For this publication, a Creative Commons Attribution 4.0 International license has been granted by the author(s), who retain full copyright.
born digital
Während der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs hatte Max Frisch das in der
Schweiz verbreitete intellektuelle Selbstverständnis des verschonten, aber gefesselten Betrachters
geteilt, der sich auf die
Orientierung an zeitlosen humanistischen Werten zurückzog. Nach dem Kriegsende
jedoch war er angesichts der nun empfundenen Irrelevanz der
Schweizer Existenz
einem besonderen Legitimationsdruck ausgesetzt,
zugleich sah er es nachgerade als seine Pflicht, im zerstörten Europa
herumzureisen, zu schauen, zu fragen, zu berichten. Jetzt
ist Sehenszeit
, war Frischs Selbstapell, und Graphomanie
seine Selbstdiagnose.
Diary 1946–1949and its genesis from notebooks
captivated observerwho retreated into orienting himself towards timeless humanistic values. After the end of the war, however, when confronted with a new sense of the
irrelevance of Swiss existence, he felt a pronounced need to justify himself; at the same time, he practically felt it to be his duty to travel across devastated Europe, to see, to ask, to report.
Now it’s seeing time, was Frisch’s appeal to himself, and
graphomaniahis self-diagnosis.
Im Herbst 1950 erschien als eines der ersten Bücher im neu gegründeten Verlag Suhrkamp Max Frischs
Ich danke Tobias Amslinger, dem Leiter des Max Frisch-Archivs an der ETH Zürich, für den Zugang zu den Notizheften von Max Frisch und zu seiner Korrespondenz mit seinen Verlegern Martin Hürlimann und Peter Suhrkamp, wie auch für die erhellenden Gespräche sowie der Max Frisch-Stiftung für die Genehmigung der Zitate und Abbildungen aus unpublizierten Texten Max Frischs.
Das TAGEBUCH ist in der Bindung, d.h. die Bogen sind gefalzt; der Schutzumschlagentwurf ging Ihnen zu. Nun scheint, daß ich alles widerrufen muß. Ich beschäftigte mich seit längerem mit einem Waschzetteltext für diesen mir besonders erscheinenden Fall. Darüber habe ich einen Schrecken bekommen wegen des Titels des Buches. Ich entdeckte mich bei dem ununterbrochenen Versuch, den Titel TAGEBUCH zu rechtfertigen. Zit. n. Bürger 2011: 43
Er schlägt als Alternativen die Titel Die entstellte
Strasse
, Zwischen zwei Welten
oder Feuer und Rose
vor, wäre allenfalls bereit, Tagebuch 1946–1949
als Untertitel zu belassen, obwohl
er es am liebsten ganz wegließe.
Nun war es ja keineswegs so, dass damals keine Tagebücher publiziert und gelesen wurden – im Gegenteil: Die Nachkriegsjahre brachten gewichtige Tagebuch-Publikationen, allen voran das Tagebuch der Anne Frank, das – 1947 in den Niederlanden erstmals veröffentlicht – 1950 in deutscher Übersetzung erschien. 1946 kam der zweite Band von André Gides
Gerade der Kontrast zu diesen Tagebuch-Publikationen war der Grund für Suhrkamps Zögern:
Erstens interessiert den Leser das Tagebuch von André Gide [...]; aber Sie sind noch nicht so bekannt, daß man das bei Ihnen auch voraussetzen könnte. Anders ausgedrückt käme in diesem Titel also eine persönliche Arroganz zum Ausdruck, die gewiß nicht beabsichtigt ist.
Und dann: Ein TAGEBUCH 1946–49 enthält für den heutigen deutschen Leser ohne Nachprüfung das, was er gerade nicht mehr lesen will. Ebd.
Dass Suhrkamp nicht auf der Titeländerung beharrte, zeugt von seinem verlegerischen Mut, der auch belohnt wurde – Frisch wurde zum ersten Zugpferd der Nachkriegsliteratur bei Suhrkamp. Frisch ist zwar 1950 kein ganz unbekannter mehr – er hat mit seinen Theaterstücken einiges Aufsehen erregt und Polemiken ausgelöst –, aber er ist ein Nachwuchsautor. Und vor allem – was Suhrkamp nicht ausspricht: Er ist Schweizer. Was will ein deutscher Leser in den schwierigen Nachkriegsjahren mit einem Schweizer Tagebuch? Es ist weder das Tagebuch eines Opfers noch das eines Frontsoldaten, sondern das Tagebuch, wenn man so will und wie man so wollte, eines Zuschauers. In der Ausgabe vom 7. Oktober 1953 des Magazins
Logenplatz im Welttheater. Schweizer in dieser Zeit – Max Frischvgl. Amrein 2013: 59.
