Die historische Wiener
Zeitung und ihre Sterbelisten als Fundament einer Vienna Time
MachineDigitale Ansätze zur automatischen Identifikation
von ToponymenClaudiaReschÖsterreichische Akademie der Wissenschaften, Austrian Centre for
Digital Humanities and Cultural HeritageNina C.RastingerÖsterreichische Akademie der Wissenschaften, Austrian Centre for
Digital Humanities and Cultural HeritageThomasKirchmairÖsterreichische Akademie der Wissenschaften, Austrian Centre for
Digital Humanities and Cultural HeritageWiener Digitale Revue2022
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Wiener ZeitungSterbelistenToponymeGeoreferenzierungWiener ZeitungnecrologiestoponymsgeoreferencingConverted from a Word documentLaura TezarekEncodingLaura Tezarek
Im Kontext des Schwerpunktes zu ‚Wiener Pulp‘ bildet der Beitrag von Claudia
Resch, Nina C. Rastinger und Thomas Kirchmair zur
Wiener Zeitung
gewissermaßen einen Kontrapunkt: Denn die Papierbögen, auf welchen das
Periodikum im 18. Jahrhundert gedruckt wurde, waren von guter Qualität und auch
die verbreiteten Inhalte hatten mit Sensations- oder Boulevardpresse wenig
gemein: Wie andere Zeitungsgründungen des 18. Jahrhunderts präsentierte sich
auch die 1703 als Wien[n]erisches Diarium gegründete Zeitung von
Beginn an als Leitmedium und ernst zu nehmende Nachrichtenquelle. Damit
distanzierte sie sich ganz deutlich von diversen anderen Produkten der
tagesaktuellen (Flug-)Publizistik. Im digitalen Werkstattbericht werden die
Sterbelisten als Ansätze zur automatischen Identifikation von Toponymen
vorgestellt – und als Fundament einer ‚Vienna Time Machine‘.
In the context of the focus on ‘Viennese Pulp’, Claudia Resch, Nina C. Rastinger,
and Thomas Kirchmair’s contribution on the
Wiener Zeitung forms
something of a counterpoint – the sheets the periodical was printed on in the
eighteenth century were good quality, and the contents it disseminated also had
little in common with a sensational yellow press. As other newspaper creations
of the eighteenth century, the paper, founded as Wien[n]erisches
Diarium in 1703, presented itself as a leading medium and serious
source of news from the start, thus clearly distancing itself from a number of
other products of daily (leaflet) journalism. The digital workshop report
presents the necrologies as starting points for an automatic identification of
toponyms – and as a basis for a ‘Vienna Time Machine’.
Mit dem thematischen Fokus dieses Heftes, Wiener Pulp, hat die (historische)
Wiener Zeitung nur am Rande zu tun. Denn die Papierbögen, auf
welchen das Periodikum im 18. Jahrhundert gedruckt wurde, waren von guter
Qualität und auch die verbreiteten Inhalte hatten mit Sensations- oder
Boulevardpresse wenig gemein: Wie andere Zeitungsgründungen des 18. Jahrhunderts
präsentierte sich auch die 1703 als Wien[n]erisches Diarium
gegründete Wiener Zeitung von Beginn an als Leitmedium und ernst
zu nehmende Nachrichtenquelle, deren erster Herausgeber, Johann Baptist
Schönwetter, sich dazu verpflichtet sah, seinen Leser*innen nur die wahrhafftigsten / und allerneuestenn / so schriftlich
als gedruckter allhier einlauffenden Begebenheiten [...] der blossen
Wahrheit derer einkommenden Berichten gemäß zu offerieren (WD 08.08.1703: 2
Im Folgenden werden Belegstellen aus dem
Wien[n]erischen Diarium (WD) beziehungsweise der Wiener
Zeitung (WZ) mit ihrem Erscheinungsdatums und der jeweiligen
Seitenzahl versehen.).
Mit dieser, in der allerersten Ausgabe veröffentlichten Ankündigung distanzierte
sich das
Diarium von diversen anderen Produkten der
tagesaktuellen (Flug-)Publizistik. Seine Positionierung als informationsbetontes
und faktenorientiertes Periodikum, das die Qualität seiner Quellen reflektierte
(vgl. Resch/Rastinger im Druck) und
als wichtigstes Medium der Monarchie
(Reisner/Schiemer 2016: 91) einen gewissen Geltungsgrad behauptete,
entsprach bereits der allgemeinen Auffassung der Zeitung im 18. Jahrhundert
als öffentlich zugängliche
Informationsquelle (Wille 2020: 51), die vorrangig der
Mitteilung von Fakten diente (vgl. Schröder 2017: 168f.). Ihr Wert lag, wie Böning (2011: 36)
zusammenfasst, für den Leser
Über ‚den Leser‘ des
Wien[n]erischen
Diariums wissen wir nur in Einzelfällen Bescheid, doch
ist anzunehmen, dass es sowohl von den höchsten und hohen Ständen
wie auch von Handwerksleuten und Bediensteten rezipiert wurde, oft
auch regelmäßig in Form von Abonnements. Weiterführend zur
Leserschaft vgl. Mader-Kratky/Resch/Scheutz 2019: 100–105. im
Normalfall in der gründlichen, umfassenden und aktuellen Unterrichtung über
das Zeitgeschehen. Dass die einzelnen
Diarium-Ausgaben auch über die Tagesaktualität hinaus
chronikalischen Wert besaßen, zeigt sich an den bis heute nahezu lückenlos
erhaltenen Beständen, die mitunter (halb-)jährlich gebunden wurden, wie in Abbildung 1 zu sehen.
