Intersektionalität. Perspektiven aus Geschichtswissenschaften und Geschichtsdidaktik

2025-01-13

Levke Harders & Heike Krösche

„Ich scherze oft, dass mir der Feminismus schon in die Wiege gelegt wurde. Ich wuchs als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf, die Vollzeit arbeiten musste, um uns den Lebensunterhalt zu verdienen. Ich konnte von klein auf beobachten, wie viele Menschen es als Makel gesehen haben, wenn eine Frau nicht verheiratet ist. […] Ich bin die erste und einzige Person in meiner Familie, die studiert hat. […] Ich habe dadurch schon früh verstanden, dass es mehrere Ebenen gibt: die gesetzliche Lage, was Frauen dürfen, und die gesellschaftliche, was Frauen sollen. [...] Auch andere Unterdrückungssysteme wie Rassismus, Klassismus, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, Anm.). Diese Unterdrückungssysteme funktionieren oft gemeinsam. Es geht darum, bestimmte Gruppen klein zu halten, damit eine bestimmte Gruppe – der weiße Mann, der das neoliberale System stützt – on top bleiben kann. Deshalb werden Stimmen zu einem intersektionalen Feminismus […] immer lauter. Ich denke, dass in früheren Kämpfen viele andere diskriminierende Systeme nicht so beachtet wurden.“ (Marlene Streeruwitz / Vanessa Spanbauer, Gemeinsame Sache, in: Rondo exklusiv, Beilage zu Der Standard, 30.09.2022, S. 34-37).

Die Historikerin und Journalistin Vanessa Spanbauer benennt in diesem Gespräch mit der Schriftstellerin Marlene Streeruwitz die Notwendigkeit eines intersektionalen Feminismus. Seit einigen Jahren wird Intersektionalität als theoretische, methodische und inhaltliche Perspektive in der Geschlechterforschung, den Queer und Disability Studies, in der Ungleichheitsforschung, postkolonialen Ansätze und anderen Forschungsfeldern verwendet. Die Diskussion um das Zusammenwirken verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Geschlecht, Klasse, race hat jedoch schon eine längere Tradition im Black Feminism und der Critical Race Theory (siehe dazu auch den OeZG-Band Blackness, transnational, 17/2006/4). Die intersektionale Perspektive untersucht Interdependenzen von Differenzmerkmalen, also ihre Gleichzeitigkeit und Verschränkung, und fragt nach den damit verbundenen gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen, immer auch mit dem Ziel, zu sozialer Gerechtigkeit beizutragen.

In die Frauen- und Geschlechtergeschichte brachte bspw. die Historikerin Gerda Lerner schon früh Fragen von Klasse und race ein. 1995 sagte sie in einem OeZG-Gespräch mit Albert Müller über „Black Women in White America. A Documentary History“ (1972): „Ich habe dann die Geschichte der weißen Frauen und die der schwarzen Frauen am selben Ort zur selben Zeit verglichen und konnte dadurch herausfinden, was mit Rasse zu tun hat und was mit Geschlecht zu tun hat. Ohne die Methode des Vergleichs wäre dies nicht möglich gewesen“ (Gespräch mit Gerda Lerner im Band 6/1995/2 und über sie in 33/2023/2). Auch in der OeZG wird die Verwobenheit von Geschlecht und Klasse, von Geschlechter- und Arbeitsverhältnissen schon lange diskutiert (so in den Bänden 1/1990/2 und 33/2022/3). Ebenso ist Migrationsgeschichte im Verhältnis zu Geschlecht und Klasse immer wieder Thema (19/2008/1, 29/2018/3, 31/2020/1). Obwohl also Fragestellungen, die intersektional gewendet werden (könnten), in historischen Debatten der letzten Jahrzehnte durchaus eine Rolle spielen, verwenden Geschichtswissenschaften und Geschichtsdidaktik im deutschsprachigen Raum Intersektionalität als Analyseinstrument bisher zurückhaltend, so unser Eindruck. Wenig überraschend ist daher, dass in der bislang einzigen Ausgabe der OeZG zur Geschichtsdidaktik intersektionale Perspektiven fehlen (32/2021/2). Dem vielschichtigen Konzept Intersektionalität entsprechend loten die Fallstudien des Themenbandes daher das empirische, methodische und theoretische Potenzial der Intersektionalität für die Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaften aus. Die Beiträge wenden Intersektionalität nicht nur in der Quellenanalyse an, sondern erweitern diese um grundsätzliche Überlegungen dazu, ob und wie Intersektionalität für die Geschichtsdidaktik und einzelne historische Epochen konstruktiv genutzt werden kann.

Für das europäische Mittelalter erproben zwei Autor*innen Intersektionalität in einem close reading historischer Quellen: Kristin Skottki und Julian Happes. Zwei Beiträge verbinden einen biografischen Zugang mit einem Fokus auf die Kategorien Nicht-/Behinderung, Klasse, Geschlecht und race: Franziska Rein aus fachdidaktischer Perspektive und Lisa Maria Hofer. Auch Anna Ransiek verwendet eine intersektionale Analyse von Lebensgeschichten, während Shuyang Song die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung untersucht. Geschichte und ihre Didaktik sind auch in Lehre und Vermittlung zentral: Irene Messinger schreibt über Hochschuldidaktik, Veronika Springmann über den Museumsbereich. Die eingangs zitierte Vanessa Spanbauer diskutiert mit Katharina Oke über methodologische und Forschungsfragen. Nicht zuletzt sei hier auf das Editorial von uns verwiesen, das die Debatte um Intersektionalität in Geschichtswissenschaften und Geschichtsdidaktik nachzeichnet, um zu einer kritischen Reflexion und zum Weiterdenken anzuregen. (Mehr zum Band findet sich auch in diesem Blogpost.)