In der Tat: Selten waren im deutschen Sprachraum die Voraussetzungen des Schreibens politisch so disparat wie um 1945: Exilautoren, innere Emigranten, die deutsche und österreichische Soldatengeneration und die durch die Neutralitätspolitik, die wirtschaftliche Kollaboration und die Willkür von Hitlers strategischen Entscheidungen vom Krieg verschonten, somit außenstehenden Schweizer hatten kaum eine gemeinsame Verständigungsbasis. Gegenseitige Vorwürfe waren an der Tagesordnung: Die inneren Emigranten warfen den realen Emigranten geistige Fahnenflucht vor, umgekehrt fiel der Vorwurf der Kollaboration und des Opportunismus, den Schweizern, wo sie sich meldeten, wurde ihr Luxus-Status vorgeworfen und damit das Recht abgesprochen, über die Geschichte, die sie nicht erlebt hatten, zu schreiben. Diese Positionen, insbesondere das Außenstehen bzw. -sitzen der Schweizer, sind auch im
Teegespräch mit einer braunen DameFrisch 1976b: 704 wieder:
Die Schweiz hat doch nichts gelitten!–Nein, sage ich. –Hätte Ihrer Schweiz aber ganz gut getan, sagt die Dame:gerade der Schweiz! Leiden ist gesund, wissen Sie –.Wir sitzen in einem gar tadellosen Garten, der in den guten dreißiger Jahren, wie ich später höre, manche Uniformen empfangen hat, hohe und höchste, braune und schwarze; die Aussicht ist herrlich; nur ganz am Horizont sieht man die Baracken der schlesischen Flüchtlinge, dieser Opfer eines verbrecherischen Auslandes. Ebd.: 703
Diese Passage ist charakteristisch für die Thematik wie für den Stil von Frischs
gar tadellosen Garten, den
guten dreißiger Jahrenoder der
herrlichenAussicht und dem
verbrecherischen Auslandsignalisiert.
Miniaturen dieser Art prägen das Tagebuch, und sie sind in ihren historisch-politischen Perspektivierungen vielseitig – Schweizer Selbstzufriedenheit und moralische Überheblichkeit werden im gleichen Maße aufs Korn genommen wie deutsche Unverbesserlichkeit oder die Ignoranz polnischer Patrioten in Wroczlav/Breslau.
Während des Zweiten Weltkrieges hatte Max Frisch schon einmal ein Tagebuch veröffentlicht, 1940 die
gefesselten Betrachters(Frisch 1990: 104; vgl. dazu Utz 2010 sowie Utz 2013: 104ff.) des Kriegsgeschehens,
inmitten eines Leichenfeldes, am Rande einer Folterkammer, (Frisch 1976a: 286; vgl. dazu Amrein 2013: 47ff.) geteilt. Doch das
Schweizer Standpunktin Bewegung. Was manche Leser und Kritiker dabei als Anmaßung empfanden: Frisch, der verschonte Schweizer, schreibt in der Folge seine eigene
Eine wichtige Etappe besteht dabei in dem, was man als Berührung mit der Realität
bezeichnen könnte und wofür vor allem die
Texte der Jahre 1945 bis 1947 wesentlich waren. Sie markieren den Wechsel von
der Zuschauer- zur Besucherperspektive.