Heute ist die
Wiener Zeitung mit einer mehr als 300-jährigen
Geschichte die angeblich älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt. In
ihrem Geschichtsfeuilleton unternimmt sie mit den Leser*innen regelmäßig
‚Zeitreisen‘
Die Beilage ‚Zeitreisen‘ erscheint
einmal monatlich und beleuchtet und kommentiert Nachrichten aus
historischen Ausgaben der vergangenen drei Jahrhunderte, vgl. www.wienerzeitung.at/unternehmen/geschichte/2001548-Zeitreisen.html,
Zugriff am 22.2.2022.
und wirft dabei einen Blick in die eigene publizistische Vergangenheit.
Diesen Wunsch, in vergangene Zeiten zu reisen, teilt sie mit der europäischen
Initiative ‚Time Machine‘. Sie hat das
Ziel, historische Daten mittels moderner digitaler Ansätze zu vernetzen und so
ein kollektives Informationssystem zu entwickeln, das die Entwicklung von
Städten im Lauf der Zeit abbildet. Mehr als 130 lokale Iterationen und
Interpretationen dieses Konzepts sind derzeit europaweit im Aufbau – darunter
auch erste Entwürfe für eine ‚Vienna Time Machine‘: Welche Bedeutung der
Wiener Zeitung und insbesondere deren Sterbelisten in diesem
Kontext zukommt und wie man hierfür die darin (in großer Fülle und Vielfalt)
vorkommenden Toponyme mit anderen für Wien relevanten Daten digital verknüpfen
könnte, ist Thema dieses Beitrags.
1. Digitale Transformation: Vom Diarium zum DIGITARIUM
Das
Wien[n]erische Diarium beziehungsweise die Wiener
Zeitung wird regelmäßig von zahlreichen Disziplinen konsultiert und
zur Recherche genutzt. Unter den zahlreichen Periodika, welche die
Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) beherbergt, ist sie laut eigenen
Angaben mit Sicherheit die am meisten
verwendete Quelle zur jüngeren Geschichte Österreichs (Rachinger
2003: 53). Da an ihrer Nutzung in einer digitalen Umgebung seitens der
Fachdisziplinen seit jeher großes Interesse bestand, war die historische
Wiener Zeitung unter den ersten Periodika, deren Ausgaben und
Mikrofilme gescannt wurden. Sowohl die Bilddigitalisate als auch der mittels
eines Optical Character Recognition (OCR)-Verfahrens generierte Text stehen
Benutzer*innen seither auf dem Portal ANNO –
AustriaN Newspapers Online der ÖNB kostenlos zur Verfügung.
Da sich die Qualität der eingelesenen Frakturschrift mittels herkömmlicher
OCR-Verfahren für zahlreiche Nutzungsszenarien als unzureichend erweist und der
Optimierung bedarf,
Das gilt vor allem für
Frakturdrucke: Forschende setzen bei Volltextabfragen häufig auch dort
eine gewisse Qualität voraus; bei genauerer Betrachtung zeigt sich
allerdings oftmals, dass in Fraktur gedruckte Zeitungstexte bei weitem
nicht das vermutete – und für ihre verlässliche Durchsuchbarkeit
erforderliche – Ideal erreichen (vgl. Resch im Druck).
wurde zwischen 2017 und 2020 an der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften im Rahmen des go!digital-Projekts ‚Das Wien[n]erische Diarium: Digitaler Datenschatz für die
geisteswissenschaftlichen Disziplinen‘ (Leitung: Claudia Resch) ein
neuer Ansatz zur computergestützten Generierung von verlässlichem Volltext
erprobt: Dabei konnte erstmals anhand größerer Textmengen gezeigt werden, dass
sich die auf neuronalen Netzen basierenden Erkennungsverfahren der Software Transkribus nicht nur für
Handschriften eignen, sondern auch auf Frakturdruck angewandt werden können. Das
vom Forschungsteam anhand von 3.000 korrigierten Textseiten trainierte KI-Modell
‚German Fraktur 18th Century – WrDiarium_M9‘ erreicht, sofern es sich
um gute Bildvorlagen handelt, eine Erfolgsquote von weniger als drei
fehlerhaften Zeichen pro 1.000 innerhalb eines Standardabsatzes. Als öffentlich
verfügbares Projektergebnis kann es künftig nicht nur für weitere Ausgaben des
Diariums, sondern auch für andere historische
Zeitungsausgaben nachgenutzt werden beziehungsweise dem Trainieren neuer
Texterkennungsmodelle für Frakturdruck dienen.
Das zweite publizierte Ergebnis des Projektes sind die mit dem Modell generierten
Volltexte selbst, die als TEI-kodierte XML-Dateien in einem prototypischen
Interface ebenfalls zur Nachnutzung bereitstehen: Das sogenannte DIGITARIUM bietet derzeit Zugriff auf mehr
als 300 ausgewählte
Welche Ausgaben einbezogen
werden sollten, wurde durch einen öffentlichen ‚Call for
Nominations‘ ermittelt, der Forschende und Leser*innen der
heutigen
Wiener Zeitung, insbesondere jene des
Geschichtsfeuilletons ‚Zeitreisen‘, dazu aufgerufen
hatte, jene Ausgaben zu nennen, die sie für besonders relevant hielten.
