil ich sie in Österreich nicht gekannt habe“. Sie habe Litzi erst hier in Großbritannien getroffen, allerdings könne sie sich nicht mehr erinnern, wann zum ersten Mal. Das sollte aber erst passiert sein, nachdem Litzi mit Philby verheiratet gewesen war. Sie habe „sich den Kopf zerbrochen“, um sich genau zu erinnern. Aber es sei ihr nicht gelungen. Abgesehen davon es sei wohl nur eine rein soziale, keine politische Beziehung gewesen. Sie hätte mit Litzi „nie“ über Politik gesprochen. Abschließend wurde Tudor-Hart noch gefragt, ob sie zufälligerweise Philbys Memoiren gelesen hatte, die gerade erschienen waren. Sie antwortete: „Nein. Nein. Ich, ich denke, ich denke, ich muss es nun lesen.“ Am Ende des Gesprächs meinte Tudor-Hart noch, es tue ihr sehr leid, wenn die beiden Beamten angesichts des mageren Resultats mit ihr Zeit verschwendet hätten. Doch diese versicherten: „Nein, Es war sehr hilfreich.“ Schließlich wollten die Beamten ihr noch die Fahrtkosten von einem Pfund refundieren, was Tudor-Hart nicht annehmen wollte. Aber die Beamten bestanden darauf: „Nein, Sie haben uns geholfen – vielen Dank“ (TNA: KV2/4665, 122z.).

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Am 2. Juni 1969 wurde entschieden, die Genehmigung für die Briefüberwachung von Litzi zu annullieren. Obgleich es bekannt sei, dass sie eine „russische Spionin“ gewesen sei, habe sich innerhalb von sechs Monaten kein Beweis dafür ergeben, dass sie mit russischen Spionage-Verdächtigen im Vereinigten Königreich in Kontakt sei (TNA: KV2/4667, Minute 165). Man blieb aber weiter wachsam. Zwischen 21. und 22. Mai 1972 wurden bei Josefine Deutsch, der Witwe von Arnold Deutsch, im österreichischen Bad Hofgastein Erkundigungen eingeholt. Doch zum falsch geschriebenen Namen „Kollmann [sic!], Lizy“ fiel Deutsch angeblich nichts ein (TNA: KV2/4667, 206b.). Wenige Wochen darauf, am 18. Juli 1972, zog der MI5 Bilanz über die Recherchen in Sachen Litzi:

Es ist nicht bekannt, ob sie immer noch für den russischen Geheimdienst arbeitet und es hat Berichte gegeben, dass sie desillusioniert über die Russen und das ostdeutsche Regime ist, aber nachdem keine gesicherten Informationen vorliegen, ist es anzunehmen, dass Kontakte mit ihr immer noch ein Anzeichen für Spionageverbindung darstellen. (TNA: KV 2/4667, 209a.)
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Als einige der letzten Schriftstücke fanden 1972/73 Auszüge aus der Korrespondenz Litzis mit Nicholas Jacobs, einem kommunistischen Verleger aus London, Eingang in ihre Akte. Am 4. Mai 1973 wurde ein auch Telefongespräch zwischen Litzi und Jacobs abgehört. Dieser befand sich zu diesem Zeitpunkt wohl unter MI5-Überwachung. Das letzte Dokument stammt vom 8. April 1974. Es handelt sich um den Auszug aus einem Gespräch mit einer Quelle mit dem Decknamen ‚FOXY‘. Unter anderem bemerkte ‚FOXY‘ in Bezug auf Litzi: „Sie hatte all diese offiziellen marxistischen Antworten parat und war überhaupt nicht bestürzt über die tatsächlichen Fakten. Sie würde streiten, aber sie würde nie versuchen, zu konvertieren“ (TNA: KV2/4667, 220a.).