Bezeichnend und wegweisend schon ein aus dem Nachlass publiziertes Manuskript aus den letzten Kriegstagen:
Frisch schildert darin zunächst den Blick mit dem Fernrohr über die Grenze, die Beobachtung und später die Begegnungen mit Soldaten und Strafgefangenen der deutschen Wehrmacht während des Grenzdienstes, in der Auflösungsphase des dritten Reiches. Der Text endet mit einem Kommentar zur Zeitungslektüre:
Buchenwald bei Weimar, ich sehe nicht ein, wie unsereiner, wenn es uns nicht einfach an Vorstellung fehlt, mit diesen Nachrichten fertig werden soll. Immer endet es in der einzigen, aber hilflosen Gewißheit, daß uns kein Denken, das um diese Dinge herumgeht, wirklich weiterführen kann. Frisch 1998: 19
Für Weidermann ist es der Schock dieser Nachrichten und Augenzeugenberichte, der Max Frischs Neuerfindung als Autor initiiert. Während im Text
Frisch, der sich nach dem Kriegsende angesichts der von ihm thematisierten Irrelevanz der Schweizer Existenz (vgl. den Brief an Annemarie und Peter Suhrkamp vom 2. Juni 1948, abgedruckt in Frisch 1998: 48) einem besonderen Legitimationsdruck ausgesetzt sah, verstand es zugleich als seine Pflicht, im zerstörten Europa umherzureisen, zu schauen, zu fragen, zu berichten, Anteil zu nehmen. Im November 1946 notiert er bei einem seiner ersten Besuche in Deutschland in ein Notizheft:
Frankfurt, 21.11.46.
Der erste Abend in den Straßen, die mir nun schon ziemlich vertraut sind. […] [V]ielleicht geniesse ich es, in einem fremden Lande umherzugehen, dessen Sprache mir nicht fremd ist; sie geht mir langsam und nicht leicht von der Zunge, aber es ist die Sprache meines Denkens und Empfindens, kein Übersetzen aus der Mundart […]. Gemeinsamer Abend. Am andern Morgen, wie ich am offnen Fenster stehe und auf den Main schaue […], frage ich mich einmal mehr mit sachlichen Erwägungen, ob es nicht richtiger wäre, in Deutschland zu leben. Ich glaube, daß ich hier nicht fremder wäre als in Zürich, nicht einsamer; bei allem Befremden, womit mich das deutsche Volk oft erfüllt, bin ich gerne in Deutschland. Von den Menschen, denen ich mich vertraut fühle, sind die meisten Deutsche. Max Frisch-Archiv, Heft A-N-48
Der Wechsel vom Zuschauer- zum Besucherstatus wird zum Katalysator von Welthaltigkeit und zugleich literarischer Qualität, die mit der Konkretheit der tagebuchartig notierten Beobachtungen und Reflexionen zusammenhängt.
Jetzt ist Sehenszeit
(Frisch 1976b:
711; vgl. auch das Nachwort von
Julian Schütt in Frisch 1998: 215–221, insbes. S. 215) ist 1949
Frischs programmatischer Selbstappell, Gegenwärtigkeit und offene Sinne sind
gefragt. Doch geht es Frisch dabei um alles andere als um einen platten
dokumentarischen Realismus. Das Ich habe
keine Sprache für die Wirklichkeit
, wird es in einem Schlüsselsatz
des Romans
Jetzt bin ich da, empfinde es einmal mehr als meine Aufgabe, das Hier zu sehen und das Dort zu wissen, immer beides zusammen; als eine überall gleiche Aufgabe.Frisch 1976b: 605 Das
Hierund das
Dortbezeichnet eine intellektuell-imaginative Zusammenschau, eine Synopse, ein Wissen über die Zusammenhänge der Ereignisse. Es kann zugleich kausal und in chronologischem Sinne verstanden werden: Wrozlaw und das Warschauer Ghetto.
Nicht um
Das Hier und das Dort zusammendenken
– dies wird Frisch durch seine zahlreichen Reisen möglich. Man kann die Position
des Erzähl- und Reflexionssubjekts im Verhältnis zum geographischen Raum und zur
Zeit im
Café de la Terrasse(7x 1946/47), zeitlich abgelöst vom
Café Odeon(9x 1947–49), oder Frischs Architekten-Baustelle
Letzigraben(11x), weiter die Kapitel
Unterwegs(8x). Es mutet an wie Erkundungsgänge aus einer Höhle heraus nach allen Himmelsrichtungen, die der Tagebuch-Autor unternimmt, um allmählich ein Bild vom umgebenden sozial- und polit-geographischen Raum zu gewinnen. Was konstant bleibt, ist die subjektive Perspektive. Doch sie erweitert sich im
Dabei wird nicht nur das Ausmaß der Vernichtung, der Zerstörung und der moralischen Zerrüttung wahrgenommen und vor Augen geführt, sondern auch die aktuelle politische Entwicklung mit den ost-westlichen Einflusszonen scharf beobachtet, etwa in den Wandlungen in Prag, die bei verschiedenen Besuchen den Weg zurück zur Diktatur, diesmal der sozialistischen, anzeigen, oder bei den Begegnungen anlässlich des Friedenskongresses in Warschau, die die ideologische Verhärtung im Zeichen des Kalten Krieges augenscheinlich machen.
