Der Osten der OeZG

2021-02-01

Oliver Kühschelm

Eine Vermutung: Die imaginäre Geographie der OeZG kennt nur zwei Himmelsrichtungen, Osten und Westen. Dem Norden fehlt in der symbolischen Geographie, in der die Zeitschrift ihren Platz genommen hat, das Gewicht, und auch der Süden hat wenig interessiert. Von seinen Eliten wird Österreich seit Jahrhunderten als der östliche Rand des Westens gedeutet – mit einem als Brücke oder Bollwerk anzulegenden Handlungsauftrag gegenüber einem wirklichen ‚Osten‘. Das Editorial der ersten Ausgabe (1/1990) thematisierte denn auch distanzierend diese „Mittlerrolle Österreichs zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘“.

Ein Merkmal der Gründungssituation der OeZG waren die 1989 angestoßene Neuordnung Europas und die mit ihr verknüpften Hoffnungen respektive Enttäuschungen. Dem entsprang die hehre Absicht, sich stärker für Ostmitteleuropa zu interessieren. Der Band 2/1999 – das einzige Mal, dass ein Bandtitel eine Himmelsrichtung nennt – beobachtete dann bereits das Schwinden dieses Elans: "Im Osten nichts Neues?" Davor lag aber z.B. ein Review-Essay von Erich Landsteiner (1/1993, "Revisionen"), in einer ersten Fassung „im Frühjahr 1991 noch stark unter dem Eindruck der Ereignisse der vorangegangenen Monate“ geschrieben. Er diskutiert das Buch des ungarischen Historikers Jenö Szücs Die drei historischen Regionen Europas. Eine dieser drei Regionen, und zwar die besonders interessierende, ist Ostmitteleuropa. Szücs verstarb 1988, aber ihn referierend, ergänzend und kritisierend setzt Landsteiner in seinem Essay den Umbruch von 1989 sowohl in die Perspektive einer langen Geschichte seit dem Mittelalter als auch in die eines historisch-sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsels, der Szücs mit Fernand Braudel und Immanuel Wallerstein verband. Aufschlussreich ist Landsteiners Versuch, ein "Zwischen Ost und West" agrarhistorisch dingfest zu machen. So lautete im Übrigen der Titel eines empiriegesättigten Aufsatzes von Herbert Knittler. Er untersuchte im folgenden Band (2/1993) "Niederösterreichs adelige Grundherrschaft 1550–1750" und sah sie in einen ostmitteleuropäischen Zwischenraum integriert.

Die differenzierende Betrachtung dieses Raums hat sich auch der kürzlich publizierte Beitrag von Klemens Kaps "Jenseits von Ost-West" zum Anliegen gemacht. Er steht im Rahmen des von Kaps herausgegebenen Bands "Innere Peripherien" (2/2020). Wiederum spielt die Rezeption von Wallersteins Weltsystemtheorie eine tragende Rolle. Hier schließt sich der Kreis zu den Anfang der 1990er-Jahre in der OeZG publizierten Bemühungen, den Bruch von 1989 sozial- und wirtschaftshistorisch zu verstehen – als eine Verwerfung im Gang des globalen Kapitalismus. Franz Delapina, Hannes Hofbauer, Andrea Komlosy, Gerhard Melinz und Susan Zimmermann skizzierten unter dem Titel "Ungarn: Die Reform frißt ihre Kinder" (1/1991) ein gemeinsames Buchprojekt. Der Vor- und Nachteil historisch-soziologischer Großdeutungen, von Marx bis Wallerstein, ist freilich, dass man immer alles schon gewusst haben wird. Der sich erkennbar als Kind der Reform verstehende ungarische Historiker András Vári replizierte ziemlich giftig: "Ist das alles wirklich so herrlich einfach?" (3/1991)