7. Finale in Wien und Moskau

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Litzi hatte ihre Spionage-Vergangenheit längst hinter sich gelassen. Sie hatte sich bei der DEFA zur Synchronregisseurin ausbilden lassen. Laut Barbara Honigmann liebte ihre Mutter diesen Beruf, „wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in der ansonsten engen, provinziellen Welt, in der sie sich nun eingerichtet hatte, hier ihren kosmopolitischen Charakter ungestraft ausleben konnte. Wenn sie englische, französische oder italienische Filme synchronisierte […], konnte sie eine wenigstens imaginäre Verbindung zu diesen Kulturen, die sie bewunderte, aufrechterhalten.“ (Honigmann 2004: 125f.) Im Team wurde Litzi von den anderen „voller Respekt, aber auch Zueignung ‚Frau Gräfin‘“ genannt. Das drückte auch eine Distanz aus, „die zunächst einmal dem Wiener Akzent, aber darüber hinaus ganz allgemein ihrer etwas anderen Herkunft und Lebensgeschichte galt, über die meine Mutter ja nie sprach, ohne sie jedoch wirklich zu verheimlichen“. Mit ihrem ‚Wiener Charme‘ und gespielter Hilflosigkeit habe sich Litzi Bücher, Restaurantplätze „und was sonst in der DDR begehrt war“, beschafft. Eine Taxifahrerin, mit der sie später im selben Haus in der Karl-Marx-Allee wohnte, erhob Litzi – die nie das Autofahren gelernt hatte, „in den Rang ihrer persönlichen Chauffeurin, und beide fanden in diesem Arrangement nur Vorteile.“ (Honigmann 2004: 126f.) Litzi gehörte im ‚Arbeiter-und-Bauern-Staat‘ nie wirklich dazu. 1977 verweigerte sie die Unterschrift unter eine Resolution im Zusammenhang mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann (BArch: MfS, Karteikarte Honigmann, Alice).

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Eine spezielle Situation ergab sich im August 1981: Philby kam in die DDR, um im Haus 22 der MfS-Zentrale ein Seminar über sein Leben, von der Rekrutierung bis zur Flucht, zu halten (Barth 2016). Er hatte seit seiner Flucht 1963 in Moskau in strengster Abschirmung durch den nunmehrigen KGB gelebt. Aber nun hätte sich endlich die Gelegenheit geboten, Litzi nach mehr als drei Jahrzehnten wiederzusehen. Doch dazu kam es nicht. Der Journalist Philip Knightley fragte Philby Ende der 1980er Jahre nach dem Grund und erhielt eine ausweichende Antwort: Er (Philby) habe das nicht gemacht, weil er wusste, dass sie geschieden war und er sie nicht in Verlegenheit bringen wollte: „Und überhaupt, diese Periode meines Lebens ist vor so langer Zeit, fast wie aus einer anderen Welt mit anderen Menschen.“ Knightley vermutete, Philby sei in Wirklichkeit betreten gewesen, weil er vielleicht erfahren hatte, dass Litzi 1984 in den Westen gegangen war (Knightley 1988: 244).

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Tatsächlich hatte sie sich schon 1979 an die österreichische Botschaft in Ost-Berlin gewandt. Sie bat um Erteilung eines Visums, um eine Tante in Wien-Döbling besuchen zu können. Das wiederholte sich in den darauffolgenden Jahren: Die Botschaft erteilte die Sichtvermerke bald ohne vorherige Rücksprache mit Wiener Stellen, setzte aber das Bundesministerium für Inneres jedes Mal nachträglich ‚in Kenntnis‘ (ÖStA/AdR: BMI II/C 139.019/85). 1984 – mit 74 Jahren – wagte Litzi den nächsten Schritt: Sie reiste am 4. Juli nach Österreich und bat um Erteilung eines unbefristeten Visums. „Die Antragstellerin möchte ihren Lebensabend bei Freunden in Österreich (Wien) verbringen. Diese geben Unterkunft und haften auch zur ungeteilten Hand“, heißt es im Bericht des Fremdenpolizeilichen Büros (ebd.). Von Seiten der Staatspolizei wurde bescheinigt, dass „Honigmann Alice, geb. Kohlmann, gesch. Friedmann, gesch. Philby, 02.05.1910 geb., nicht nachteilig beleumundet wird“. Und: „In staats- und fremdenpolizeilicher Hinsicht konnte über sie bisher nichts Nachteiliges in Erfahrung gebracht werden.“ (Ebd.)

