Mörderisch illiterat
Kriminalität und Analphabetismus
DOI:
https://doi.org/10.25365/wdr-05-02-03Schlagworte:
Analphabetismus, Ruth Rendell, Empathiefähigkeit, LiteraturdidaktikAbstract
peer-reviewed
Literatur und Illettrismus verhalten sich naturgemäß antagonistisch. Diesen Gegensatz extrem zugespitzt hat die britische Autorin Ruth Rendell (1930–2015), die in ihrem Roman „Judgement in Stone“ (1977) eine Analphabetin zur Mörderin einer ganzen – exemplarisch bildungsbürgerlichen – Familie macht. Die nicht unproblematische Suggestion, erst das Lesen mache human, unterstützt der Text durch zahlreiche Zitate aus dem englischen Literaturkanon, meist von Shakespeare und Dickens: Intertextualität wird hier zum performativen Ausweis der Zugehörigkeit zu einer zivilisierten und empathischen Lese-Gemeinschaft. Der Zusammenhang von Analphabetismus und Kriminalität beruht aber nicht auf Kausalität, sondern besteht in einer Korrelation, in der Armut und Deklassierung Schlüsselfaktoren sind.
Literature and illiteracy seem to be natural enemies. An extreme position in this antagonism took British author Ruth Rendell (1930–2015), who in her novel “Judgement in Stone” (1977) lets an illiterate women kill a – specifically educated – family, hereby suggesting that only reading makes a human being. This problematic concept is supported by many quotations from the English literary canon, mainly from Shakespeare and Dickens. The function of intertextuality becomes therefore the performative confirmation of civilization and empathy. But there is no causal relationship between illiteracy and delinquency, but a correlation in which poverty and social declassification are key factors.