Indem die zahlreichen Rückmeldungen aufgenommen und zeitliche Lücken
durch das Projektteam geschlossen wurden, entstand letztlich eine
strukturierte Sammlung, worin bis auf wenige Ausnahmen jedes
Erscheinungsjahr mit fünf Ausgaben vertreten ist, sodass ein
repräsentativer chronologischer Querschnitt über das Periodikum vorliegt
(vgl. Resch 2018).
Nummern. Damit für User*innen ersichtlich ist, wie viele
Korrekturdurchgänge die einzelnen Ausgaben durchlaufen haben, sind
Qualitätsunterschiede durch die Rahmung der einzelnen Vorschaubilder
gekennzeichnet: Dunkelgrün markierte Ausgaben wurden mehrfach, türkis markierte
Ausgaben zweifach und hellblau gerahmte Ausgaben einmal manuell überprüft; weiß
gekennzeichnet sind schließlich jene Ausgaben, die den automatisch erstellten
Text enthalten und (noch) keinen manuellen Korrekturdurchgang durchlaufen haben.
Dieses abgestufte Farbsystem ist an den von Smith und Cordell (2018: 16) empfohlenen ‚categorial confidence
levels‘ orientiert und wiederholt sich in den Balkendiagrammen, in welchen die
bislang erreichte Qualität der Texte für das gesamte 18. Jahrhundert
visualisiert ist.
Weiters verfügt der DIGITARIUM-Prototyp über eine synoptische Ansicht, sodass
Volltexte und Digitalisate parallel angezeigt und verglichen werden können und
sich Eigenschaften des Schriftbildes, des Schriftschnitts, des Seitenlayouts
oder die für Zeitungen relevante Informationsverteilung in Analysen einbeziehen
lassen. Seit 2020 steht die maschinell generierte, unter hohem Zeitaufwand
manuell bestmöglich verbesserte textuelle Basis im Umfang von mehr als drei
Millionen Tokens für weiterführende Forschungen
Das
Projektteam selbst hat das DIGITARIUM bislang u.a. unter
sprachwissenschaftlichen Aspekten ausgewertet (vgl. Rastinger 2021; Resch im Druck) und intertextuelle
Relationen zu anderen frühneuzeitlichen Medien untersucht (vgl. Fischer/Rastinger/Resch
2021). Weitere themenspezifische Studien sind derzeit im Druck
beziehungsweise in Vorbereitung (vgl. Resch/Rastinger im
Druck).
zur Verfügung.
2. (Sterbe-)Listen in der historischen Wiener Zeitung
Im Fokus rezenter Forschungen stehen die im
Diarium bzw. in der
Wiener Zeitung enthaltenen Listen. Als integrale Bestandteile
nahezu jeder Ausgabe unterbrechen sie die als Fließtext verfassten Berichtsteile
und beziehen sich u.a. auf Bekanntmachungen von Taufen und Vermählungen, auf
Ankünfte und Abfahrten von Personen in/aus Wien oder aber auf Nachrichten zu den
Verstorbenen inner- und außerhalb der Stadt. Nicht selten finden solche
Kleinformen in Digitalisierungs- und Forschungsvorhaben keine
Berücksichtigung,
Etwa lässt Goldschmidt (2020: 56) in ihrer
Untersuchung zu Textgliederung und Textkohärenz in historischen
Wochenzeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts die ‚Verzeichnisse über
Geburten und Todesfälle‘ sowie den Anzeigenteil beiseite.
weil ihre Erfassung als unverhältnismäßig aufwändig gilt (Fiechter et al. 2019). Dass im
DIGITARIUM hingegen prinzipiell vollständige Zeitungsausgaben zur Verfügung
stehen und damit selbstverständlich auch die genannten Verzeichnisse inkludiert
sind, erweist sich diesfalls als lohnend – zumal gerade die genannten
Verzeichnisse in ihrer Kürze zwar von syntaktisch vollständigen Sätzen
abweichen, aber aufgrund ihrer besonderen Form verdichtete Informationen
enthalten, an welchen – wie noch zu zeigen sein wird – besonderes
Forschungsinteresse besteht.
Einen sehr informativen Listentypus der historischen
Wiener
Zeitung stellen die zuletzt genannten Verzeichnisse der Verstorbenen
in Wien dar, worin chronologisch und regional differenziert die jeweils in und
vor der Stadt Verstorbenen – unter Ausnahme von Angehörigen des Herrscherhauses
und Hingerichteten – aufgelistet und damit denen
allhiesigen Jnwohnern offentlich bekandt und vorgestellet werden
(WD 08.08.1703: 2).
Diese Informations- als auch Dokumentationspraktik beginnt bereits mit der
ersten Ausgabe des Wien[n]erischen Diariums vom 8. August 1703,
deren Sterbeliste hier exemplarisch als Faksimile abgebildet ist.
Auflistungen obiger Art, die im
Diarium unter anderem als ‚Lista
derer Verstorbenen‘ oder ‚Verzeichniß der Verstorbenen‘ betitelt werden,
erweisen sich aus mehreren Gründen als wertvoll: Nicht nur eignen sie sich durch
ihre periodische Publikation als Ausgangspunkt für diachrone Untersuchungen,
sondern sie zeichnen sich auch durch eine relativ einheitliche Struktur sowie
die oben bereits erwähnte inhaltliche Reichhaltigkeit aus. So werden – wie die
folgenden beiden Listeneinträge veranschaulichen – für jede verzeichnete
verstorbene Person stets weitere biographische Informationen angeführt.