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Dokumente für die Wiederverleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft waren vorher nach Wien geschmuggelt worden, wo Litzi einen Rechtsanwalt beauftragt hatte, ihre Sache zu betreiben. Als es dann soweit war, wollte sie keine Missverständnisse aufkommen lassen und schickte die Wohnungsschlüssel ihren ehemaligen Nachbarn in der Karl-Marx-Allee – mit der Mitteilung, dass niemand mit ihrer Rückkehr rechnen solle. Ein Schreiben schickte sie auch an die ostdeutsche Botschaft: „Ich bitte, aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen zu werden, um die österreichische Staatsbürgerschaft annehmen zu können.“ Eine entsprechende Bestätigung blieb aus. Trotzdem erhielt Litzi ohne bürokratische Hürden die gewünschten Dokumente und einen Opferausweis, der „den Inhaber zu einer weitgehend bevorzugten Behandlung empfiehlt“ (Honigmann 2004: 129–131). Irgendwie schien es, als habe sie „Wien seit dem Tage ihrer Geburt nicht verlassen“. Schließlich liebte Litzi die Stadt „trotz der Österreicher“, wie Barbara Honigmann festhält (ebd.: 129). Ihre Mutter richtete sich in der Theresianumgasse im 4. Bezirk ein und verbrachte einen geschäftigen Lebensabend in einer kleinen Wohnung, „die wahrscheinlich die kleinste war, in der sie jemals gelebt hatte.“ (Ebd.: 134) Einmal pro Woche half sie einen Vormittag im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands aus und führte ein reges gesellschaftliches Leben (ebd.: 135). Sie trat auch wieder in die Israelitische Kultusgemeinde ein, so Barbara Honigmann:

Dieser Wiedereintritt war wohl weniger eine Rückkehr zu den jüdischen Wurzeln als ein Ausdruck des Unbehagens und Unwohlseins, das mit dem Alter kam, eine späte Verlegenheit und vielleicht sogar eine Scham über den radikalen Bruch mit ihrer Familie und Herkunft, über die Verachtung, mit der sie all jenen begegnet war, die nicht wie sie an die endgültige Befreiung aller Klassen und Rassen durch den Kommunismus geglaubt hatten. (Ebd.: 134)
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Nur in einem Punkt blieb es Litzi versagt, abzuschließen. Ihre Tochter ist sich sicher, dass Philby in den 25 Jahren, in denen er in der Sowjetunion war, tatsächlich „nie“ den Versuch unternahm, „irgendeinen Kontakt“ mit Litzi aufzunehmen. Das habe sie „sehr gekränkt“. Den Grund dafür erklärte sie sich so: „Meine Mutter sagte nie Philby, wenn sie von ihm sprach, sie nannte ihn auf eine vertraute Weise Kim, aus der ich nach so vielen Jahren noch Zuneigung, aber auch Gekränktsein spürte.“ Auch wenn Litzi „ziemlich libertär“ in ihrem Leben mit Ehen, Geliebten und Verehrern umgegangen sei, so hätten diese Beziehungen und Trennungen auch Schmerz und Resignation bei ihr hinterlassen: „Die zärtliche Verachtung mit der sie den Namen Kim aussprach, drückte diesen Zwiespalt nur allzu deutlich aus.“ Dass ihre Mutter 1984 in den Westen ging, das hätte Philby „als eine Art Desertion verstanden“. Irgendwie habe er Litzi zumindest aus der Ferne im Auge behalten (Honigmann 2004: 64f.).

