Motions of Knowledge – Knowledge in Motion. Bewegungen des Wissens – Wissen in Bewegung

2024-06-06

Wie wird Wissen produziert? Wie wird es verbreitet? Und wer bestimmt, was als Wissen gilt? Diese Fragen beschäftigen das breite Feld der Wissenschafts- und Wissensgeschichte. Der Blick in frühere Ausgaben der OeZG bildet einige der Entwicklungen ab, die das Feld der Wissensgeschichte durchlaufen hat. Er zeigt auch, dass Historiker:innen sich schon lange mit Aspekten und Themen beschäftigen, die heute explizite Kernfragen der wissensgeschichtlichen Forschung darstellen.

Bereits 1995 erschien in der OeZG ein Band mit dem Titel „Macht-Wissen Geographie“, der auf die zentrale Bedeutung von Wissen in der Herstellung von Machtverhältnissen verweist. Im Editorial des Bandes „Wissenschaftsforschung Wissenschaftsgeschichte“ (1/1996) beklagte Albert Müller die defizitäre sozial- und kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit „Wissenschaft“. Als Herausforderungen der Wissenschaftsgeschichte benannte er ihren (damaligen) Methodenkonservatismus, der sie für Sozial- und Kulturhistoriker:innen unattraktiv machte; ihr Potenzial, die Wissenschaft durch Kritik und Hinterfragung in Bedrängnis zu bringen, und das Faktum, dass ihre Erforschung nur von Systemangehörigen möglich sei. Heute ist die Wissenschaftsgeschichte ein gut etabliertes Feld, die Erforschung der Wissenschaft, ihrer Einrichtungen und Akteur:innen ist kaum noch kontrovers. Die Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes der Wissenschaftsgeschichte hin zur Wissensgeschichte hat hingegen über Jahrzehnte hinweg das Aufkommen neuer Forschungsinteressen und neuen Diskussionsbedarf angefeuert. Spezifische Wissensformen oder Wissensfelder wurden erforscht, wie etwa der Band „Psychoanalytisches Wissen“ (2/2003) veranschaulicht.

Auch den am Selbstverständnis des Feldes rüttelnden Fragen danach, was denn Wissen eigentlich sei, wer es habe und wer es (re)produziere, wurde eingehend nachgegangen – zum Beispiel im Band „Geschlecht – Wissen – Geschichte” (1/2010). In diesem fragten Gabriella Hauch und Christina Altenstraßer danach, wie Geschlechter- und Wissensordnungen miteinander interagieren. Einige Fragen, die auch die Autor:innen unseres Bandes noch beschäftigen – die nach den Akteur:innen der Wissensproduktion, nach Wissensträger:innen, nach Hierarchien und Macht –, waren bereits in den Beiträgen dieser früheren Bände präsent. Die Bewegung des Wissens lag bislang allerdings außerhalb des Betrachtungshorizontes. Mit unserem Band rücken wir diese nun in den Vordergrund und zeigen, wie der Fokus auf die Bewegung von Wissen aufgrund des prozesshaften Charakters der Wissensproduktion den Blick für Beteiligung, Handlungsmöglichkeiten und Machtverhältnisse schärft.

Die Autor:innen unseres Bandes „Motions of Knowledge – Knowledge in Motion. Bewegungen des Wissens – Wissen in Bewegung” (3/2023) nehmen „Wissenszirkulation“ zum Ausgangspunkt ihrer Analysen. Die Wissensgeschichte entwickelte sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einer äußerst fruchtbaren Disziplin, und insbesondere die „Wissenszirkulation“ etablierte sich dabei als viel diskutiertes, mitunter kritisch rezipiertes Schlüsselkonzept. Der Band beleuchtet dabei dessen Anwendung, viel diskutierte Konzeptionalisierungen und Begriffsdefinitionen und fragt zudem nach den Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts für die Geschichtswissenschaften. Die Wissensgeschichte versteht „Wissenszirkulation“ als einen mehrdimensionalen Prozess, in dem Wissen zirkulär produziert, mobilisiert und transformiert wird. Wissen wird somit nicht unverändert oder linear von A nach B verbreitet. Wird Wissen als ein derartiges Produkt eines Zirkulationsprozesses verstanden, so kann der analytische Fokus auf den Prozess der Wissensproduktion selbst gerichtet werden. Dieser Ansatz ermöglicht es, vielfältige Akteur:innen, Arenen, Mittel und Techniken sichtbar zu machen, die den Prozess der Wissensproduktion bestimmen und mitgestalten. Werden die Bedingun­gen, Funktionen und Hindernisse von Wissen in Bewegung untersucht, so lassen sich umkämpfte Handlungsräume und asymmetrische Macht­verhältnisse erkennen.

Der Band versteht „Wissenszirkulation“ somit als analytisches Instrument. Die neun Autor:innen konzentrieren sich in ihren Beiträgen auf unterschiedliche räumliche und zeitliche Kontexte, die über Europa hinaus auch Asien, Afrika und Amerika behandeln und vom 17. bis zum 20. Jahrhundert reichen. Sie befassen sich daher mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Wissen bedeutete oder was in den jeweiligen historischen Kontexten als solches anerkannt wurde. Drei konzeptionelle Leitthemen gliedern den Band: von (1) Praktiken der Repräsentation über (2) Funktionsweisen, Strategien und Effekte von (Ko-)Produktionsprozessen bis hin zu (3) der (Nicht-)Zirkulation von umstrittenem, unbeabsichtigtem oder zurückgehaltenem Wissen. Entsprechend unterschiedliche Definitionen, Konzepte und vielfältige methodische Ansätze zur historischen Untersuchung der „Wissenszirkulation“ können, wie wir hoffen, weitere Diskussion über das Potenzial und die Grenzen des Konzepts anregen.