Wie großstadtzentriert ist der Blick der OeZG?

2021-04-20

Ulrich Schwarz-Gräber

In seinem Editorial zum Heft "Fakten Daten Diskurse" (2/2004) spielt Reinhard Sieder mit der Metapher vom „Haus der Geschichte“. Mit der Absicht, dieses heterogen bestückte Heft zu rahmen – mehr noch jedoch mit Blick auf den Zustand der Geschichtswissenschaften –, sucht er nach einem angemesseneren Bild der Behausung. Die Geschichtswissenschaft, schreibt er, sei weder ein Mietshaus noch ein Einfamilienhaus, „sondern ein belebtes Stadtviertel mit älterem, jüngerem und jüngstem Baubestand“. Bezeichnenderweise verwendet Sieder hier das Bild des Stadtviertels und nicht das eines Dorfes oder des verstreuten suburbanen Siedlungsteppichs. Die Geschichtswissenschaft bleibt innerhalb der Stadt. Die entferntere Nachbarschaft vom Land mischt sich nur ab und zu ins städtische Treiben. Etwa dann, wenn es um "Agrarfragen" (1/2002) geht.

Die Intention dieses Blogbeitrags ist es keineswegs, sich nicht realisierte ländliche Doppelgänger zu großstadtzentrierten Heftkonzepten in der OeZG vorzustellen. Obwohl die Idee eines Ergänzungsheftes zu "gross stadt verkehr" (2/2000) – etwa zu "klein stadt verkehr" oder gar "flach land verkehr" – durchaus reizvoll erscheint. Vielmehr will ich hier einen Gedanken aufgreifen, den Ingrid Bauer in einem kritischen Beitrag zum Österreichischen Historikertag 1992 entwickelt hat. Darin fragt sie nach den Zentren und Peripherien der Geschichtswissenschaft und verknüpft elegant die Marginalisierung von Arbeiter*innenkultur und Frauen mit dem Stellenwert der Provinz. Indem sie die Differenzkategorien Geschlecht, Klasse und gesellschaftliches Raumverhältnis verschränkt, eröffnet sie einen analytischen Raum, in dem Machtverhältnisse erkennbar werden, die die Geschichtswissenschaft (in Österreich) stabilisieren: "die Metropole, die bürgerliche Kultur, der Mann" als (zumeist stillschweigend anerkannte) Norm, bilden die tragenden Säulen der "allgemeinen" Geschichte.

In jüngst erschienenen Heften der OeZG rücken globalhistorische Ansätze Schauplätze abseits der Metropolen ins Blickfeld der Analysen: "Globale Waren" (3/2019) eröffnen den Blick auf die global countryside, und auch das Interesse an "Inneren Peripherien" (2/2020) wird durch die regionalhistorische Anwendung globalhistorischer Konzepte geweckt. Der Schwerpunkt liegt hier allerdings mehr auf empirisch beobachtbaren (Wirtschafts-)Zusammenhängen und weniger auf der Kritik historiografischer Machtverhältnisse, die die OeZG (auch) auszeichnet.

Eine raumsensible Kritik des Ortes, von dem aus die OeZG gedacht und gemacht wird, könnte vielleicht auch dazu führen, an aktuelle subnationale Bruchlinien, wie sie nicht zuletzt in rezenten Wahlergebnissen sichtbar wurden, die historische Elle anzulegen: zwischen großstädtischen Räumen einerseits und dem (in Österreich die Mehrheit darstellenden) Rest andererseits. Gleichzeitig wäre diese Elle, der eigene räumliche Maßstab, zu hinterfragen; auch dahingehend, welchen Anteil der vorherrschende Geschichtsdiskurs an diesen Bruchlinien hat. Gerade weil räumliche Ungleichheit zwischen Stadt und Land so häufig als Ungleichzeitigkeit artikuliert wird.