Vielfach sind, wie im Fall von Bartholmæ Tersch, neben dem Personennamen etwa
auch der ausgeübte Beruf (‚Guardi-Soldat‘), der Sterbe- bzw. Wohnort
(‚Biber-Pastey‘), die Todesursache (‚Gall‘) und das Sterbealter (‚41. Jahr‘)
angegeben. Im Falle von verstorbenen Frauen, wie Johanna Kupitsch, werden zudem
oftmals auch Name (‚Matthiae Kupitsch‘) und Beruf (‚Reitknecht‘) des Mannes
genannt. Ein ähnliches Vorgehen findet sich ebenfalls bei den im 18. Jahrhundert
hochfrequenten
Bislang bestand die Annahme, dass
Kinder unter einem Jahr nicht angeführt wären (vgl. www.familia-austria.at); systematische Auswertungen des
Projektteams hingegen zeigen häufig Listeneinträge dieser Art – wie
Dem Jacob Klein / Tagwercker / sein Kind
Maria / im Kräntzlbinderisch. Haus in der Rossau / alt 7.
Monat. (WD
31.10.1722: 8) oder Dem Peter Jones
/ Tagwercker / zu Erdberg / sein Kind Anna / alt 3. Wochen.
(WD 26.12.1711:
8). Generell zu den Altersangaben vgl. auch Kirchmair/Rastinger (2021).
Einträgen zu verstorbenen Kindern: Hier wird auf den Vater oder –
seltener und tendenziell nur, wenn der Vater unbekannt ist – auf die Mutter und
dessen bzw. deren Beruf Bezug genommen.
3. Das Diarium als Datenschatz für eine Vienna Time Machine
Diese Informationsdichte der Sterbelisten macht sich das Team in seinem
aktuellen, vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien geförderten Projekt ‚Vienna
Time Machine: Korrespondierende digitale Datenschätze und
Wissensressourcen‘ (2020–2022, Leitung: Claudia Resch) zunutze: Am Beispiel
Wiens soll die Idee der Time Machine Initiative, deren Ziel es ist, Daten
der Vergangenheit mittels digitaler Technologien zu gewinnen und zu
verbinden, erprobt werden – wofür die historischen Ausgaben der
Wiener Zeitung und vor allem die lokalen Informationen
aus den Sterbelisten als Fundament ganz besonders geeignet sind. Der Fokus
liegt dabei auf den in den Listen enthaltenen Toponymen, also der Namensklasse für identifizierbare und damit
benennbare Objekte der Erdoberfläche (Dräger/Heuser/Prinz
2021: V), zu der im Diarium beispielsweise
Bezeichnungen für Straßen (‚Schuller=Straß‘, ‚Währingergassen‘), Vorstädte
(‚St. Ulrich‘, ‚Hundsthurn‘) und Kirchen (‚St. Stephan‘, ‚St. Ruprecht‘),
aber auch Gewässer- (‚Donau‘, ‚Wienfluss‘), Häuser- (‚Waag=Hauß‘,
‚Mahlerisches Haus‘) oder Gasthausnamen (‚Flucht in Egypt‘, ‚gold. Adler‘)
zählen. Eine Annotation der Toponyme im DIGITARIUM würde die dortigen
Zeitungsausgaben mit weiterem verlässlich geprüften und spezifischen
Wien-Wissen anreichern und Nutzer*innen zusätzliche Auswertungshorizonte
eröffnen.
Aus Perspektive der Linguistik
etwa ermöglicht erst die hochqualitative Annotation von Toponymen
eine umfangreiche onomastische Erforschung der Namensklasse (vgl.
Rampl et al.
2021).
Darüber hinaus könnte der entwickelte Workflow zur
Toponymidentifikation und -referenzierung auch für andere historische
Ortsnamen-Nennungen mit Wienbezug relevant werden.
Kompilation der Sterbelisten
Um diesem Ziel näher zu kommen, wurden die Sterbelisten in einem ersten
Schritt von den anderen Zeitungstext(sort)en getrennt – und zwar mithilfe
der im DIGITARIUM vorgenommenen strukturellen Annotation: Listen sind
innerhalb der XML/TEI-Dokumente als <list> ausgezeichnet,
Listeneinträge als <item> und Überschriften als <head>. Vor
diesem Hintergrund und der Tatsache, dass sich eine Sterbeliste
üblicherweise aus einer Hauptüberschrift (z.B. ‚Lista deren Verstorbenen in
und vor der Stadt.‘), mehreren Unterüberschriften (z.B. ‚Vor der Stadt.‘,
‚Den 1. Jenner 1722.‘) und einer Reihe von Listeneinträgen zusammensetzt,
wurden in den XML/TEI-Dokumenten Listen mit dem Titel ‚Lista der/derer/aller
Verstorbenen in und vor der Stadt‘, ‚Verzeichniß der Verstorbenen zu Wien in
und vor der Stadt‘ oder ‚Verstorbene zu Wien‘ identifiziert,
Wie man an den unterschiedlichen Suchbegriffen
bereits erkennen kann, ändert sich die für Sterbelisten verwendete
Überschrift in der
Wiener Zeitung des 18.