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Das hat Philby selbst so nie bestätigt, aber es ist plausibel. Dem Journalisten Borovik erzählte er, dass er 1961 mit Litzi „über einen ihrer Freunde, der nach Moskau gekommen war“, Grüße austauschte: „Ich weiß nicht, ob sie noch am Leben ist, aber es ist wahrscheinlich, dass sie es ist. Es ist kein so ungewöhnliches Alter für eine Frau. Sie hat eine Tochter, die mehrmals in Moskau gewesen ist, aber ich habe sie nicht gesehen.“ (Borovik 1994: 116) Der KGB-Agent Yuri Modin wiederum will gewusst haben, dass Litzi und Philby bis zum Tod des Letzteren eine Korrespondenz unterhielten, was sich aber nicht belegen lässt. Modin selbst bekundete, dass Litzi eine Frau von enormer Überzeugung war, für die er „größte Bewunderung“ hege (Modin 1994: 150).

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Einmal bekam Philby von Knightley ein Statement Litzis zu lesen, das sie 1967 gegenüber britischen Journalisten abgegeben hatte: „Soweit ich weiß, abgesehen davon, dass er mich – eine Kommunistin – geheiratet hat, hat Kim an keinen kommunistischen Untergrundaktivitäten teilgenommen, während er in Wien war. Er kannte natürlich einige Kommunisten durch mich. Ich war selber eine – und, wie ich schon sagte, war er sehr progressiv mit ausgesprochen linken Neigungen.“ Tatsächlich war diese Art der Auskunft abgesprochen gewesen, sollte jemand Philbys Jugendjahre recherchieren. „Ja, wir haben es vorausgesehen, dass früher oder später Litzi über meine Zeit in Wien befragt werden würde und wir haben uns darauf vorbereitet. Das ist genau das, worüber wir uns geeinigt haben, das sie sagen würde, und ich bin bewegt, dass sie unsere Abmachung eingehalten hat“, lautete Philbys Fazit (Knightley 1988: 44).

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Die vielen Jahre, die er in Moskau verbrachte, waren von Alkoholismus und Isolation überschattet. Es war ein Schock für Philby, als er entdeckte, dass er keinen KGB-Offiziersrang bekleidete und man ihm auch nicht gestattete, ein offizieller sowjetischer Geheimdienstoffizier zu werden. (Andrew/Mitrochin 2001: 93) Fragen zu seiner persönlichen Verantwortung für die zahlreichen Opfer, die sein Verrat gefordert hatte, wich er stets aus. Gegenüber Eliott hatte er nur gemeint, dass er sich an nichts Spezielles erinnern könne. Falls er dasselbe Leben noch einmal führen könnte, würde er wahrscheinlich alles genauso wieder machen (Macintyre 2025). Dabei hatten weder die OGPU noch der KGB Philby jemals vertraut. Wie denn auch? „Er war psychologisch ein kompletter Offizier des britischen Geheimdiensts. Er sah wie einer aus. Wir dachten, er könnte nie etwas Anderes sein“, so Philbys ehemaliger KGB-Führungsoffizier Modin (Aldrich 2021: 442). Die Cambridge Five hatten zwischen 1935 und 1951 insgesamt rund 20.000 Seiten Dokumente und Berichte beschafft. Das war so viel Material, dass es Moskau gelegentlich schwerfiel, es zu bewältigen (Andrew/Mitrochin 2001: 87). Aber höchstwahrscheinlich hatte diese Ausbeute nie viel gezählt, weil insbesondere der paranoide sowjetische Diktator Stalin hinter dem Agentenring ein perfides britisches Täuschungsmanöver vermutete. Die eigentliche Wirkung sei vielmehr im Westen selbst entfaltet worden – indem etwa die Verratsfälle das anglo-amerikanische Verhältnis belasteten und eine Vertrauenskrise auslösten (Aldrich 2021: 424). Der Präsident des westdeutschen Bundeamts für Verfassungsschutz (BfV) Otto John, der 1954 auf privater Mission in der DDR dort festhalten wurde, gab sogar an, dass ihn der KGB zu Philby verhört habe: Ob dieser nicht in Wirklichkeit ein Doppelagent sei, den man in die Sowjetunion eingeschleust habe? (Pincher 1984: 211)

