Call 4/2024: Digitalität, Produktion, Verantwortung

2024-10-08

MEDIENIMPULSE Call 4/2024

Digitalität, Produktion, Verantwortung. Medienpädagogische Anliegen im Kontext von Neuem Realismus und Neuem Materialismus

Alessandro Barberi
Thomas Ballhausen
Florian Danhel
Klaus Himpsl-Gutermann

Digitalisierung und Digitalität haben sich als neue gesamtgesellschaftliche Phänomene etabliert und werden in der (medienpädagogischen) Fachliteratur richtigerweise als solche verhandelt und analysiert. Die Wirklichkeit politischer, ökonomischer und medialer Prozesse und Effekte ist von einer permanenten, nicht zuletzt technologiegetriebenen Transformation betroffen und hat auch das gegenwärtige Wirtschaftssystem irreversibel geprägt (vgl. Niesyto 2017; Zuboff 2018; Staab 2019; Initiative Bildung und Digitaler Kapitalismus 2021). Angesichts einer von Wissenschaftsskepsis, Entsolidarisierung und rhetorischer wie auch realpolitischer Aufrüstung gekennzeichneten Gegenwart muss es somit ein vordringliches Anliegen der Medienpädagogik sein, im Sinne der Medienkritik zu digital-medialer wie auch demokratiepolitischer Mündigkeit hinzuführen. Damit ist eine verantwortungsbewusste kritische Diskursteilhabe genauso gemeint wie die Grundlegung einer aufgeklärten Ethik (vgl. Shotwell 2016). Denn in der Bezugnahme auf aktuelle gesamtgesellschaftliche, ökonomische wie auch ökologische Themenfelder (vgl. Morton 2019; Bennett 2020; Crawford 2021) kann die Medienpädagogik nicht nur Herausforderungen identifizieren und damit korrespondierende Anliegen formulieren. Vielmehr sollte sie in der Auseinandersetzung mit digital-medialer wie auch politischer Mündigkeit einen Schlüssel zu gelebter Demokratie in allen Wortbedeutungen erkennen, die auf einem unverzichtbaren rationalen Bekenntnis zu Bildung, Gesellschaft, Kultur und Verantwortung im Sinne einer universellen Medienethik fußt.

In diesem Kontext geht es um ein neuartiges Verständnis der Aufklärung, die nicht nur als historische Epoche, sondern als zeitgemäßes Methodenbündel und demokratiepolitische Haltung begriffen werden muss. Insofern ist es der Medienpädagogik durchaus möglich, anstelle nominalistischer Konzepte oder ideologiegetriebener Aushöhlungen des Begriffs der (Medien-)Kritik, produktive Verbindungen zu Neuen Materialismen (vgl. Hoppe/Lemke 2023) und Neuen Realismen (vgl. Gabriel 2016; Wright 2017) zu etablieren. Dies geht einher mit einer verstärkten Hinwendung zur Beschaffenheit von Objekten und ihrem praktischen Gebrauchswert, zur Medialität von Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen sowie nicht zuletzt zur Verhandelbarkeit bzw. Erkennbarkeit von Welt überhaupt. Damit werden nicht zuletzt die materielle Wirklichkeit von Digitalisierung und Digitalität, die ökonomischen Prinzipien umfassender (Wissens-)Produktion oder auch die Verantwortung als Handlungsmacht zum notwendigen Gegenstand der Diskussion. Dies steht in direktem Zusammenhang mit der Analyse der „Materialität der Kommunikation“ (vgl. bereits Gumbrecht/Pfeiffer 1995) und ist eng mit den Diskussionen zum „Neuen Materialismus“ (vgl. Goll/Keil/Telios 2014) verbunden. Auf diesem Weg öffnet sich die Medienpädagogik zunehmend für produktive Bezugnahmen auf andere Bereiche, von der Politischen Bildung über die Wissenschaftsgeschichte bis hin zur Analyse der medialen und d. h. materiellen Produktionsbedingungen in Geschichte und Gegenwart des Digitalen Kapitalismus. Dies betrifft die Medienpädagogik insbesondere in Hinblick auf praxis- und kompetenzorientierte Anwendungsperspektiven im Sinne einer „handlungsorientierten Medienpädagogik“.

Mit der kommenden Ausgabe 4/2024 der MEDIENIMPULSE wollen wir daher Fragen der ethischen Verantwortung im Blick auf das Verhältnis von Digitalität und Produktion angesichts der Debatten zu einem Neuen Realismus und/als Neuem Materialismus in den Raum stellen. Mit diesem Call laden wir dazu ein, unser Schwerpunktthema Digitalität, Produktion, Verantwortung im Verhältnis von Medienpädagogik und Neuem Realismus bzw. Neuem Materialismus zu diskutieren. Relevant könnten dafür die folgenden Fragestellungen sein:

  • Wie lassen sich aus medienpädagogischer Perspektive traditionelle Entwürfe von Produktion, Leistung, Gehorsam, Kontrolle und Normierung im Rahmen des Digitalen Kapitalismus befragen, um sie im Medienzeitalter und angesichts von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) jenseits neoliberaler Verwertungslogiken wissenschaftlich begreifbar und medienethisch kritisierbar zu machen? Welche gesellschaftlich notwendigen Veränderungen ergeben sich daraus im Rahmen unserer Demokratie und angesichts der Wirklichkeit materieller und d. h. auch digitaler Produktionsprozesse?