Tagebuchals literarische Form
Wie kommt Frisch überhaupt zur literarischen Form des Tagebuchs? Er nennt, im Rückblick, zunächst einen pragmatischen Grund:
Das literarische Tagebuch habe ich zu einer Zeit angefangen, als ich hauptberuflich nicht Schriftsteller war, sondern Architekt. Ich hatte ein Büro, ich hatte wenig Zeit. Ich konnte literarische Entwürfe gar nicht ausführen. Ich wollte sie aber nicht verlieren und habe sie da in Skizzenform festgehalten, sie auch datiert. Frisch 1972/2009: 20
Graphomanie
zit. nach Schütt 2011: 344 nannte er es
selbstdiagnostisch: Er konnte damals nicht spazieren und reisen, ohne sich
Notizen zu machen. Sein Nachlass im Max Frisch Archiv (ETH Zürich) birgt rund
130 Notizhefte – meist im Format A6 – aus den Jahren 1943 bis 1952, und
vermutlich wurden viele weitere von Frisch nach ihrer Auswertung weggeworfen.
Diese Notizhefte enthalten aber alles andere als kleine Feierabendnotizen. Es
gibt denn auch relevantere poetologische Gründe für diese Form der
Aufzeichnungen als das genannte pragmatische Argument:
In einem der Notizhefte (A-N-85) findet sich folgender Eintrag:
Die Zeit:
SieEine [sic] Gedanke, der bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da man ihn denkt, wird morgen und übermorgen keine höhere Wahrheit haben, nur eine andere; wir schreiben auf ein laufendes Band, und es gibt keine Hoffnung, dass man etwas nachholenkönnteund <einen Augenblick unseres Lebens> verbessern könnte – // Sinn eines Tagebuches: Man bekennt sich zu seinen Irrtümern, man speichert sie nichtimauf, bis sie jedes Weiterdenken verstopfen u. verpesten; man rechnet nicht mit Hoffnungen; manist, was man ist; –
Man hält nur die Feder <hin>, und wir schreibennicht die Wahrheit; Wörter, die nie die Wahrheit sind<nicht, sondern wir werden geschrieben; Schreiben heißt: sich selber lesen> ;usw.
Das erfährt noch einige Bearbeitung, bevor es ins
Diese wichtige Reflexion wurde auch schon als Frischs eigentliches literarisches Manifest
Kieser 1987: 18 bezeichnet. Es ist das Bekenntnis zu einem – so die
Endfassung – Denken, das bestenfalls für
den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet
nicht mit der Hoffnung, daß man übermorgen, wenn man das Gegenteil denkt,
klüger sei. Man ist, was man ist. Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in
der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern
wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.
Frisch 1976b: 361.
Eigentlich sind nicht wir es, die
schreiben, sondern wir werden geschrieben
: Subjektivität ist hier im
doppelten Sinne des aktiven individuellen Reflexionspunkts und des sub-iectum,
des Unterworfenen, ins Bild gebracht: Es ist eine Subjektivität die sich zum
einen in Gesprächen und Reisen, Selbstreflexionen und fiktionalen Zerrspiegeln
entwirft, zum andern ungeschützt und offen den Eindrücken aussetzt und
unterwirft.Das Ich ist […] das
Kristallisationszentrum eines sich ständig verändernden Bewußtseins:
sein Name sei Frisch. Insofern das literarische Tagebuch zwar
Zeugnis sein will, aber keinesfalls Bekenntnis, entspricht es aus
einigem Abstand dem Begriff des Psychogramms.
Kieser 1987: 21Ich bin auf Erfahrungen angewiesen, die mich begrifflich hilflos machen und
von daher narrativ
, wird er noch in seinem letzten, nachgelassenen
literarischen Tagebuch in den 1980er Jahren schreiben (Frisch 2010: 176;
vgl. auch das Nachwort in Frisch 2010:
191).