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Erst in seinen letzten Lebensjahren durfte Philby KGB-Rekruten unterweisen und mithelfen, das sowjetische Hockeyteam zu motivieren. Öffentlich geehrt wurde er aber erst nach seinem Tod am 11. Mai 1988 (Agence France-Presse 2018). Das Pressecho bewog Litzi, an ihre Tochter zu schreiben, dass sie ein von der Sunday Times angebotenes Interview „strikt abgelehnt“ habe. Der „netten Journalistin“ habe sie gesagt, „dass ich seit einigen Jahren in Wien bin, als Pensionistin und mich glücklich fühle und meine Ruhe will“. Sie wisse zwar nicht, ob die Presse irgendwann zu ihr – Barbara Honigmann – kommen werde, aber für diesen Fall bat sie ihre Tochter „nur zu sagen, dass Du zwar weißt, dass ich mit Kim einmal verheiratet war, aber sonst nichts darüber weißt, absolut nichts.“ Das entspreche ja auch der Wahrheit. Litzi schloss mit dem bitteren Nachsatz: „Es bedrückt mich sehr, dass man doch von der Vergangenheit eingeholt wird.“ (Honigmann 2004: 136f.)

8. Resümee

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Was anhand von Litzi Friedmanns Biografie besonders hervortritt, ist, dass Spionage auch eine Frauengeschichte ist. Diese wird aber bis heute kaum erzählt. Laut den Journalisten Maik Baumgartner und Ann-Katrin Müller gibt es nur wenige Bücher oder Dokumentationen über Geheimagentinnen, „nur in Ausnahmefällen kennt man ihre Namen oder die Organisationen, denen sie zum Erfolg verholfen haben.“ Diese Frauen seien „doppelt unsichtbar“ (Baumgartner/Katrin-Müller 2022: 11f.).

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Auch wenn Litzi und insbesondere ihre Freundin Tudor-Hart im Vergleich zu anderen Geheimagentinnen zumindest öfters erwähnt wurden, so waren sie doch bislang Randfiguren, während der Fokus der Erzählung ganz dem „Meisterspion“ Philby galt. Dabei kümmerten sich die beiden Frauen um den Alltag des Spionagegeschäfts und stellten als Relais das Funktionieren des Informationssammelns sicher, insbesondere durch Kuriertätigkeit. Aus den neu freigegebenen Geheimdienstunterlagen haben sich neue Hinweise ergeben, wie intensiv und langfristig Litzi diese Aufgabe wahrnahm. Einmal mehr belegt wird der „menschliche Faktor“, sprich die große Bedeutung von Netzwerken und persönlichen Loyalitäten im Spionagegeschäft. Das ist insgesamt eine hilfreiche Ergänzung zur Biografie von Barbara Honigmann, die sich ja ganz bewusst dagegen entschieden hat, eine investigative Abhandlung über das Leben ihrer Mutter zu schreiben. Dennoch markierte Ein Kapitel aus meinem Leben den Beginn einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Litzi Friedmann, die bis dahin allenfalls wie eine Komparsin abgehandelt worden war. Honigmanns subjektiver wie einfühlsamer Blick hat Litzi Friedmann zum ersten Mal kenntlich gemacht. Und es ist auch nicht zuletzt eine ernstzunehmende Warnung davor, Komplexitäten auf der Basis von begrenztem dokumentarischen Wissen herunterzubrechen.

Literaturverzeichnis

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    Archivquellen
  • Bundesarchiv (BArch)
  • Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW)
  • The National Archives (TNA)
  • Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (ÖStA/AdR)
  • Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA)
  • Zentrales Parteiarchiv (ZPA) der KPÖ
  • Interview Autor mit Kitty Schmidt, 13.3.2025

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Thomas Riegler

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