Jahrhunderts mehrmals: Während das Format von 1703 bis 1768 als
‚Lista der/derer/aller Verstorbenen in und vor der Stadt‘ bezeichnet
wurde, war es in den DIGITARIUM-Ausgaben aus dem Zeitraum von 1768
bis 1781 als ‚Verzeichniß der Verstorbenen zu Wien in und vor der
Stadt‘ betitelt, bevor es dann ab 1782 die deutlich verkürzte
Überschrift ‚Verstorbene zu Wien‘ erhielt.
deren nachfolgende Überschriften sowie Listeneinträge automatisch
extrahiert und anschließend überprüft wurden. Als Resultat dieses ersten
Schritts besteht nun eine Sammlung von rund 300 Sterbelisten mit über 11.500
Listeneinträgen.
Named Entity Recognition
In ebendieser Datenmenge sollen im zweiten Schritt, der sogenannten Named
Entity Recognition (NER), diverse Toponyme identifiziert und annotiert
werden. Bedacht werden müssen dabei die spezifischen Herausforderungen, die
das historische Untersuchungsmaterial mit sich bringt – wie eine hohe
graphematische Variation, die sich in einer Vielfalt von unterschiedlichen
Schreibungen einzelner Toponyme widerspiegelt. Der Name
Spittelberg
www.geschichtewiki.wien.gv.at/Spittelberg_(Vorstadt),
Zugriff am 22.2.2022.
beispielsweise, der heute einen
Stadtteil und im 18. Jahrhundert eine Vorstadt Wiens denotiert, tritt unter
anderem auch in den Varianten Spitlberg,
Spittlberg, Spitelberg oder
Spitalberg auf – und auch für spezifische Bauwerke wie die
Kärntnerbastei (Cärntner Pastey,
Kärntner=pastey, Cärnther=Pastey, …) existiert
in den Zeitungstexten noch kein graphematischer Konsensus.
Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass diverse Toponyme (und andere Begriffe)
in den Sterbelisten oftmals gar nicht zur Gänze, sondern nur in abgekürzter
Form wiedergegeben werden. Da die Anzahl an Abkürzungen im Laufe des
Untersuchungszeitraums zunimmt, betrifft dies insbesondere die zweite Hälfte
des 18. Jahrhunderts: Während in der
Diarium-Ausgabe vom 8.
August 1703 etwa nur jeder zweite Listeneintrag eine Abkürzung aufweist,
lassen sich am 2. Februar 1793 rund fünf Abkürzungen pro Item finden. Diese
Entwicklung war vermutlich ökonomisch motiviert: Um Material, Platz und wohl
auch wertvolle Setzzeit zu sparen, waren die Sterbelisten stark verkürzt und
Leser*innen gefordert, das Ausgelassene bei der Rezeption selbstständig zu
ergänzen. Dass dieser Schritt jedoch aus heutiger Sicht eine Herausforderung
darstellen kann, veranschaulicht folgender exemplarischer Listeneintrag:
Dem Joh. [Johann] Glas, herrs.
[herrschaftlichem] Kutsch. [Kutscher] s.
[sein] W. [Weib] Barb. [Barbara] alt 58
J. [Jahr] am span. [spanischen]
Spitalb. [Spitalberg] N. [Nummer]
220. (WZ 25.07.1798: 13, Ergänzungen durch die
Verfasser*innen)
Parallel zu menschlichen Leser*innen stoßen bei den
Verstorbenenverzeichnissen auch moderne Named Entity Tagger an ihre Grenzen,
da letztere meist auf gegenwartssprachlichen Texten trainiert wurden und
dadurch kaum mit der starken Schreibvariation (vgl. Piotrowski 2012: 3) und Abgekürztheit des
historischen Materials umgehen können. Angesichts dieser Limitationen wurde
im Projekt ‚Vienna Time Machine‘ ein regelbasierter Ansatz erprobt, der vor
allem auf die starke Strukturiertheit der Sterbelisten setzt. Hierfür wurde,
ausgehend von exemplarischen Einträgen aus verschiedenen Jahrzehnten, ein
Set an Regeln entwickelt, das dann mithilfe der Natural Language Processing
(NLP)-Bibliothek spaCy
spacy.io/, Zugriff am
22.2.2022.
zur automatischen Annotation aller rund 300
Sterbelisten eingesetzt wurde. Bei der Regelerstellung miteinbezogen wurden
sowohl die typische Gestalt von Toponymen an der Textoberfläche, also etwa
ihre Groß- bzw. Kleinschreibung oder Länge, als auch ihr Kontext im Sinne
von musterhaft vorangehenden oder nachgestellten Wörtern.
Wörter sind hierbei aus praktischen Gründen aus
einer graphematischen Perspektive, d.h. rein über ihre Grenzen,
definiert: Das graphematische
oder graphische Wort steht zwischen zwei Leerzeichen und enthält
intern keine Leerzeichen (Fuhrhop 2008:
193).
Kombiniert ergibt sich hieraus folgendes
Schema:
Wie in der Grafik skizziert, setzt sich jede Regel aus drei Bestandteilen
zusammen, nämlich erstens einem Startpunkt, der den nachfolgenden Beginn
eines Toponyms markiert, zweitens den Angaben zu dem zu identifizierenden
Toponym selbst und drittens einem Schlusspunkt, der das Ende eines Toponyms
signalisiert. Auf diese Weise werden mithilfe der in Abb. 5 exemplarisch dargestellten
Kombinationen die beiden Gebäudebezeichnungen in (1) wie auch der Gasthaus-
und der Straßenname in (2) erfolgreich erkannt:
(1) Anna Dusockin / led. Mensch
/ im Meierischen Hauß / beim Arsenal / alt 32. Jahr. (WD 24.05.1712:
8)(2) Joh. Georg Lambrecht / B.