Das Schreiben nach 1945 ist ein Schreiben auf unsicherem Grund – Ewigkeitswerte sind durch das Tausendjährige Reich zur Genüge diskreditiert, Frisch hütet sich vor großen Parolen und Ansprüchen. Behutsamkeit, Vorläufigkeit ist angesagt. Die Wahl der Tagebuch-Form ist die bewusste Entscheidung für eine offene Form in einer bestimmten historischen Schreibsituation: Frisch erwähnt im
Brief eines Freundes, der die Frage stellt, ob es zur Aufgabe irgendeiner künstlerischen Arbeit gehören könne,
sich einzulassen in die Forderungen des TagesFrisch 1976b: 443. Während diese
Forderungen des Tages(übrigens ein Goethe-Wort, das Thomas Mann wieder aufnahm) zwar zur bürgerlichen und menschlichen Aufgabe gehörten, müsse sich das Kunstwerk darüber erheben. Für Frisch ist es angesichts von Figuren wie dem musizierenden Mozart-Liebhaber und Organisator der Judenvernichtung Reinhard Heydrich, angesichts einer
Kunst, die das Höchste vorgibt und das Niederste duldet,
fraglich, ob sich die künstlerische und die menschliche Aufgabe trennen lassen. Zeichen eines Geistes, wie wir ihn brauchen, ist nicht in erster Linie irgendein Talent, das eine Zugabe darstellt, sondern die Verantwortung.Frisch 1976b: 444f Die Frage des Könnens verbindet sich für Frisch mit der des Dürfens,
die handwerkliche Sorge verschwindet hinter der sittlichen, deren Verbindung wahrscheinlich das Künstlerische ergibt, – es geht um eine Antwort auf das Versagen der politischen Doktrinen wie der abendländischen Kultur und Bildung, auf die gerade Deutschland so stolz war – und zu dieser Zeit immer noch ist, wie die Feiern zum 200. Geburtstag Goethes im Jahr 1949 zeigen.
Nicht nur im temporalen Anspruch, auch formal werden tradierte ästhetische Normen
fragwürdig: Die Haltung der meisten
Zeitgenossen […] glaube ich, ist die Frage, und ihre Form, solange eine
ganze Antwort fehlt, kann nur vorläufig sein; für sie ist vielleicht das
einzige Gesicht, das sich mit Anstand tragen lässt, wirklich das
Fragment.
Frisch 1976b: 451 Das
Sammlung von Fragmenten, die zwar im einzelnen isoliert erscheinen, im Ganzen aber doch prononciert das Abbild eines Denkprozesses in seiner individuellen Struktur ergeben.Kieser 1987: 25
Was bedeutet hier die Zur innovativen Bedeutung der Tagebuchform als einer von einer Poetik kaum regulierten
Gattung
für Frisch vgl. Wagner 2012:
256.
So hat das Tagebuch
im Sinne Frischs letztlich wenig mit
den protokollarischen privaten Aufzeichnungen zu tun, die wir gemeinhin als
streng gefügte Komposition
von Matt 2010: 185. Frisch legt Wert darauf, dass sein Werk nicht
einfach willkürlich und punktuell gelesen werde: Der Zeitverlauf und zugleich
Textverlauf ist ihm wesentlich nicht als autobiographische Erlebnis-, sondern
als literarische Bedeutungsdimension. Er stellt der Publikation eine mit
Weihnachten 1949 datierte Bemerkung
Der verehrte Leser – einmal angenommen, daß es ihn gibt, daß jemand ein Interesse hat, diesen Aufzeichnungen und Skizzen eines jüngeren Zeitgenossen zu folgen, dessen Schreibrecht niemals in seiner Person, nur in seiner Zeitgenossenschaft begründet sein kann, vielleicht auch in seiner besonderen Lage als Verschonter, der außerhalb der nationalen Lager steht – der Leser täte diesem Buch einen großen Gefallen, wenn er, nicht nach Laune und Zufall hin und her blätternd, die zusammensetzende Folge achtete; die einzelnen Steine eines Mosaiks, und als solches ist dieses Buch zumindest gewollt, können sich allein kaum verantworten. Frisch 1976b: 351
Die Form, die Frisch anstrebt: zum einen in sich gestaltete Einzelelemente – der
einzelne Mosaikstein, an dem gehauen und geschliffen wird, bis er seine
ästhetisch verknappte Form gefunden hat –, zum andern Korrespondenz der Teile in
der Gesamtkomposition. Im letzten Tagebuch tritt an Stelle des Mosaiks die Beobachtung, wie ein
Handwerker sorgsam eine Trockenmauer baut, Stein für Stein betrachtet,