  • Welche Rolle hat menschliche Handlungsmacht in Zeiten der Digitalität, wenn im zentralen Begriff der Verantwortung auch die zeitgemäße Bedeutungsebene der response-ability zur Verhandlung gebracht wird? Wo liegt also – durchaus im Sinne der Medienkompetenzdiskussion – die Verbindung von einer oftmals reagierenden Handlung oder Entscheidung (response) und der Fähigkeit (ability) überhaupt reagieren, entscheiden und umfassend Verantwortung übernehmen zu können?

  • Wie kann eine Aufwertung der Ethik gerade aus medienpädagogischer Sicht historische Entwicklungen für aktuelle Debatten und verantwortungsvolles Handeln fruchtbar machen? Wie kann die Ausgestaltung innovativer Wissensformate zukunftsgerichtet und medienethisch reflektiert und vorangebracht werden? Und unter welchen medialen und materiellen Produktionsbedingungen ist medienpädagogisches als demokratisches und d. i. medienethisches Handeln überhaupt möglich?

  • Welche medienpädagogischen und medienethischen Modelle sind angesichts der Inklusionsfrage in der Lage, Heterogenität und Homogenität sowie Vielfalt und Einheitlichkeit zu verbinden? Und wie lässt sich im Rahmen der Medienpädagogik angesichts von Neuem Realismus und Neuem Materialismus eine aufgeklärte und d. i. rationale Perspektive vermitteln?

  • Wie lassen sich die umfassenden Möglichkeiten des Digitalen mit dem Bereich der Nachhaltigkeit zusammendenken, das neben ökologischen Aspekten auch ökonomische und soziale Dimensionen stärker berücksichtigt? Welche Ökonomie benötigt mithin die Gesellschaft der Medienpädagogik?

  • Wie kann eine ernsthaft an Kunst und Kultur interessierte Medienpädagogik neue Praxen und Prinzipien des Entwerfens, Vermittelns und Innovierens unter Berücksichtigung der materiellen Bedingungen der Kommunikation mitgestalten? Wie können angesichts der gegenwärtigen materiellen Bedingungen zeitgemäße und nachhaltige Strategien des Vernetzens und Kooperierens neue Formen des kommunitären Miteinanders schaffen (z. B. Wikipedia, Creative Commons oder Common Wealth)?

  • Welche Rolle spielen die aktuellen Diskussionen zum Neuen Realismus und Neuen Materialismus in Hinblick auf die notwendige normative Setzung einer Medienethik? Welchen medienpädagogischen Begriff der „Materie“ benötigen wir, um jedem Determinismus eine Ethik der Verantwortung, der Freiheit und der Gleichheit entgegenhalten zu können?

Die Herausgeber/innen dieser Schwerpunktausgabe sind

Alessandro Barberi
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg / Universität Wien
alessandro.barberi@medienimpulse.at
alessandro.barberi@ovgu.de
alessandro.barberi@univie.ac.at

Thomas Ballhausen
Pädagogische Hochschule Wien
thomas.ballhausen@medienimpulse.at
t.ballhausen@gmail.com

Florian Danhel
Pädagogische Hochschule Wien
florian.danhel@medienimpulse.at
florian.danhel@phwien.ac.at

Klaus Himpsl-Gutermann
Pädagogische Hochschule Wien
klaus.himpsl-gutermann@medienimpulse.at
klaus.himpsl-gutermann@phwien.ac.at

Literatur

Bennett, Jane (2020): Lebendige Materie. Eine politische Ökologie der Dinge, Berlin: Matthes & Seitz.

Crawford, Kate (2021): Atlas of AI: Power, politics, and the planetary costs of artificial intelligence. Yale University Press.

Gabriel, Markus (2016): Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Berlin: Suhrkamp.

Goll, Tobias/Keil, Daniel/Telios, Thomas (2014): Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster: edition assemblage (kritik_praxis).

Gumbrecht, Hans-Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.) (1995): Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hoppe, Katharina/Lemke, Thomas (2023): Neue Materialismen zur Einführung, Hamburg: Junius.

Initiative Bildung und Digitaler Kapitalismus (2021): Positionspapier, online unter: https://bildung-und-digitaler-kapitalismus.de/positionspapier/ (letzter Zugriff: 01.10.2024).

Morton, Timothy (2019): Ökologisch sein, Berlin: Matthes & Seitz.

Niesyto, Horst (2017): Medienpädagogik und digitaler Kapitalismus. Für die Stärkung einer gesellschafts- und medienkritischen Perspektive, in: MedienPädagogik 27/2017, 1–29, online unter: https://www.medienpaed.com/article/view/435 (letzter Zugriff: 01.10.2024).

Shotwell, Alexis (2016): Against Purity. Living Ethically in Compromised Times, Minneapolis: University of Minnesota Press.

Staab, Philipp (2019): Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin: Suhrkamp.

Wright, Erik Olin (2017): Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp.

Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus.

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  • Redaktionsschluss: 15. Februar 2025
  • Erscheinungsdatum: 21. März 2025