Schneider / beym weissen Löwen am Salzgries / alt 58. J. (WD 04.09.1726:
8)
Um den Erfolg des gestesten NER-Ansatzes zu bewerten, reichen zwei
Einzelbeispiele aber nicht aus – denn, wie Rampl et al. (2021:
233) darlegen, ist es [z]ur
späteren Evaluierung der automatisierten NER […] notwendig, einen
sogenannten Goldstandard zu erarbeiten, in dem die Namen händisch
annotiert werden. Insofern wurde mithilfe des Annotationstools
Prodigy
prodi.gy/, Zugriff am 22.2.2022.
ein
zufällig zusammengestelltes und über das 18. Jahrhundert verteiltes Set von
150 Einträgen manuell hinsichtlich der Toponyme ausgezeichnet. Die
Ergebnisse dieses Schritts wurden daraufhin mit den Resultaten der
regelbasierten und automatisierten Annotation abgeglichen, wobei sich ein
F1-Score
Bei dem F1-Score eines Modells
handelt es sich um das harmonische Mittel aus Precision und Recall,
das zwischen 0 und 1 (Optimalfall) liegt.
von 0.81, ein
Precision-Wert
Ein Modell mit niedriger
Präzision vermag zwar viele Named Entities (NEs) zu erkennen, gibt
aber auch viele fälschlich annotierte Fälle aus, während ein Modell
mit hoher Präzision zwar möglicherweise nicht alle NEs findet, die
identifizierten Fälle dafür aber mit hoher Wahrscheinlichkeit
korrekt sind.
von 0.84 und ein Recall-Wert
Ein Modell mit hohem Recall-Wert ist erfolgreich
darin, alle NEs eines Datensatzes zu identifizieren, ordnet jedoch
auch manche Nicht-NEs als NEs ein, wohingegen ein Modell mit
niedrigem Recall-Wert nur wenige bis keine der vorhandenen NEs
findet.
von 0.78 ergaben. Das bedeutet, dass durch den
regelbasierten Ansatz aktuell bereits 78 % aller Toponyme in den
Sterbelisten erkannt werden und 84 % aller gesetzten Annotationen korrekt
sind. Diese sehr guten Evaluierungsmaße bestätigen die Eignung der
semi-strukturierten Sterbelisten für einen regelbasierten NER-Ansatz: Mit
dieser Methode konnten bisher rund 17.000 (potenzielle) Toponyme
identifiziert und extrahiert werden.
Named Entity Linking
In einem nächsten Schritt werden die erhobenen Toponyme mit anderen bereits
existenten Wissensressourcen in Verbindung gebracht – wofür sich
insbesondere die von der Stadt Wien erstellte Wissensplattform Wien Geschichte Wiki
(WGW) anbietet, die zu einem Großteil auf Felix Czeikes
Historischem Lexikon Wien basiert und derzeit mehr als
47.000 Einträge umfasst. Hierunter finden sich auch 10.787 Einträge zu
topographischen Objekten, 5.900 Einträge zu Gebäuden und 3.721 Einträge zu
Organisationen,
Da die Grenze zwischen Ort
und Organisation nicht immer klar gezogen werden kann, macht es Sinn
auch diese Kategorie des Wien Geschichte Wiki zu
berücksichtigen – man vergleiche etwa die Einträge ‚Zum roten Krebs (Apotheke)‘ und ‚Salzamt‘, die beide als Organisationen klassifiziert
wurden.
bei welchen von einer hohen Übereinstimmung mit
den DIGITARIUM-Toponymen ausgegangen werden kann. So korrespondiert etwa der
in dem Verstorbenenverzeichnis vom 22. September 1742 mehrfach
erwähnte ‚Saltz=Gries‘ mit dem WGW-Eintrag ‚Salzgries‘
www.geschichtewiki.wien.gv.at/Salzgries, Zugriff am
22.2.2022.
und die am 14. August 1754 im
Diarium verzeichnete Abkürzung ‚Alster=gas.‘ referenziert
auf dieselbe Entität, die im WGW unter ‚Alser Straße‘
www.geschichtewiki.wien.gv.at/Alser_Stra%C3%9Fe, Zugriff
am 22.2.2022.
beschrieben wird.
Zugleich birgt das Named Entity Linking zwischen diesen beiden
Wissensressourcen – wie die beiden oben angeführten Beispiele
veranschaulichen – jedoch auch diverse Herausforderungen: Zum einen stehen
den unterschiedlichen und teilweise abgekürzten Schreibvarianten aus dem
DIGITARIUM im WGW standardisierte Formen gegenüber und zum anderen kann es
im Lauf der Zeit zu Namensänderungen (z.B. ‚Alstergasse‘ > ‚Alserstraße‘,
‚Kärntnerbastei‘ > ‚Augustinerbastei‘
vgl.
www.geschichtewiki.wien.gv.at/Augustinerbastei_(Bastion),
Zugriff am 22.2.2022.