behaut, einfügt – auch dieses Bild wird zum Spiegel dessen, was Frischs
Verständnis der Kompositionsform des literarischen In beiden Bildern (Mosaik und Steinmauer) ist bemerkenswert, dass im Bild
– entgegen den Implikationen der Gattung – die Kategorie der Zeit
wegfällt – historische Zeit, erlebte Zeit, geschriebene Zeit,
Schreibzeit, die ebenso unerlässlich zum diaristischen Schreiben Frischs
gehören.Tagebuchs
ausmacht. Frisch 2010: 25Jeder Text muß in sich vollkommen
sein, geschlossen in einem klassischen Sinn, genau dadurch aber kann
er nun auch mit andern Texten in einen Bezug gegenseitiger
Spiegelung treten. Nur indem er auf kleinstem Raum ein Ganzes
bildet, gewinnt er die Möglichkeit, Teil einer größeren Kette zu
werden. Beides will daher studiert sein, die Ästhetik des einzelnen
Prosastücks und die Ästhetik der Korrespondenz jener Aufzeichnungen,
die zusammen einen leidenschaftlichen Denkweg verfolgen.
Matt 2010: 186
das
Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten
. Die Aussagen umkreisen das
Wesentliche, das sich dem sprachlichen Ausdruck entzieht: Das Unsagbare erscheint bestenfalls als
Spannung zwischen diesen Aussagen.
Frisch 1976b: 378f Damit grenzt sich Frisch auch klar
vom Aphorismus ab, der die Wahrheit auf den Punkt bringt, bzw. suggeriert,
diesen Anspruch erfüllen zu können.
Un journal […] n’a pas d’avant-texte
Lejeune 1992: 81, ein Tagebuch kennt keine Entwürfe
und Vorstufen, schreibt Philippe Lejeune: Genau dies trifft jedoch für Frischs
Es würde sich lohnen, die Entwicklung der Texte von den Notizheften zum publizierten Text im Detail zu betrachten (vgl. dazu ansatzweise Bürger 2011). Ich will mich hier auf exemplarische Hinweise zu zwei Deutschlandbesuchen bzw. zu zwei Aspekten der Textgenese beschränken. Eine Publikation der Notizhefte Max Frischs ist für die weitere Erforschung dieser Zusammenhänge wünschenswert.
Eine Tendenz der Textgenese besteht, wie erwähnt, darin, zu streichen, zu
kürzen, zu verknappen. Dies geschieht, so Peter von Matt, im Hinblick auf
ein Gefälle auf ein Ende hin, das
gleichzeitig abschließt und öffnet
Matt 2010: 186 –
es eröffnet Fragen, im Zeichen einer stilistischen Strategie eines Verschweigens, das dringlicher anmutet
als jede Aussage.
von Matt 2010: 188
Der Münchener Aufenthalt vom April 1946, bei dem Frisch das ganze Ausmaß der Zerstörung durch die Bombardierungen sehen konnte, findet seinen schriftlichen bzw. literarischen Niederschlag in verschiedenen Etappen:
Zuerst sind es die ausführlichen, tagebuchartigen Einträge im Notizheft A–N_110, vermutlich direkt während der Reise niedergeschrieben – es ist Frischs erste Reise nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg:
9.4. Ab St. Margarethen: 19.50
[…]
Alleen, Bäume im Scheinwerfer; viel freies Feld, Dörfer: sauber, schön, dann u. wann ein Städtlein. Im Scheinwerfer erscheinen Paare, Uniformen mit Mädchen, auch andere. Mitternacht: Einfahrt in München, Straßenlampen, die Fahrbahn breit und sauber, ich hebe den Verschlag u. sehe die ersten Ruinen, Gestein mit Bögen, mit schwarzen Fenstern, dann wieder eine Lücke, nichts als aufgeräumtes Feld, u. die Straße läuft breit u. städtische [sic] durch nächtliches Nichts, man denkt an Pompey – nur daß die Drähte der Straßenbahn da sind u. plötzlich wieder Häuser, Stadt der Menschen, ein erleuchtetes Fenster, zwei oder drei, das gelb-warme Stubenlicht [?] von Sekunden, die, so möchte man meinen, in einem Hexentraum nicht bemerkt haben, daß ein Jahrhundert vergangen ist, daß es unsere Zeit nicht mehr gibt, daß alles zer bröckelt [sic] u. versch[ü]ttet ist. Max Frisch-Archiv, Notizheft A-N-110
Und so geht es in atemloser parataktischer Reihung über viele Seiten weiter: Frisch geht ganz auf im Betrachten, Beobachten, Schildern, er sucht auch das Gespräch mit den Bewohnern Münchens und mit den amerikanischen Soldaten.
