Räumlichkeit von Geschichte in der OeZG – jenseits von Strukturgeschichte und Konstruktivismus?
by Claudia Kraft
Man kann die ersten 30 Jahrgänge der OeZG auch als eine Verständigung oder eine fortwährende Debatte darüber lesen, was erkenntnistheoretische Prämissen einer modernen Geschichtswissenschaft sein könnten bzw. sollten. Besondere Relevanz hatte hier der linguistic turn oder allgemeiner gesprochen kulturgeschichtliche Ansätze, die die Rolle von Sprache und Narration in das Zentrum geschichtstheoretischer Überlegungen rückten. Verglichen damit wurde dem „Raum“ als einer für die Geschichtsschreibung ebenfalls zentralen Kategorie erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl in den letzten Jahrzehnten andernorts nicht zuletzt in raumbezogenen Debatten das Spannungsfeld von eher strukturgeschichtlich-positivistischen und wahrnehmungsbasiert-konstruktivistischen Zugängen ausgelotet wurde.
Elemente des erwähnten Spannungsfeldes tauchen auch in der OeZG auf, werden aber kaum systematisch miteinander in Kommunikation gebracht. Eine frühe raumbezogene Reflexion liefert Erich Landsteiner im ersten Text des Heftes „Revisionen“ (1/1993), das sich mit „Konstitutionsbedingungen von Geschichtswissenschaft(en)“ (Editorial, S. 5) beschäftigt, indem er Jenö Szücs’ Essay zu den historischen Regionen Europas bespricht und damit eine klassisch strukturgeschichtliche Perspektive, die von relativ feststehenden Geschichtsregionen ausgeht, einer Prüfung unterzieht. Das Heft „Macht-Wissen Geographie“ (3/1995) behandelt die Kategorie Raum aus einer Metaperspektive, indem nach den Wissenspraktiken der Geographie und deren Folgen für Prozesse der Dominanz und Hierarchisierung gefragt wird, ohne konkreten Raumerfahrungen und Raumpraktiken nachzuspüren. Gerade der Zusammenbruch eines politisch geteilten Europas hatte in den 1990er-Jahren Forschungen zum spatial turn inspiriert. Das Heft „Im Osten nichts Neues“ (2/1999) nimmt den Umbruch im östlichen Europa vor allem zum Anlass, die Rückkehr nationaler Paradigmen in der Geschichtsschreibung zu untersuchen, ohne jedoch den „Osten“ und Raumbezüge jenseits des Nationalen genauer zu betrachten. Allerdings widmet sich ein halbes Jahrzehnt später Peter Niedermüller (4/2004 „Europäische Ethnologie“) genauer den veränderten Raumvorstellungen, wenn er danach fragt, was das „Neue“ am „neuen Europa“ sei, und auf die „symbolische Geographie“, die den Kontinent strukturiert, verweist.
Erstmals 2006 wird ein gesamtes Heft der Kategorie Raum gewidmet (1/2006 „Die Räume der Geschichte“), jetzt mit einem starken Fokus auf Raumvorstellungen und mental maps. Eine Debatte, die diesen Fokus mit strukturgeschichtlichen Konzepten oder mit den Alltagswahrnehmungen oder gar Raumpraktiken von Akteur*innen konfrontieren würde, findet hier nicht statt. In den letzten Jahren richtete sich das Interesse der Zeitschrift dann verstärkt auf Themen, bei denen Räumlichkeit eher en passant mitverhandelt wurde, nämlich in der neuen Globalgeschichte sowie in der Betrachtung von Mobilität in der Geschichte. Auch im jüngsten Heft (2/2020 „Innere Peripherien“) wird die Debatte um Räumlichkeit eher indirekt geführt – weiterhin mit einerseits stark ausgeprägten struktur- und makrogeschichtlichen Perspektiven (anknüpfend an Wallersteins Modell des Weltsystems). Andererseits wird die mental maps-Forschung der 1990er-Jahre zugunsten einer Analyse von „Akteur*innen im Widerspiel mit Strukturen“ (wie Klemens Kaps im Editorial schreibt) ad acta gelegt. Die Frage, wie man weniger strukturgeschichtlich und dennoch nicht nur im Paradigma des mental mapping über Räume sprechen kann, bleibt weiter interessant und offen.