) gekommen sein. Damit letztere
Fälle nicht unberücksichtigt bleiben, werden neben den Entitäten-Labels des
WGW auch etwaige unter den Attributen ‚Andere Bezeichnung‘ und ‚Frühere
Bezeichnung‘ angeführte Namen mit den DIGITARIUM-Toponymen abgeglichen.
Für den WGW-Eintrag ‚Alser Straße‘ etwa werden
die früheren Bezeichnungen ‚vicus Alsaerstrâzze‘, ‚Alserstrazz vor
Schottentor‘, ‚auf der Alstergassen‘, ‚Alstergasse‘, ‚Große Gasse‘
und ‚Alser Hauptstraße (8, 9)‘ angeführt.
Überdies
erprobt die Forschungsgruppe aktuell verschiedene Lösungsansätze, um die
graphematischen Unterschiede zwischen DIGITARIUM und WGW zu
überbrücken.
Unser Dank gilt an dieser
Stelle Richard Hadden, von dessen Expertise das Team insbesondere
bei den vorbereitenden Schritten für das Named Entity Linking
wesentlich profitiert hat.
So wird das extrahierte
Datenmaterial unter anderem bereinigt, indem etwa wortinterne einfache oder
doppelte Bindestriche entfernt und abgekürzte Wortformen automatisch
erweitert werden. Bisherigen Tests zufolge erscheint dabei gerade der zweite
Schritt vielversprechend, da sich allein durch die Dekodierung der
Abkürzungen aus fünf Zeitungsausgaben über 600 zusätzliche Kandidatenpaare
haben finden lassen. Ebenfalls aussichtsreich erweist sich außerdem die
Nutzung der von Jurish (2012)
entwickelten Software DTA::CAB,
Vgl. auch Jurish (2008) und Jurish/Ast (2015).
die Wortformen mithilfe
phonetischer Repräsentationen normalisiert: Indem beispielsweise sowohl die
historische Schreibvariante ‚Wohlzeihl‘ als auch das moderne Lemma
‚Wollzeile‘ auf die phonetische Form [voltsail] zurückgeführt werden, lässt
sich eine automatische Verknüpfung zwischen DIGITARIUM und Wien Geschichte
Wiki herstellen. Mithilfe dieser und weiterer Methoden – wie der Berechnung
der Levenshtein-Distanz
Hierbei wird berechnet,
wie viele Operationen – wie das Einfügen, Löschen oder Ersetzen
eines Zeichens – notwendig sind, um eine Zeichenkette in eine andere
umzuwandeln. Je weniger Operationen benötigt werden, desto stärker
ähneln zwei Wörter einander.
zwischen historischen und
modernen Schreibungen – konnten bisher bereits über 5.000 Kandidatenpaare
identifiziert werden. Da aktuell zudem noch weitere Verfahren auf ihre
Nutzbarkeit für das Named Entity Linking getestet werden, könnte diese Zahl
erwartungsweise noch steigen.
Verortung der Toponyme in Raum und Zeit
Durch die mit dem
Wien[n]erischen Diarium korrespondierenden
Einträge aus dem Wien Geschichte Wiki öffnet sich nicht zuletzt auch eine
räumliche Dimension, zumal darin zahlreiche Toponyme bereits
koordinatenbasiert in einem digitalen Kulturstadtplan repräsentiert sind.
Eine Georeferenzierung der Toponyme scheint daher prinzipiell möglich, doch
sieht sich das beschriebene Projekt wie auch die historische Raumforschung
generell (vgl. etwa Rampl et al.
2021; Zschieschang
2021) immer wieder mit Ambiguitäten konfrontiert; etwa wenn
damalige Bezeichnungen im heutigen Stadtbild längst keine Entsprechung mehr
finden, wenn die im Diarium genannten Häusernamen über
zeitlich eingeschränkte Geltung verfügen und daher im WGW nicht genannt
werden oder wenn unterschiedliche Orte dieselbe Bezeichnung tragen (z.B. das
im Wien Geschichte Wiki 14-fach belegte Toponym ‚Zum schwarzen Adler‘). Auch
die Wahl des historischen Planmaterials gestaltet sich angesichts des
‚langen 18. Jahrhunderts‘ schwierig: Waren die Angaben des Diariums
in der ersten Jahrhunderthälfte noch auf Häusernamen bezogen,
kamen im Verlauf des Jahres 1772 –
zunächst vereinzelt, ab dem Wien[n]erischen Diarium vom 26. Dezember
1772 durchgehend – noch Häusernummern hinzu (Fischer 2019:
143), was sich auch in den Detailgraden der historischen Pläne
widerspiegelt. Während sich für die ersten Dekaden also eher der Plan von
Werner Arnold Steinhausen (1710) in der Reproduktion von Gustav Adolph
Schimmer (1847) eignet, empfehlen sich für das ausgehende 18. Jahrhundert
die mit Konskriptionsnummern versehenen Pläne von Joseph Daniel von Huber
(1778) oder Joseph Anton Nagel (1781).
Wie anschaulich und erkenntnisfördernd eine räumliche Verortung wäre, zeigt
sich exemplarisch anhand des Toponyms ‚Salzgries‘:
Wenn man den damaligen Salzgries am Steinhausenplan gedanklich von links
kommend abschreitet, erfahren wir aus dem
Diarium etwa, dass
ein armer Mann namens Johannes Schlunitz 1703 beim ‚Weißen Rössl‘ verstarb;
dass unmittelbar gegenüber, beim ‚Weißen Löwen‘, Caspar Neudorffhofer, ein
kaiserlicher Senftenknecht wohnte und benachbart die Witwe Clara Marzellin,
ebenso wie der kaiserliche Rotenturm-Hauptmautamtsoffizier Franz Anton
Halbritter, dessen Sohn Johann im Alter von wenigen Monaten 1719 verstarb.