Diese Notizen werden in bereinigter Form in einen Text eingebracht, der schon zwei Monate nach der Reise, im Juni 1946, in der
Die Beobachtungen sind nun begleitet von Reflexionen über die moralischen und
politischen Implikationen: Vorherrschend ist die Ernüchterung, dass die
Niederlage und das Kriegselend bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung
kaum zu einer menschlichen Reife
und zur Einsicht
geführt habe.
Daß es Elend ohne sittlichen Ertrag gibt, Elend, das sich auch im Geist und in der Seele nicht lohnt, eben darin besteht ja das eigentliche Elend, das uferlos ist, hoffnungslos, tierisch und nichts als dies, und jede Verbeugung davor wirkt schamlos, eine Weihung der Bomben, eine Ehrfurcht atavistischer Art, die immer noch auf eine Vergötzung des Krieges hinausläuft […]. Zit. nach Frisch 1998: 25
Und weiter:
Solange dieses [Elend] sie beherrscht, wie sollen sie zur Erkenntnis jenes anderen Elendes kommen, das Deutsche über die Welt gebracht haben? […] Auch das Elend wird mancherorts als Zeichen genommen, daß man ein auserwähltes Volk ist […]. Frisch 1998: 34f
Im Jahr 1947 erscheint das
In diesen beiden publizierten Tagebüchern sind die Eindrücke wie die Reflexion über Elend und Selbsterkenntnis verdichtet. Dies ist zum einen dem poetischen Prinzip der Reduktion und Konzentration geschuldet. Zum andern aber geht es um die angestrebten Leserinnen und Leser: Während die Publikation in der
wirmeint denn auch die Schweizer Bürger –, liegt Frisch beim
Frisch verfolgt mit seinem
Wenn wir die Notizheft-Einträge zum Aufenthalt in Berlin im November 1947 mit den Einträgen im publizierten Tagebuch vergleichen, so fällt eines auf:
Das ganze Heft Nr. 94, beschriftet Max Frisch / Zürich / Berlin (Nov. 47)
Max Frisch-Archiv, Heft A-N-94 bezeugt vor allem
die leidenschaftliche Lust an der Affäre mit einer ihm bis dahin unbekannten
Frau namens Margot Schaake in Berlin vgl. Schütt 2011: 381f. Gleich nach der Ankunft in
Berlin begegnet ihr Frisch, und nach der ersten Liebesnacht notiert er:
Heute sie wiedergetroffen: sie
ist so, und was gewesen ist, bleibt bei hellichtem Tage – und nun ist
alles so zaubervoll
Max Frisch-Archiv, Heft A-N-94. – und es folgen
zehn Seiten zu diesem Liebesglück. Bald darauf heißt es, nach einer
Beschreibung der immer noch von Zerstörungen gezeichneten Stadt: Ich sehe das Elend; aber ich bin
glücklich; ohne eigentliche Hoffnung; ganz Augenblick –.
Max Frisch-Archiv, Heft A-N-94
Im
Was man die Untreue nennt: unser Versuch, einmal aus dem eigenen Gesicht herauszutreten, unsere verzweifelte Hoffnung gegen das Endgültige.Frisch 1976b: 496
Für die Aussparung im Tagebuch gibt es natürlich banale Gründe – die Rücksichtnahme gegenüber seiner Noch-Ehefrau Trudy Frisch-von Meyenburg, der das
Das diaristische Erzählen
geschieht in der Ich-Form. Es ist ein Ich, das Frisch zwar beim
Namen nennt und das dennoch nicht den Schlüssel zum Privaten
liefert, weil es lediglich ein Kürzel für das Bewusstsein des
Autors gleichen Namens darstellt.
