Sprache Macht Geschichte

2023-11-25

Juliane Schiel

Das Nachdenken über das Verhältnis von Sprache und Macht in der Geschichte hat insbesondere im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition. Angefangen von der philosophischen Kontroverse zwischen Idealist*innen und Materialist*innen um die Grundsatzfrage, ob das Bewusstsein (d.h. die Idee bzw. der Begriff von etwas) das Sein oder umgekehrt das Sein das Bewusstsein bestimmt, über die Rufe der Rankianer*innen und Brunner-Schüler*innen nach der Bedeutung der Quellensprache für das Verständnis historischer Epochen bis hin zur wissenschaftlichen und politischen Debatte um die Wirkmächtigkeit von Sprache in der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe: Die Reflexion über Sprache und Macht war lange vor dem international diskutierten linguistic turn und dem Erfolgskurs der Diskursanalyse in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein Grundthema der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und ist dies bis heute.

Umgekehrt haben neuere Trends der internationalen Forschung wie etwa die postkoloniale Kritik an eurozentrischen Konzepten und Analysekategorien oder die durch die Digital Humanities beförderte Begeisterung für Historical Semantics in den deutschsprachigen Diskussionen stark an diese philosophisch-philologische Tradition angeknüpft und dort oft eine eigene Dynamik entfaltet.

Es ist deshalb sicher kein Zufall, dass die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften mit einer traditionell hohen Affinität zu Theorie- und Methodendiskussionen seit ihrem Bestehen in regelmäßigen Abständen Hefte publiziert, die das Verhältnis von Sprache und Macht in der Geschichte entweder explizit zum Thema haben oder in der Diskussion anderer Themen und Trends mitreflektieren.

So hat, um nur einige wenige Beispiele herauszugreifen, das aus einem Panel des Österreichischen Zeitgeschichtetags 1999 in Graz hervorgegangene Heft „sprache macht geschichte“ (10. Jg., 4/1999) Sprache als Erkenntnisgrundlage, Erkenntnisprinzip und Erkenntnismittel der Geschichte problematisiert. Im darauffolgenden Jahr erschien unter dem Titel „Historische Epistemologie & Diskursanalyse“ (11. Jg., 4/2000) ein Band, der danach fragte, wie terminologische Differenzierungen das „Soziale“ herstellen und produzieren, und rief zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Begriffs- und Sozialgeschichte auf. 2005 folgte dann ein Heft, das unter der Überschrift „Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte“ um den Nutzen der Foucault’schen Diskursanalyse und den theoretisch-methodischen Angeboten aus der Philosophie, Sprachwissenschaft und Soziologie für die historische Diskursforschung rang. Wie und mit welchen Begriffen können die zeitlichen Dimensionen von Diskursen gefasst und untersucht werden? Wie bestimmen sich die Grenzen eines bestimmten Diskurses, wie können dessen Persistenz, Wandel und Austausch mit anderen Diskursen gedacht und erforscht werden?

Das vorliegende Heft zu „Work Semantics / Semantiken der Arbeit“ ist beinahe ungewollt Ausdruck dieser spezifischen Verbindung aktueller internationaler Trends (in diesem Fall der Globalgeschichte und der Digital Humanities) mit der philosophisch-philologischen Tradition deutschsprachiger Geschichtswissenschaften. Es findet sich als ein in englischer Sprache publiziertes OeZG-Heft an genau dieser Schnittstelle.

Hervorgegangen aus dem EU-finanzierten Netzwerk „Worlds of Related Coercions in Work“ (WORCK, www.worck.eu) hatte sich eine international zusammengesetzte Gruppe von Historiker*innen, Anthropolog*innen und Soziolog*innen den Semantiken des Zwangs und ihrer diachronen und transregionalen Vergleichsmöglichkeiten auf zwei Ebenen genähert:

Auf der Ebene der Quellen ging es um die Erfassung der historisch-spezifischen Ausdrucksweisen für soziale Formen von Zwang und die ihnen zugrundeliegenden klassifikatorischen Ordnungslogiken. Auf der Ebene der geschichtswissenschaftlichen Analysesprache und der Narrativierungsmöglichkeiten für zeit- und raumübergreifende Vergleiche war die Gruppe auf der Suche nach Möglichkeiten zur Überwindung eurozentrischer Selbstverständlichkeiten wissenschaftlichen Denkens und Schreibens mit Hilfe neuer digitaler Analysetools.

Herausgekommen ist ein Heft, in dem die überwiegende Zahl der Beiträger*innen dem deutschsprachigen Wissenschaftssystem entstammt. Das Experimentieren mit philologischen und digitalen Ansätzen der Historischen Semantik an Schriftzeugnissen primär vormoderner Gesellschaften Europas und Asiens hat ganz unterschiedliche Formen angenommen.

Die verschiedenen Kontexte von Arbeit und Zwang, die in den Beiträgen beleuchtet werden, haben sich dabei als Schauplätze asymmetrischer Machtbeziehungen erwiesen, deren Ontologien zu vergleichen der nächste Schritt sein soll.