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch dem beim ‚Weißen Löwen‘ lebenden
kaiserlichen Hofmusikus und Cornettisten Jodoc Adam Christ sowie dem
kaiserlichen Trabanten Johann Reiz, deren Söhne Johann Georg und Christian
ebenfalls im Kindesalter verstarben. Aus den Inseraten wissen wir weiters,
dass der Augsburger Johann Harlitsch neben dem Wirtshaus ‚Weißer Löwe‘ im
Hof im ersten Stock einen englischen Schnupftabak verkaufte, den das
Diarium als sehr angenehm und
lieblich zu schnupfen / und wider die Flüsse / Röte der Augen / Brausen
der Ohren / Kopf=wehe / Schwindel / und Schlag sehr treflich
(WD 11.11.1722: 7)
empfiehlt.
Unter einer anderen am Plan vermerkten prominenten Adresse, beim ‚Wolf in der
Au‘, wo sich u.a. eine Herberge und ein Wirtshaus befanden, wohnten der
Pfleger Georg Krieger mit seinem Kind Ferdinand, das im Alter von zwei
Jahren starb, die Witwe Elisabeth Schönbergerin bis zu ihrem 88. Lebensjahr,
sowie Anton Eisler, ein Feldtrompeter, der ein Lebensalter von 35 Jahren
erreichte. Im gleichen Gebäudekomplex, der schon dem Tiefen Graben
zugeordnet wurde, beim ‚Grünen Hirschl‘, lebte der bürgerliche Schlosser
Franz Schwartzmann; daneben beim ‚Goldenen Glöcklein‘ (‚Gulden Glögl‘ am
Plan) die verwitwete Magdalena Casparin. Das Wien Geschichte Wiki wiederum
weiß zu berichten, dass in diesem Haus im zweiten Jahrzehnt des 19.
Jahrhunderts Franz Grillparzer wohnte und dort 1816 sein Werk
Die
Ahnfrau verfasste (vgl. WGW-Eintrag ‚Salzgries
23‘).
Zwar lassen sich nicht alle Häuser (wie die eben benannten) ohne zusätzliche
Recherche eindeutig lokalisieren (etwa das ‚Wagnerische Haus‘, das
‚Kernische Haus‘ oder das ‚Handschuhmacherische Haus‘), doch geben bereits
wenige Textausschnitte in der räumlichen Verortung ein beredtes und in Summe
detailreiches Zeugnis über Wiens historische Stadtviertel, deren
Bewohner*innen und Nachbarschaftverhältnisse, wie der imaginierte
Spaziergang über den ‚Salzgries‘ veranschaulicht.
4. Perspektiven für eine Vienna Time Machine
Neben den beiden beschriebenen digitalen Ressourcen – DIGITARIUM und Wien
Geschichte Wiki, die für die Stadtgeschichte Wiens sicher von besonderer
Relevanz sind – wären für den Ausbau einer Vienna Time Machine freilich noch
weitere bereits vorhandene, auf die Stadt bezogene Datenbestände und
Wissensressourcen zu inkludieren. Eine Herausforderung liegt jedoch zweifellos
darin, einen Umgang mit der Heterogenität solcher Daten zu finden. Dass
Datensets referenziert werden können, setzt nicht nur deren Zugänglichkeit und
standardisierte Aufbereitung voraus, sondern auch das Wissen von Expert*innen
darüber, welche Analysekategorien systematisch abgerufen und in sinnvoller Weise
miteinander korrespondieren könnten, sodass ein Mehrwert für die Forschung
entsteht.
Was dieser Beitrag bilateral anhand zweier Datensets exemplarisch gezeigt hat,
könnte im Prinzip auch für weitere digital verfügbare, verlässliche Ressourcen
und Quellen möglich sein. Gerade bei großen Datenmengen wird der Einsatz von
digitalen Methoden (hier exemplarisch zur Erkennung von Text beziehungsweise zur
systematischen Identifikation sprachlicher Muster) unverzichtbar sein. Mit dem
vorliegenden Beitrag sollte die prinzipielle Durchführbarkeit eines solchen
Vorhabens durch Ansätze, die auf das historische Datenmaterial abgestimmt sind
und dessen Beschaffenheit bedenken, belegt werden. Die bisherigen Erfahrungen
könnten zudem Anreiz sein, disziplinenbergreifend weiter am Aufbau einer Vienna
Time Machine zu arbeiten, sodass zeitlich und räumlich vielschichtige
Vorstellungen der historischen Stadt entstehen und eines Tages auch digital
erkundet werden können. Die historische
Wiener Zeitung hätte
diese Einladung wohl folgendermaßen formuliert: So
jemand dazu Belieben tragen möchte / der kan bey dem Verleger dieses
Wienerischen Di[git]arii von allem ausführliche Nachricht und Bescheid
einholen. (WD
09.05.1725) – in diesem Sinne sind Interessensbekundungen sowie
konkrete Überlegungen und Angebote zur Datenvernetzung jedenfalls jederzeit
willkommen!
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