(Kieser 1978: 28; vgl. auch Kieser 1975).
Neben der Verdichtung der Beobachtungen und Notizen und der Fokussierung auf das Zielpublikum gehört also zu den Stilisierungsakten des
Allerdings geht es dabei nicht um eine grundsätzliche Scheidung von
Literarischem und Nicht-Literarischem – zumal in den Notizheften auch
Ansätze zu einer Fiktionalisierung dieser Berliner Liebesbeziehung zu finden
sind. Frischs geradezu euphorischer Aufbruch in den Nachkriegsjahren hängt
nicht zuletzt mit einer mehrfachen Öffnung zusammen – Öffnung nach Europa
auf Reisen, auf denen er die Eindrücke aufsaugt, Öffnung aber auch des
Gefängnisses seiner Ehe: All seine Reisen sind mit Liebschaften verbunden –
Frisch erlebt das Sich-Verlieben als Feier des Lebens, als wilde Passion für das erfüllte Dasein
von Matt 2010: 193. Die erotische Spannung gehört
also durchaus zur literarischen Inspirationssphäre Frischs, und in anderen
Texten wie
Das Tagebuch, als literarische Form auf die Öffentlichkeit hin geschrieben, ist
für Frisch zunächst die Antwort auf die Forderungen des Tages
in der besonderen historischen und
kulturpolitischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und eine pragmatische
Anpassung an die Schreibsituation als hauptberuflicher Architekt. Doch was sich
hier erstmals entwickelt, wird für Frisch zu einer zentralen literarischen Form
seines Schreibens – gleichwertig wie die Romane und Theaterstücke, ja diese
mitprägend. Diaristische Darstellungsformen finden sich vielfach in Frischs
fiktionalem Werk, allen voran im Roman
Das diaristische Erzählprinzip, so wie es Frisch theoretisch und praktisch für sich erarbeitet hat, reiht sich unter die modernen Erzählformen der Weltliteratur ein. Dass es als Theorem, das quer durch die herkömmlichen Gattungslehren geht, das gesamte literarische Denken und Schaffen Frischs entscheidend beeinflusst hat, lässt sich anhand der epischen und dramatischen Werke der Reifeperiode, aber auch in Frischs theoretischen Schriften zur Literatur deutlich nachweisen. Kieser 1987: 31f.
Ich bin hier, ich bin in New York, ich bin in Moskau usw., also die Person Frisch, und ich schreibe da und dort dies und das, d.h. indem ich die Subjektivität des Standortes mit einbeziehe, wird das, was ich zu melden habe, objektiver, indem es sich nicht objektiv und absolut gibt. […] Und das Tagebuch war nun eine Möglichkeit, die Fiktion stehen zu lassen, aber sie abzusichern durch den Widerspruch Realität/Faktum und Fiktion. Arnold 1975: 41f.
Das Gespräch wurde vom 24. bis 27. November 1974 in Zürich geführt.
So gibt es insgesamt fünf literarische Tagebücher Frischs, drei davon zu Lebzeiten publiziert: von den bereits erwähnten
Die
Im Grunde ist alles, was wir in diesen Tagen aufschreiben, nichts als eine verzweifelte Notwehr, die immerfort auf Kosten der Wahrhaftigkeit geht, unweigerlich; denn wer im letzten Grunde wahrhaftig bliebe, käme nicht mehr zurück, wenn er das Chaos betritt – oder er müsste es verwandelt haben. (Frisch 2008: 21; vgl. die Nachweise der zahlreichen Zitate aus dem Tagebuch 1946–1949 ebd., S. 76)
Im Anschluss an eines dieser Zitate kommentiert er in der Vorlesung von 1981:
Wenn diese paar Sätze nicht geschrieben
worden wären, so dass man sie mir vorlesen kann vor Gericht, so könnte ich
schwören, dass ich das soeben gedacht habe, und dabei sind diese Wörter
genau zweiunddreißig Jahre alt.
Frisch 2008: 27
Wir stehen da, gefesselte Betrachter
die zusammensetzende Folge